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Deutscher Nationalrayon Friedrich Engels (in den Jahren 1924-26 und 1931-39 deutscher Nationalrayon Selz), territoriale Verwaltungseinheit in der Ukrainischen SSR

Rubrik: Geschichte und Geographie der Ansiedlung der Deutschen im Russischen Reich, in der UdSSR und GUS / Geschichte der Ansiedlung
Карта-схема Фридрих-Энгельсовского немецкого национального района

Deutscher Nationalrayon Friedrich Engels (in den Jahren 1924-26 und 1931-39 deutscher Nationalrayon Selz), territoriale Verwaltungseinheit in der Ukrainischen SSR. Gehörte 1925-30 zum Bezirk Odessa und 1932-39 zum Gebiet Odessa. 1930-32 war der Rayon unmittelbar den zentralen Behörden der Ukrainischen SSR unterstellt.

Am 4. Oktober 1924 wurde der Plan zur Gründung des Rayons vom Allukrainischen Zentralexekutivkomitee und dem Rat der Volkskommissare der Ukrainischen SSR bestätigt. Die offzielle Gründung fand am 1. Februar 1925 statt. Verwaltungszentrum war das Dorf Selz. Ursprünglich bestand der Rayon aus zwölf Dorfsowjets: den deutschen Dorfsowjets Baden, Selz, Kandel, Manheim, Straßburg und Elsass, den gemischten Dorfsowjets  Vygodna, Sekretarovka und Oktjabrskoe sowie den ukrainischen Dorfsowjets Otradovka, Uvarovo und Eksarevo. Ende 1925 gab es im Rayon 61 Ortschaften, von denen 20 deutsch waren. 1928 wurden im Zuge der Umsiedlung landloser und landarmer Bauern weitere fünf Ortschaften gegründet. In der zweiten Hälfte der 1920er Jahre hatte der Rayon eine Fläche von 570 km2 und 21.797 Einwohner (Stand 1926), davon 15.111 Deutsche (69,32%), 5.275 Ukrainer (24,2%), 568 Juden (2,6%), 489 Russen (2,25%), 290 Moldawier (1,33%) und 64 Angehörige anderer Nationalitäten (0,3%). Nachdem 1929 ein Großteil der ukrainischen Dörfer aus dem Rayon herausgelöst und den Nachbarrayons angeschlossen worden war, verblieben die deutschen Dorfsowjets Baden, Selz, Kandel, Sekretarovka sowie ein ukrainischer Dorfsowjet. Die Einwohnerzahl sank auf 16.247, von denen 84% Deutsche waren.

Grundlage der Wirtschaft war vor allem die Landwirtschaft. 1925/26 betrug die Saatfläche 13.456,5 Hektar, 1928/29 22.479 Hektar. Die Zahl der Traktoren stieg von vier in den Jahren 1925/26 auf zehn im Jahr 1927. Neben dem Anbau von Winter- und Sommerweizen sowie Mais hatte vor allem der Ausbau des Weinbaus, des Obst- und Gemüseanbaus und der Erzeugung von Milchprodukten vorrangige Bedeutung. Auch die Tierzucht entwickelte sich: 1925 gab es 3.698, 1927 5.263 und 1929 3.118 Pferde, die Zahl der Ochsen stieg von 22 im Jahr 1925 auf  90 im Jahr 1927, der Rinderbestand lag 1925 bei 4.305, 1927 bei 5.833 und 1929 bei 4.570 Tieren. Große Entwicklung erfuhr auch das Handwerk: 1926 waren 78 Personen mit der gewerblichen Herstellung von Forken und Harken und 59 mit der Herstellung von Pferdefuhrwerken beschäftigt. Es gab 83 Schmiede und 40 weitere handwerkliche Produzenten. 673 Wirtschaften stellten neben der Landwirtschaft auch verschiedene handwerkliche Güter her.

In der zweiten Hälfte der 1920er Jahre nahm auch die Kooperativbewegung eine schwunghafte Entwicklung. Im März 1928 gab es im Rayon ein landwirtschaftliches Artel-Kollektiv („Zelenyj Jar“ - „Grüner Eifer“), dem sieben ukrainische Familien angehörten, sowie neun „Genossenschaften für die gemeinsame Landbestellung“, von denen fünf deutsche Gründungen waren. In den deutschen „Genossenschaften für gemeinsame Landbestellung“ hatten sich 42 bäuerliche Einzelwirtschaften zusammengeschlossen, die insgesamt 19 Pferde, 17 Kühe, sieben Pflüge, vier Eggen, zwei Sämaschinen und drei Mähmaschinen besaßen und über eine Anbaufläche von 520,5 Hektar verfügten. Die vier von Ukrainern gegründeten „Genossenschaften für gemeinschaftliche Landbestellung“ besaßen insgesamt 28 Pferde, 21 Kühe, 18 Pflüge, 21 Eggen, drei Sämaschinen, sechs  Kornschwingen, zwei Mähmaschinen und 623,5 Hektar Land. Zudem gab es im Rayon zwei landwirtschaftliche Genossenschaften: eine zu jeweils 50% aus Deutschen und Ukrainern bestehende gemischte in Vasilevka und eine deutsche in Selz, deren Mitglieder 910 physische und neun juristische Personen waren. Sie kümmerten sich um Erfassung und Absatz von Getreide, Wein und Obst, stellten ihren Mitgliedern landwirtschaftliche Maschinen zur Verfügung, verliehen Darlehen für den Ankauf von  Pferden u.a. 1926 verkaufte die Selzer Genossenschaft 1.225 Wedro Wein (1 Wedro = ugf. 12,7 Liter). Ende 1926 lag der Umsatz der landwirtschaftlichen Genossenschaften des Rayons bei 78.997 Rubeln. In den vier Weinbau-Genossenschaften Baden, Kandel, Manheim uns Straßburg hatten sich 442 Einzelwirtschaften zum Absatz der Weinproduktion zusammengeschlossen. Ferner gab es eine Schafzucht-Genossenschaft in Elizavetovka, die Imker-Genossenschaft „Bienenzüchter“ in Selz und die Selzer Genossenschaft „Rhode Island“ für Gefügel- und Kleinviehzucht.

Es gab fünf Maschinen-Traktoren-Genossenschaften, in denen sich 73 bäuerliche Einzelwirtschaften zusammengeschlossen hatten. In der zweiten Hälfte der 1920er Jahre gab es neun Mühlen mit einer durchschnittlichen Leistung von 20 bis 37 Pud  Mehl pro Stunde (1 Pud = 16,36 kg), fünf Buttereien und ein Sägewerk. 1928 bestanden zehn Kreditgenossenschaften, davon acht deutsche mit insgesamt 2.193 Mitgliedern und zwei ukrainische mit insgesamt 216 Mitgliedern. Weitere genossenschaftliche Zusammenschlüsse waren das Artel „Eksport“, das Fährdienste über den Kutschurgan-See anbot, das Fischerei-Artel „Zarja Moldavii“ („Morgenröte Moldawiens“), das Mühlen-Artel „Sel'skij mlynar“ („Landmüller“) sowie die Steinbruch-Artels „Spil'na pracja“ („Zusammenarbeit“) und „Karlovo“. Ein Teil der Handwerker hatte sich in der Genossenschaft „Promkredit“ zusammengeschlossen, die Hersteller von Strumpfhosen und Strickwaren in der Selzer bzw. Kandeler Genossenschaft und Schuhmacher in den Artels „imeni RKKA“ („Rote Armee“) und „Sapožnyj trud“ („Schusterarbeit“).

Das Volksbildungssystem des Rayons umfasste im Schuljahr 1925/26 22 Schulen mit insgesamt 1.901 Schülern (14 deutsche, sieben ukrainische, eine jüdische). Im Schuljahr 1926/27 gab es 21 Schulen mit insgesamt 1.852 Schülern (13 deutsche, sieben ukrainische und eine jüdische). Sechs Schulen hatten zwei Klassen, acht Schulen drei Klassen, sechs Schulen vier Klassen und eine Schule fünf Klassen. Zu diesem Zeitpunkt gab es im Rayon 44 Lehrer (35 Deutsche und neun Ukrainer), von denen einer einen Hochschulabschluss, 25 einen mittleren und drei einen niederen Schulabschluss sowie neun den Rang eines Volksschullehrers hatten. Hinzu kamen zwei Hauslehrer und vier Absolventen eines Lehrerseminars. Im Schuljahr 1927/28 sank die Zahl der Schulen auf 20 (13 deutsche, sechs ukrainische und eine jüdische Schule, insgesamt 1.973 Schüler). 1927 wurde in Selz eine deutsche Siebenklassenschule eröffnet. Im Schuljahr 1928/29 gab es 23 Schulen (14 deutsche, acht ukrainische und eine jüdische, insgesamt 2.261 Schüler). 1928 wurde eine zweite Siebenklassenschule eröffnet.

Ende der 1920er Jahre gab es im Rayon vier Dorfklubs (einen Rayonsklub, zwei deutsche und einen ukrainischen) und vier Lesehütten (je zwei deutsche und ukrainische). Der Anteil deutschsprachiger Literatur am Buchbestand der Lesehütten lag bei 22%. Unter dem Dach der Klubs gab es u.a. Sport-, Schützen-, Theater- und Musikzirkel. 1928 gab es im Rayon ferner drei Kino- und zwei Rundfunkanlagen. In den Jahren 1930-39 erschien 15 Mal monatlich die Rayonszeitung „Kollektivwirtschaft“.

Für die medizinische Versorgung der Bevölkerung gab es Krankenhäuser in Selz und in dem ukrainischen Dorf Uvarovo sowie eine Ambulanz in Manheim (insgesamt drei Ärzte, drei Sanitätsgehilfen und neun Personen Hilfspersonal). Im Durchschnitt kamen auf ein Bett in den medizinischen Einrichtungen des Rayons 650-700 Personen, während der entsprechende Vergleichswert im gesamten Bezirk Odessa bei 1.400 Personen pro Krankenhausbett lag. Für das Essen waren pro Tag und Patient 16 Kopeken vorgesehen.

Hinsichtlich ihrer Religionszugehörigkeit teilte sich die deutsche Bevölkerung des Rayons in römisch-katholische und evangelisch-lutherische Christen. 1926 waren im Rayon drei katholische und eine lutherische Gemeinde registriert. Den Gottesdienst leiteten in den Kirchen dieser Konfessionen ein Bischof, acht Küster und einige Pfarrer.

Im Spätherbst 1929 begann im Rayon die durchgehende Kollektivierung. Zum 20. Februar 1930 waren 90% der Bauernwirtschaften zwangsvergemeinschaftet. Parallel zur Kollektivierung führten die Behörden Getreidebeschaffungskampagnen durch. Infolge von Repressionsmaßnahmen wurden die entsprechenden Pläne bei Nahrungsmittelkulturen zu 109% und bei Tierfutter zu 130% erfüllt. Allein im Zuge der Entkulakisierung der wohlhabenden Bauern wurden 147.740 Pud Getreide (1 Pud = 16,36 kg) beschlagnahmt. Das rigide Vorgehen der Behörden im Zuge der Kollektivierung und der Getreidebeschaffungskampagnen provozierte den Widerstand eines Teils der Bevölkerung des Rayons. Anfang März 1930 holten die Einwohner des Dorfes Kandel (vor allem Frauen) das Arbeitsvieh aus der Kolchose, um es den Entkulakisierten zurückzugeben, und zerstörten im örtlichen Dorfsowjet Porträts kommunistischer Politiker und Transparente. Zu ähnlichen Aktionen kam es auch in den Dörfern Selz und Elsass. Nach der Veröffentlichung des Beschlusses des ZK der VKP(b) über die zeitweise Aussetzung der Kollektivierung vom 14. März verließen die Bauern massenhaft die Kolchosen. Im Oktober waren nur noch 44,4% der Wirtschaften in den Kolchosen verblieben. Im Winter 1931 begann die neue Etappe der Massenkollektivierung. Am 1. April waren bereits 90,7 der bäuerlichen Einzelwirtschaften in den Kolchosen zusammengeschlossen. Zum 1. Oktober 1931 waren 92,5% der bäuerlichen Bevölkerung in insgesamt 20 Kolchosen organisiert.

Ab Mitte der 1930er Jahre fielen zahlreiche Deutsche den politischen Massenrepressionen zum Opfer. In der zweiten Jahreshälfte 1934 wurde der Redakteur der örtlichen Rayonszeitung Duneitz wegen angeblicher Verbindungen zu „Faschisten“ verhaftet und verurteilt. 1935 wurden die Geistlichen repressiert: Am 20. Mai wurden der Generalvikar der römisch-katholischen Kirche in der Ukraine J. Krušinskij und der Pfarrer der Selzer Kirche R. Loran sowie die Geistlichen I. Tauberger und A. Hofman verhaftet und zu zehn Jahren Lagerhaft verurteilt (wegen seines fortgeschrittenen Alters wurde die Strafe im Fall Lorans in Verbannung nach Kasachstan umgewandelt). Aufgrund der Beschuldigung, antisowjetische Tätigkeit und Spionage betrieben zu heben, wurden Dutzende Einwohner des Rayons verhaftet und verurteilt (allein 1937 wurden im Rayon innerhalb von drei Monaten 100 Kolchosbauern repressiert). Verhaftet und erschossen wurden der Sekretär des Selzer Rayonsparteikomitees I.F. Gaftel, der Leiter der Abteilung für Volksbildung und Politemigrant Gauger u.a.

Am 7. April 1939 wurde der Rayon auf Beschluss des ZK der KP(b)U aufgelöst. Die Dorfsowjets Baden, Selz, Kandel, Straßburg und Elsass wurden dem Rayon Razdel'naja, die Dorfsowjets Manheim und Sekretarovka dem Rayon Beljaevka (Gebiet Odessa) angeschlossen. 

INHALT

Центральный государственный архив высших органов власти и управления Украины. Ф. 413. Оп. 130. Д. 130. Лл. 10–11, 118, 176–177; Д. 194. Лл. 7, 8, 12, 15–19, 24, 27–28; Д. 253. Л. 3; Д. 298. Лл. 3, 6, 8, 13, 20; Д. 387. Лл. 112–113; Д. 451. Лл. 10, 48; Д. 472. Лл. 2–3; Д. 552. Лл. 18, 22–23; Д. 1133. Л. 64.

Literatur

Німці в Україні. 20 – 30-тi рр. ХХ ст. Збірник документів державних архівів України. Київ, 1994; Лиценбергер О. А. Евангелическо-лютеранская церковь и советское государство (1917–1938). М., 1999; Она же. Римско-католическая Церковь в России: история и правовое положение. Саратов, 2001; Ченцов В. В. Трагические судьбы. Политические репрессии против немецкого населения Украины в 1920-е – 1930-е годы. М., 1998.

Autoren: Smirnowa T.B.

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