VERFASSUNG DER ASSR DER WOLGADEUTSCHEN VON 1937, verabschiedet am 29. April auf dem X. Sowjetkongress der ASSR der Wolgadeutschen. Die Verabschiedung der Verfassung ging mit einer Mitte der 1930er Jahre vom Stalinschen Regime betriebenen Propagandakampagne einher, die die sogenannte „sozialistische Gesetzlichkeit“ stärken sollte.
Nach der Verkündung des Sieges des Sozialismus sollte dieser durch die neue, am 5. Dezember vom VIII. Sowjetkongress der UdSSR verabschiedete Verfasssung bekräftigt werden. Die Annahme einer neuen Verfassung der UdSSR machte auch in den Unions- und Autonomen Republiken die Ausarbeitung und Inkraftsetzung neuer Verfassungen erforderlich. Am 5. September 1936 fasste das Büro des Gebietsparteikomitees der WKP(b) der ASSR der Wolgadeutschen auf Grundlage einer Direktive des ZK der WKP(b) den Beschluss, eine neue Verfassung der ASSR der Wolgadeutschen auszuarbeiten. Zur Ausarbeitung des Verfassungsentwurfs wurde eine Kommission eingerichtet, der A.. Welsch, G. Luft, K. Schulmeister, N. Anisimow, F. Merz und weitere führende Politiker der Wolgarepublik angehörten.
Am 27. Oktober wurde der Verfassungsentwurf auf einer Sitzung des Büros des Gebietsparteikomitees der WKP(b) geprüft und gebilligt und zur weiteren Prüfung an das Saratower Regionsparteikomitee der WKP(b) weitergeleitet. Die erste Variante fand keine Billigung, die Arbeit an einem zweiten Entwurf zog sich bis März 1937 hin. Erst nach der Bestätigung des Entwurfs der Verfassung der ASSR der Wolgadeutschen durch das ZK der WKP(b) (17. März 1937) wurde dieser in den Zeitungen „Nachrichten“ und „Bolschewik“ dem Volk zur „allgemeinen Erörterung“ vorgestellt.
Ursprünglich sollte die Verfassung am 1. April 1937 auf dem eigens einberufenen X. Sowjetkongress der ASSR der Wolgadeutschen verabschiedet werden, der allerdings im Zusammenhang mit „Schwierigkeiten der Saatkampagne“ auf den 27.-29 April verschoben wurde. Einladungen zur Teilnahme an dem Kongress wurden an J. Stalin, W. Molotow, M. Kalinin und andere hohe Repräsentanten der Staatsführung sowie an die Führung der Komintern verschickt. Alle Sitzungen des Kongresses hatten einen ausgeprägt festlichen Charakter. Anlässlich der am 29. April erfolgten Annahme der Verfassung der ASSR der Wolgadeutschen fanden vom 30. April – 2. Mai in der ganzen Republik Massenfeierlichkeiten statt.
Die neue Verfassung der ASSR der Wolgadeutschen kopierte in weiten Zügen die neuen Verfassungen der UdSSR und der RSFSR. Die Verfassung enthielt elf Kapitel und 113 Artikel, die mehrheitlich einen ausgeprägt deklarativen Charakter aufwiesen.
In Kapitel 1 („Gesellschaftsaufbau“) wurden die grundlegenden „Errungenschaften des Sozialismus“ dargelegt: Sowjetmacht, sozialistisches Wirtschaftssystem, Planwirtschaft usw.
Kapitel 2 (Staatsaufbau) legte fest, dass die ASSR der Wolgadeutschen mit den Rechten einer Autonomen Republik der RSFSR angehörte (Artikel 13). Es wurde darauf verwiesen, dass das Territorium der Deutschen Republik nicht ohne deren Zustimmung verändert werden könne (Art. 15). Es folgt eine Auflistung der Fragen, die in die Zuständigkeit der höchsten Macht- und Führungsorgane der ASSR der Wolgadeutschen fielen (Art. 18).
In den Kapiteln 3–5 wurden die Befugnisse der Republiks- und örtlichen Organe der Staatsgewalt und -verwaltung festgelegt. Der aus einer Kammer bestehende Oberste Sowjet der ASSR der Wolgadeutschen wurde als ausschließliches gesetzgebendes Organ nach der Norm ein Deputierter auf 4.000 Einwohner gewählt (Art. 21, 22). Der Oberste Sowjet wählte das aus einem Vorsitzenden, zwei Stellvertretern, einem Sekretär und acht Mitgliedern bestehende Präsidium. Das Präsidium des Obersten Sowjets der ASSR der Wolgadeutschen übte seine Tätigkeit in der Zeit zwischen den Tagungen des Obersten Sowjets aus, die zweimal im Jahr stattfinden sollten. (Art. 27, 28). Das oberste vollziehende und verfügende Organ der Staatsgewalt der ASSR der Wolgadeutschen war Rat der Volkskommissare (Art. 38), der vom Obersten Sowjet der Republik gebildet wurde und aus einem Vorsitzenden, zwei Stellvertretern und 17 Volkskommissaren und Ressortleitern bestand (Art. 44).
In den Kantonen, Städten, Siedlungen und Dörfern sollte die Staatsgewalt von den entsprechenden Sowjets sowohl unmittelbar als auch über seine Exekutivkomitees ausgeübt werden. (Kap. 5, Art. 49–68).
Die Verfassung legte ferner die Ordnung der Aufstellung und Bestätigung des Republiks- und der lokalen Haushalte (Kap. 6, Art. 69–71) sowie Fragen des Tätigkeit der Gerichtsorgane und der Staatsanwaltschaft fest (Kap. 7, Art. 72–83).
Kapitel 8 der Verfassung verkündete die Grundrechte und Grundpflichten der Bürger. Nach dem Vorbild der Verfassung der UdSSR garantierte die Verfassung der Republik den Bürgern der ASSR der Wolgadeutschen das Recht auf Arbeit, Erholung und Bildung, Meinungs-, Presse-, Versammlungsfreiheit, die Unverletzlichkeit der Person, der Wohnung usw.
In Kapitel 9 (Wahlsystem) wurde statt des bis dahin geltenden eingeschränkten und indirekten Wahlrechts das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht in geheimer Abstimmung verkündet. Einschränkungen und Ungleichheiten bei den Wahlrechten wurden abgeschafft (Art. 101, 102).
Kapitel 10 („Wappen, Flagge, Hauptstadt) erklärte Staatswappen und Staatsflagge RSFSR, ergänzt um die in kleinerer Schrift in deutscher und russischer Sprache unter die Aufschrift „RSFSR“ gesetzte Aufschrift „ASSR der Wolgadeutschen“ zu Staatswappen und Staatsflagge der ASSR der Wolgadeutschen (Art. 110, 111). Zur Hauptstadt der ASSR der Wolgadeutschen wurde die Stadt Engels erklärt.
Das aus einem einzigen Artikel (Art. 113) bestehende Kapitel 11 bestimmte, dass Änderungen der Verfassung der ASSR der Wolgadeutschen nur aufgrund eines mit Zweidrittelmehrheit gefassten Beschlusses des Obersten Sowjets der ASSR der Wolgadeutschen erfolgen konnten und der Bestätigung durch den Obersten Sowjet der RSFSR bedurften.
Unter den Bedingungen des Stalinschen totalitären Regimes konnte die Verfassung der ASSR der Wolgadeutschen wie auch die Verfassungen der RSFSR und der UdSSR keine irgendwie gearteten demokratischen Veränderungen des politischen Lebens der Sowjetgesellschaft bewirken. Der von der bolschewistischen Staatsmacht gegen das eigene Volk entfachte grausame Terror ging in noch größerem Ausmaß weiter. Der rein formale Charakter der Verfassung lässt sich an der 1937 in der Deutschen Republik entstandenen Lage ablesen. Gemäß den Verfassungen der UdSSR, der RSFSR und der ASSR der Wolgadeutschen sollte die Deutsche Republik, die seit der im Jahr 1934 erfolgten Teilung der Region Untere Wolga der Region Saratow unterstellt war, unter die unmittelbare Verwaltung der Zentralorgane der RSFSR gestellt werden. Nichtsdestotrotz blieb aber die Parteiorganisation der Republik der Wolgadeutschen auf Beschluss des ZK der WKP(b) weiterhin dem Saratower Gebietsparteikomitee der WKP(b) unterstellt. Da die reale Macht im Land bei den Parteiorganen konzentriert war, wurden die wichtigsten die ASSR der Wolgadeutschen betreffenden Fragen also auch weiterhin von der Parteiführung des Nachbargebiets entschieden. Konkret bestätigte das Saratower Gebietsparteikomitee der WKP(b) die Kandidaturen für die Posten der Volkskomissare der ASSR der Wolgadeutschen und der Vorsitzenden der Exekutivkomitees der Kantonssowjets, stellte den Haushalt der Republik auf usw. Erst nachdem die Parteiführer des Gebiets Saratow und der Republik der Wolgadeutschen A. Krinizkij und E. Frescher zu „Volksfeinden“ erklärt und repressiert worden waren, wurde die neue Parteiführung der Deutschen Republik mit Ja. Popok an der Spitze unmittelbar dem ZK der WKP(b) unterstellt. Aber auch danach waren eine Reihe großer Industrieunternehmen der ASSR der Wolgadeutschen sowie deren Fernmeldewesen, Handel, Versorgung und Transportwesen bis Ende 1937 und in einigen Fällen auch noch darüber hinaus nicht den Volkskommissariaten der Republik, sondern den Saratower Gebietseninrichtungen unterstellt, was die Entwicklung der Deutschen Republik erheblich bremste.
Герман A.A., Немецкая автономия на Волге. 1918–41. Ч. 2. Автономная республика. 1924–1941, Саратов, 1994.
Конституция (Основной Закон) Автономной Советской Социалистической Республики Немцев Поволжья, Энгельс, 1937; История российских немцев в документах, М., 1993.