ALLTAGSKULTUR, Gesamtheit aller identitätsstiftenden Formen der materiellen und immateriellen Kultur, die das Alltagsleben einer Gruppe prägen. Die Alltagskultur bezieht sich auf die Bereiche Familie, Gesellschaft, Arbeit und Freizeit. Die Hauptunterscheidungsmerkmale der Russlanddeutschen in Abgrenzung zu anderen in Russland ansässigen ethnischen Gruppen fanden vor allem in der Alltagskultur Ausdruck.
Der agrarische Charakter ihrer Gemeinschaft, der dörfliche Charakter der Siedlungen, die Bewahrung traditioneller Wirtschaftstätigkeiten sowie das Leben in einem national und konfessionell fremden Umfeld trugen maßgeblich dazu bei, dass die Russlanddeutschen zahlreiche Elemente ihrer Alltagskultur bis in die 1940er Jahre hinein bewahrten. Die größten Veränderungen vollzogen sich mit Blick auf Kleidung und Gebrauchsgegenstände, während sich die traditionellen Essgewohnheiten in weit geringerem Maße veränderten. Vergleichsweise stabile Elemente der russlanddeutschen Alltagskultur stellten die Häuser (siehe: Bauernhof), die Sitten und Gebräuche sowie die konfessionelle Zugehörigkeit und die aus dieser resultierende Praxis (siehe: Konfession) dar. Innerhalb der Gruppe der Russlanddeutschen bestanden erhebliche Unterschiede zwischen städtischer und der dörflicher Kultur.
Ein Grund für die zum Teil erheblichen Unterschiede innerhalb der von einzelnen Gruppen der Russlanddeutschen praktizierten Alltagskultur waren lokale Prägungen, die sich bereits vor der Übersiedlung nach Russland in den unterschiedlichen deutschen Herkunftsregionen der Übersiedler herausgebildet hatten. So wurde die Alltagskultur der Russlanddeutschen vor allem durch Traditionen geprägt, deren Ursprünge in Nord-, Süd- und Südwestdeutschland lagen. In der traditionellen Alltagskultur der Russlanddeutschen haben sich zahlreiche Züge erhalten, die für die in Deutschland lebenden Deutschen im 18. und 19. Jahrhundert typisch waren, heute aber fast vollständig verschwunden sind. Andererseits bedingte die Übersiedlung in ein Land, in dem gänzlich andere natürliche und geographische Gegebenheiten herrschten als im Herkunftsland, ebenso wie die spätere Migration innerhalb Russlands (aus dem europäischen Landesteil nach Sibirien und Mittelasien) auch weitgehende Veränderungen der traditionellen Alltagskultur. Bei der Anpassung an die in ihrer neuen Heimat herrschenden Bedingungen stützten sich die deutschen Kolonisten auch in erheblichem Maße auf die Erfahrungen der in ihrer unmittelbaren Umgebung lebenden Völker und übernahmen von diesen viele Elemente der Alltagskultur (Arbeitsweisen, Arbeitswerkzeuge, Hausbau usw.). So bezogen sich die Unterschiede zwischen deutschen und anderen Wohnhäusern größtenteils auf die Inneneinrichtung, deren Besonderheiten in vielerlei Hinsicht durch die konfessionelle Zugehörigkeit der Besitzer bedingt war.
Der gewaltige Einfluss der traditionellen Konfessionen prägte vor allem in den ländlichen Regionen die Alltagskultur der Russlanddeutschen. Bei den Mennoniten und Herrnhutern wurden praktisch alle Bereiche des Zusammenlebens durch religiöse Normen bestimmt und waren in äußerstem Maße reglementiert. Die traditionellen volkstümlichen Gebräuche wurden nahezu vollständig durch religiöse Rituale verdrängt. In den Familien der Lutheraner und Katholiken spielten religiöse Motive ebenfalls eine große Rolle (Taufe, Konfirmation, auf den Beerdigungen gesungene religiöse Lieder, Belehrung Neuvermählter durch die Eltern), aber es blieben auch einzelne Praktiken erhalten, die sich auf mittelalterliche oder heidnische Bräuche zurückführen lassen („Totenhochzeit“, kollektive Wöchnerinnenspeisung, Tanz der Braut mit männlichen Hochzeitsgästen). Am stärksten blieben heidnische Bräuche im Kalender der deutschen Katholiken erhalten (fastnächtlicher Mummenschanz, Rauhnacht-Rituale, Osterfeuer usw.).
Die traditionellen Trachten der Russlanddeutschen blieben bis Ende des 19. Jahrhunderts erhalten. Übernahmen von anderen ethnischen Gruppen betrafen vor allem Teile der Oberbekleidung. Erhalten blieben die konfessionell bedingten Unterschiede innerhalb der Gruppe der Russlanddeutschen wie etwa die klassische Kombination von Weiß und Blau der Lutheraner oder der extrem asketische Kleidungsstil der Mennoniten. Seit dem späten 19. Jahrhundert ließ sich ein starker Einfluss der städtischen kleinbürgerlichen Mode verzeichnen.
Seit dem frühen 20. Jahrhundert wurden die traditionellen Sitten und Gebräuche zunehmend zurückgedrängt oder lebten nur in stark vereinfachter Form fort. Im Zuge der allgemeinen Modernisierungs-, Urbanisierungs- und Vereinheitlichungsprozesse öffneten sich auch die traditionell abgeschotteten deutschen Dörfer zunehmend für die Außenwelt. Die Oktoberrevolution von 1917 und die aus dieser resultierenden Zwangsmaßnahmen (Kollektivierung, Deportation) setzten der natürlichen ethnokulturellen Entwicklung der Russlanddeutschen endgültig ein Ende.
Auch wenn die deutschen Häuser und Wohnungen angesichts der allgemeinen Standardisierung der Lebensstile keine besonderen Merkmale mehr aufwiesen, bestanden hinsichtlich des äußeren Erscheinungsbildes, der Innenrichtung sowie der Gestaltung des Hofes durchaus Besonderheiten, die diese von ihrer andersnationalen Umgebung abhoben. Bewahrt hat sich die traditionelle Einstellung, im Haus nicht allein eine Behausung, sondern einen selbständigen kulturellen und geistigen Wert sowie ein Statussymbol zu sehen. Die Häuser in den ländlichen Gegenden werden genormt gebaut, Möbel, Elektrogeräte, Fernseher, Radiogeräte, Geschirr und Besteck sind ebenso wie die städtische Kleidung genormte Massenware. Nationale Eigenheiten haben sich lediglich in Teilen des Interieurs erhalten: die Wände werden mit auf weißem Stoff gestickten Erbauungssprüchen geschmückt, die Betten werden nicht mit einfachen Decken, sondern mit Federdecken gedeckt. Die traditionelle Küche besteht weiter fort, auch wenn im Alltag auch Gerichte anderer Nationen Einzug erhalten haben. So werden z.B. im Altai Sauerampfersuppe, Rassolnik (säuerliche Fisch- oder Fleischsuppe), russische Kohlsuppe, Pilzsuppe, Plow, Manty und Pelmeny gekocht. In Kasachstan Beschbarmak, Dunganische Nudeln, Plow, Manty, Galuschki, Wareniki, und Pelmeny und in Transkarpatien Golubzy und Paprikás. Die eigene deutsche Küche wird mit den folgenden Gerichten assoziiert: Nudeln, Nudelsuppe, Kartoffeltaschen, Kartoffeln mit Schmorbraten und Kohl, Kräppel (Siedegebäck), Strudel mit und ohne Füllung, Stampfkartoffeln, Kuchen, Klöße, heißer Kompott mit saurer Sahne und Salate. An Feiertagen oder zu besonderen Anlässen (Beerdigungen, Hochzeiten) werden auf jeden Fall nationale Gerichte zubereitet. Die Küche hat auch einige Besonderheiten bewahrt, die sich auf die unterschiedliche Herkunft der einzelnen Gruppen innerhalb Russlands bzw. der Sowjetunion zurückführen lassen. So werden die gleichen Gerichte nach unterschiedlichen Rezepten zubereitet, je nach dem ob die Familie ursprünglich in der Ukraine oder im Kaukasus angesiedelt war.
Die Politik der Trennung von Kirche und Staat sowie die antireligiösen Kampagnen und Verfolgungen von Geistlichen und Gläubigen haben zu einer Verkümmerung des gesamten konfessionellen Bereichs geführt. Ungeachtet des Ende der 1980er Jahre zu verzeichnenden Wiederauflebens der religiösen Gemeinschaften sind auch viele gläubige Deutsche nicht mehr eindeutig auf eine Konfession festgelegt und begehen alle zusammen Weihnachten und Ostern. Die volkstümlichen Traditionen sind nur bei den Hochzeitsritualen erhalten: festlicher Zug durch das Dorf, ritualisierte Vorbereitung der Braut, Hochzeitslieder und Geleitworte sowie diverse Spaßrituale („Freikauf“ eines Platzes für den Bräutigam, Entwendung der Brautschuhe, “Hühnerhochzeit” am zweiten Tag der Feier usw.)
Für die heutige russlanddeutsche Alltagskultur ist ein zunehmender Einfluss sowohl der russischen als auch der modernen bundesdeutschen Alltagskultur charakteristisch (z.B. im Bereich von Gebräuchen). Dabei kann man allerdings nicht von einer Verdrängung der einen Kultur durch die andere, sondern eher von einer Verschmelzung sprechen, die sich vor dem Hintergrund des Versuchs vollzieht, die Kultur und Sprache der Russlanddeutschen wiederzubeleben.