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Kindererziehung

Rubrik: Ethnographie
Kindergarten. Dorf Mühlberg, ASSR der Wolgadeutschen, 1930.
Kopfbekleidung eines Mädchens und eines Jungen. Ende des 19. Jh., Dorf Schilling, Ujesd Kamyschinskij, Gouvernement Saratow.
Puppe „Pob“. Anfang 20 Jh.
Spielzeug in Form eines Dreschsteins „Ausreitstau“. Anfang 20 Jh. Dorf Blumenfeld, Ujesd Nowousenskij, Gouvernement Samara. Gehörte zu M. Schneider.
Spielzeugpferd „Gaul“, „Kail“. Anfang 20 Jh. Dorf Blumenfeld, Ujesd Nowousenskij, Gouvernement Samara.
Handtasche für ein Taschentuch („Handtasch“). Anfang 20 Jh.
Kinder. Autonomes Gebiet der Wolgadeutschen. 1920-er Jahre.
Die Deutsche auf Feldarbeiten. Jahr 1880. Foto von P.P. Pjatnizkij.
Ruten in einer alten deutschen Schule. Archiv der Wolgadeutschen. Fotofonds.

ERZIEHUNG - Prozess der Belehrung, Behütung und Betreuung von Kindern, dessen Ziel darin besteht, diese auf das Erwachsenenleben vorzubereiten.

Ungeachtet aller innerhalb ihrer Volksgruppe bestehenden sozio-ökonomischen, geographischen und konfessionellen Unterschiede hielten die Russlanddeutschen bei der Erziehung ihrer Kinder weitgehend an ihren aus Europa mitgebrachten Vorstellungen fest, die vor allem durch traditionelle Familienwerte, nationale Traditionen, die deutsche Sprache und Kultur sowie ein religiöses Weltbild geprägt waren. Hinzu kamen einige neue Aspekte der Lebensführung, die sich bereits in Russland herausgebildet hatten.

Infolge der hohen Geburtenraten lebten in Russland Ende des 19. Jahrhunderts bereits 1.790.489 Deutsche in über 2.000 deutschen Siedlungen. Im ländlichen Raum und insbesondere im Wolgagebiet, wo die Deutschen weitgehend abgeschottet von ihrer Umwelt lebten, bildete sich ein ebenso eigenständiges wie interessantes Erziehungssystem heraus. Die Familien hatten durchschnittlich 5-6 Kinder, auf die sich alle Hoffnungen für die Zukunft in der neuen Heimat konzentrierten.

Der Erziehungsprozess begann bereits unmittelbar nach der Geburt, wenn das Kind in der Muttersprache gesungene Wiegenlieder hörte und allmählich an bestimmte Essgewohnheiten, Hygienenormen und Tagesabläufe herangeführt wurde. „Die Deutschen frühstücken um 5:00-6:00 Uhr morgens, essen um 11:30-12:00 Uhr zu Mittag und um 19.00-20.00 Uhr zu Abend“, schrieb A. Lonsinger.

In den ersten 2-3 Lebensjahren wurden keine Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen gemacht. Weder im Alltag noch bei der Taufe gab es geschlechtsspezifische Säuglingskleidung (alle trugen Hemd und Haube). Erst ab dem dritten oder vierten Lebensjahr trugen die Mädchen Jäckchen, Röcke und Kleider, während die Jungen in Hemd und (Träger-)Hosen gekleidet waren. Mädchen trugen Hauben oder Schuten, Jungen Kappen, die sich an hessischen und bayerischen Vorbildern orientierten und aus dem gleichen Stoff genäht wurden. Es gab keine spezifische Kinderkleidung. Die Kinder waren wie kleine Erwachsene gekleidet, als wolle man so den Prozess des Heranwachsens beschleunigen und sie auf das spätere Leben vorbereiten.

Die Kleidung war funktional und sollte auch der Reinlichkeit dienen: der Hosenanzug der Jungen hatte unten einen Schlitz, auch wenn die Kinder schon ab einem Alter von zwei Monaten an den Topf gewöhnt wurden, indem man sie sofort nach dem Füttern über einen Eimer oder im Hof mit ausgestreckten Armen über die Erde hielt. Bei den in Moskau, Petersburg oder anderen großen Städten lebenden Deutschen wurden die Kinder ab einem Alter von 5-6 Monaten auf einen speziellen Kinderstuhl gesetzt. Eine zweite hygienische Verhaltensweise wurde den Kindern beim Füttern anerzogen, indem man ihnen ein Lätzchen (Brustlappen) umband. Später brachte man den Kindern bei, ein Taschentuch zu benutzen und dieses  immer mit sich zu führen. Sich in den Ärmel oder auf den Boden zu schnäuzen, wurde ebenso missbilligt wie der Verzehr von Sonnenblumenkernen auf offener Straße.

Mithilfe einfacher, aber sehr melodischer Lieder sollten die Kinder nicht nur in den Schlaf gesungen, sondern auch vor Unheil bewahrt werden:

 

Schlouf, mein Kindje schlouf.

Dein Paba hütt die Schouf,

Die Mame hüt`t die Lämmerjer

Und bringt `ä Schürz voll Blumerjer.

Die roude macht mein Kindje marode,

Die gehle will mein Kindje stehle,

Die bloue will mein Kindje bedrohe,

Die schwarze will mein Kindje kratze.

 

Schlaf, mein Kind, schlaf.

Dein Vater hütet die Schaf,

Die Mama hütet die Lämmerlein

Und bringt eine Schürze voll Blumen herein.

Die Rote macht mein Kind müde,

Die Gelbe will mein Kind stehlen,

Die Blaue will mein Kind bedrohen,

Die Schwarze will mein Kind kratzen.

(Die Mutter oder das Kindermädchen kratzt sanft den Bauch oder die Hand des Kindes).

 

(Schlaflied aus der Kindheit von A. Minor, das ursprünglich aus der Heimat seiner Vorfahren stammte und an dieser Stelle im Dialekt der im Gouvernement Samara gelegenen Kolonie Preuss wiedergegeben ist)

 

Unter den Petersburger Deutschen war das 1879 von Heinrich Pfeil verfasste Wiegenlied „Still ruht der See“ weit verbreitet:

 

Still ruht der See, durch das Gezweige

Der heilige Odem Gottes weht

Die Blümen am Segestade

Sie flüstern leis ihr Nachtgebet

 

(die vorliegende Variante dieses Liedes wurde 1927 von Wiktor Schirmunski in dem im Gebiet Leningrad gelegenen Dorf Nowo-Saratowka aufgezeichnet).

 

In den Schlaf geschaukelt wurden die Säuglinge in Stand- oder Hängewiegen, wobei letztere infolge der beengten Wohnverhältnisse vor allem im Wolgagebiet und in der Ukraine weit verbreitet waren.

Durch die Lieder wurden die Kinder sehr früh an die Musik herangeführt, die unter den Russlanddeutschen immer einen sehr hohen Stellenwert hatte. In jeder Familie gab es ein oder mehrere Instrumente: Ziehharmonika, Flöte, Geige und das für die Deutschen typische Hackbrett. Häufig musizierte und sang die ganze Familie gemeinsam.

 

Die Erziehung zur Arbeit spielte eine herausragende Rolle und begann schon bei den Spielzeugen. Die Puppen sahen aus wie erwachsene Menschen und hatten ein Gesicht, eine Frisur sowie Hände, Finger und Füße, was sie deutlich von russischen Puppen unterschied. Die Puppenkleidung wurde ebenso wie die Bettwäsche der Puppenbetten aus Stoffresten genäht. So lernten die Kinder schon früh, dass nichts wegkommen durfte, und wurden zu Sorgfalt und Sparsamkeit erzogen. Die Puppen wurden „gefüttert“ und angezogen, die Mädchen strickten ihnen kleine Strümpfe, legten sie schlafen und sangen ihnen Wiegenlieder, wodurch sie schon früh an ihre künftigen familiären Pflichten herangeführt wurden. In schwierigen Zeiten diente zuweilen auch der Hausrat als Spielzeug. So spielte T. Frickel (Leonhardt) in den Jahren der Sondersiedlung z.B. mit einem Nudeltrockner, der „ihre Kuh“ war.

Mädchen trugen schon im Alter von fünf bis sechs Jahren eine Häkelnadel und Faden mit sich und häkelten oder strickten in jeder freien Minute. Untätigkeit oder Faulheit wurden selbst bei Bagatellen missbilligt.

 

„Langes Faedje, faules Maedje” („Langes Fädchen, faules Mädchen“) oder „Morje, morje, no net heit - saa ale vaule ljait” (“Morgen, Morgen nur nicht heute - sagen alle faulen Leute”)

(Dialekt aus dem Dorf Kano (Bezirk Nowousensk, Gouvernement Samara). Aus der Familie von T. Graf.)

 

Das Knabenspielzeug bestand aus Schäufelchen, kleinen Forken, Hämmerchen, kleinen Dreschsteinen, Steinchen und Tierknochen. Sehr beliebt waren Spielzeugpferde, die es in vielen Varianten gab: von Steckenpferden, auf denen man wild durchs Dorf reiten konnte, bis hin zu aus Manteltuch genähten Rössern mit dekorativem Zaumzeug wie bei einem echten Tier, die man auf einem hölzernen Untersatz hinter sich her ziehen konnte. Das Pferd war nicht nur das wichtigste Tier in der bäuerlichen Wirtschaft, sondern auch ein Symbol für Fleiß und Zuverlässigkeit.

Ab einem Alter von vier Jahren halfen die Kinder der Mutter, das Haus aufzuräumen, das Geschirr abzuwaschen und auf die ganz kleinen Kinder aufzupassen. Als in der Zeit der Kollektivierung und Kolchoswirtschaft auch alle Mütter auf dem Feld arbeiten mussten, passten die größeren Kinder auf die kleineren auf. In den 1920er Jahren wurden in der ASSR der Wolgadeutschen in fast jedem Dorf Kindergärten und Krippen eingerichtet. Zur Zeit der Hungersnot von 1932-33 überlebten viele Schulkinder dank den Kindergärten den Sommer, wo sie Essen und Unterstützung bekamen.

An der unteren Wolga entstanden die ersten Kindergärten bereits Ende der 1830er Jahre in der Kolonie Sarepta in Form von Vorschulklassen, in denen die Kinder der Herrnhuter bereits im Alter von 4-6 Jahren  Lesen lernten, Religionsunterricht hatten und erste Kenntnisse über ihre Umwelt erhielten. Mit der Auflösung der Sareptaer Brüdergemeinde wurden im Jahr 1892 auch die gemeinschaftlichen Kindergärten aufgelöst.

Die älteren Mädchen fegten jeden Freitag den Hof und die zum Haus gehörige Hälfte der Straße. Die Jungen streuten Sand auf die Straße. Im Amtsbezirk Nikolajewsk, aus dem später der Kanton Marxstadt (ASSR der Wolgadeutschen) hervorging, machten die Mädchen Strohgeflechte. An den Abenden mussten die Mädchen und jungen Frauen spinnen, weben und Garn aufrollen. Der Handarbeitsunterricht und insbesondere das Spinnen diente nicht nur der Erziehung, sondern hatte auch einen tieferen symbolischen Sinn, der noch aus dem Mittelalter stammte. Das Spinnen versinnbildlichte das Leben des Mädchens in allen Erscheinungsformen von der eigenen Geburt über die Geburt der Kinder bis zum Tod. Verschiedene Handarbeitstechniken waren auch Teil des Schulprogramms, was in besonderem Maße für Sarepta galt.

Ab einem Alter von 8-10 Jahren halfen die Kinder bei der Feldarbeit, sammelten Ungeziefer, jäteten Unkraut und halfen bei der Gemüseernte und beim Tabakanbau.

 

Geschenke spielten in der Erziehung der Kinder eine wichtige Rolle. Sie animierten zu Fleiß, Gehorsam und Sorgfalt. Wer in der Schule gut lernte, wurde belohnt, Faulenzer und Strolche bekamen keine Geschenke. Oft bekamen die Kinder Süßigkeiten als Belohnung für Wohlverhalten - Gebäck und Konfekt oder zu Ostern Eier. Zur Bestrafung der ungezogenen Kinder kam zu Weihnachten der Pelznickel, der die Kinder schon durch sein Äußeres erschreckte: Er trug einen auf links gewendeten Pelz und hatte klirrende Ketten sowie eine Rute in der Hand. Nach dem Auftritt dieser zotteligen Schreckgestalt kam dann das Christkind, um sich die Reuebekundungen der kleinen Missetäter anzuhören.

 

Christkinche “Knoche”,

Bet ich alle Woche,

Bet ich alle verzenTag

Dass es net meh

Komme mag.

 

Christkind “Knoche”,

Ich bete die ganze Woche,

Ich bete vierzehn Tag

Auf dass es nicht mehr

Kommen mag.

 

Erziehung und Bildung waren aufs Engste miteinander verbunden. Unter den Deutschen waren Erwachsene wie Kinder sowohl vor als auch nach der Revolution von 1917 in hohem Maße alphabetisiert. Bildung hatte einen sehr hohen Stellenwert, wobei das Hauptziel darin bestand, die Kinder auf die Konfirmation und den Erwerb eines Berufs vorzubereiten. Die Religion spielte in der Erziehung eine zentrale Rolle. Es war üblich, in der Familie gemeinsam das Evangelium zu lesen, Psalmen und religiöse Verse auswendig zu lernen und den Kindern klar zu sagen, was erlaubt war und wofür man von Gott bestraft wurde.

Die Eltern achteten streng darauf, dass die Kinder gewissenhaft lernten. Mit Ausnahme von Sarepta, wo körperliche Strafen schon immer verboten waren, wurden die Kinder noch bis zur Oktoberrevolution in den Schulen gezüchtigt.

Das Erwachsenwerden war stark durch religiöse Normen geprägt. Bei den Lutheranern markierte die Konfirmation den Übergang ins Erwachsenenleben. Die 14-15-jährigen jungen Leute mussten ihre Kenntnis der Gesetze Gottes in einer Prüfung belegen, nahmen erstmals am Abendmahl teil und übernahmen vor Gott die Verantwortung für ihre Taten. Bei den Katholiken fand die Kommunion bereits im Alter von 9-12 Jahren statt.

Aber auch nach der Konfirmation trugen die Eltern noch die Verantwortung für ihre Kinder, was insbesondere für die Töchter galt, die schon bald unberührt an eine andere Familie übergeben werden mussten.

Traditionelle Werte wie Gesetzestreue oder Respekt vor dem Alter erzog die ältere Generation den Jüngeren auch durch vorbildliches Verhalten an. Von Alters her war es üblich, Ältere und Eltern zu siezen. Den Anweisungen der Erwachsenen hatte man unwidersprochen Folge zu leisten.

Auch nach ihrer im Jahr 1941 erfolgten Deportation in die östlichen Landesteile und der damit verbundenen Auflösung der nationalen Bindungen hielten die Deutschen an ihren traditionellen Vorstellungen von Erziehung und familiären Werten fest, die sich zum Teil bis heute erhalten haben: Erziehung zu Fleiß und Ordnungsliebe, Liebe zu Musik und Gesang, Respekt vor dem Alter und Patriotismus.

Abkürzungsliste

ГИАНП – Государственный исторический архив немцев Поволжья.   

НА СОМК – Научный архив Саратовского областного музея краеведения       

НВФ – научно вспомогательный фонд   

РН – российские немцы   

СМК – аббревиатура экспонатов основного фонда Саратовского областного музея краеведения   

ЭКМ – аббревиатура экспонатов основного фонда Энгельсского краеведческого музея   

ММК – аббревиатура экспонатов основного фонда Марксовского музея краеведения   

Literatur

1.Арндт Е.А. Хозяйство и быт немцев Поволжья. Каталог. М., 2021г. 

2.Арндт Е.А. От Рождения до конфирмации. Особенности воспитание детей у 

немцев Поволжья в к.XIX– нач. XX вв. // Сибирь гуманитарная. 2023. №4. 

3. Воспоминания П.К. Галлера (быт немцев-колонистов в 60-х гг. XIX в.). Саратов., 1927. 61 с.  

4. ГАСО. Ф.180 Оп. 7 Д. 83 Л. 6. 

5. Глич А. История братской общины Сарепта в Восточной России в течение её столетнего существования. Сарепта, 1865. 

6. Дитц Я.Е. История поволжских немцев-колонистов. М.,1998. 496 С. 

7. Лонзингер А.Ф. Материальная этнография немцев Поволжья. Саратов. 2022. 256 с. 

6. Минор А.Я. Этнолингвистические исследования А.А. Дульзона. Саратов. 2011. 204 с.  

8. Meyer E.H. Deutsche Volkskunde. Strassburg, 1898. S.152 

9.Научный отчет об экспедиции в Ровенский р-н Саратовской обл. 1992 г. // НА СОМК. Оп.1. Ф.1219. 

10. Научный отчет об экспедиции в Красноармейский район Саратовской области.1995 // На СОМК.Оп.1 Ф.1332. 

11. Научный отчет об экспедиции в Жирновский район Волгоградской области. 1997 // НА СОМК.Оп.1. Ф.1417 

12.Смирнова Т.Б. Этнография российских немцев. М., 2012. 316 с. 

13. Пузейкина Л.Н. Песни немецких колонистов Петербургской и других губерний России. Москва, Санкт-Петербург. 2015. 192 с. 

14. ЦГАСО. Ф.558. Оп.2. Д.302. Л.8 

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