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Die Schwarzmeerdeutschen . (bis 1917)

Rubrik: Geschichte und Geographie der Ansiedlung der Deutschen im Russischen Reich, in der UdSSR und GUS / Geschichte der Ansiedlung

Die Schwarzmeerdeutschen

 

Infolge der beiden erfolgreichen Türkenkriege Katharinas (1768-1774 und 1787-1792) und der Annexion des Krim-Chanats (1783) dehnte sich Russland in breiter Front, zwischen dem dem Dnestr und dem Kuban, bis zum Schwarzen Meer aus. Die neu erworbenen Gebiete „Neurusslands“ wurden in der Anfangsphase in unterschiedliche Verwaltungseinheiten, im Jahre 1802 aber dauerhaft in die Gouvernements Cherson, Taurien und Ekaterinoslav gegliedert. In Neurussland ließen sich Umsiedler aus dem Innern Russlands nieder; dort wurden aber auch russische Rückwanderer aus der Polnischen Republik, Rumänen, Bulgaren und Griechen von der Balkanhalbinsel sowie Kolonisten und aus West- und Mitteleuropa, vor allem Deutsche angesiedelt. Sie werden als Schwarzmeerdeutsche im engeren Sinn bezeichnet; zu den S. im weiteren Sinn zählt man auch die Deutschen Bessarabiens und des Dongebiets (Bessarabiendeutsche, Deutsche im Dongebiet)

 

a. Einwanderung und Gründung von Kolonien

 

Als erste Lutheraner ließ sich 1782 eine Gruppe von knapp tausend Schweden von der Insel Dagö am Unterlauf des Dnepr in einer später Alt-Schwedendorf genannten Siedlung nieder. Die Regierung Katharinas II. nützte die schwierige wirtschaftliche Situation, in die Danzig nach der Annexion des polnischen Hinterlandes durch Preußen im Jahre 1772 geraten war. In den Jahren 1786 und 1789 folgten rund 1.400 lutherische Einwanderer aus Danzig und Umgebung der Einladung der Zarin, sich in Neurussland anzusiedeln­. Einige ließen sich in Städten Neurusslands, andere in der in der Nähe der Städte Elisavetgrad und Ekaterinoslav nieder, wo sie das sog. „deutsche Dorf“ (später in Alt-Danzig umbenannt) bzw. die Kolonie Josefstal und den Weiler Fischerdorf  anlegten. Südlich von Ekaterinoslav gründeten knapp 300 deutsche katholische Umsiedler aus der Stadt Jamburg  (Gouvernement St. Petersburg) im Jahre 1793 ein Dorf gleichen Namens. Aus Danzig und Westpreussen wanderten in den Jahren 1788-1796 knapp 2.000 Mennoniten nach Neurussland, wo sie sich in zehn Kolonien niederließen. Sieben Dörfer lagen westlich des Dnepr gegenüber der Stadt Aleksandrovsk und je eine am gegenüberliegenden Ufer (Schönwiese, auf der Dnepr-Insel Chortica und nördlich von Ekaterinoslav (Kronsgarten).

 

In der Regierungszeit Alexanders I. strömten große Gruppen von Bulgaren, Gagauzen und Deutschen nach Neurussland und Bessarabien. Unter diesen waren etwa 1.600 Mennoniten, die besonders in den Jahren 1803-1806 einwanderten, aber 1808, 1813, 1819 und 1820 größere und in den übrigen Jahren bis 1836 kleinere Partien mit etwa 3.500 Personen nachzogen. Die meisten Mennoniten wur­den nach Taurien geleitet, wo sie östlich des Flusses Molotschna, die in Nord-Süd-Richtung zum Azovschen Meer fließt, den Molotschnaer Mennonitengebiet  mit bis 1811 19 und bis 1826 39 Kolonien gründeten. Andere Mennoniten liessen sich im  Chorticaer Mennonitengebiet  nieder, der bis 1826 auf 17 Kolonien wuchs. Auf dem Land des Molotschnaer Mennonitengebiet (Zentrum Halbstadt) siedelte auch ein Teil der  Hutterschen Brüder aus Radičev  über, wo sie 1842 bzw. 1857 die Kolonien Huttertal und Johannesruh gründeten.

 

1803/04 lösten Werber  der russischen Regierung eine Einwanderungswel­le aus dem Südwesten und Westen Deutschlands aus. Allein in den Jahren 1803/04 trafen etwa 6.800 dieser sog. „rheinischen“ Kolonisten, meist aus Württemberg, Baden und dem Elsass, sowie rund 250 Deutsch-Schweizer in Neurussland ein. Die meisten von ihnen ­schifften sich in Ulm ein, fuhren die Donau hinun­ter bis in die Donau-Fürstentümer oder verliessen die Schif­fe bei Budapest und nahmen den Landweg über Galizien. Auf dem Wege schlossen sich ihnen Deutsche an, die seit wenigen Jahrzehnten in Ungarn gelebt hatten. Die Schweizer zogen auf die Krim, wo sie ihr Dorf Zürichtal  nannten. Lutheraner und Katholiken grün­deten Kolonien im Hinterland von Odessa, in der Nähe der schwedischen Kolonie, am West­ufer der Molotschna und auf der Krim. So entstanden neue Kolonistengebiete, nämlich das Liebentaler Gebiet (Zentrum Grossliebental), das „schwedische Gebiet“ (Zentrum Alt-Schwedendorf ) und das  Molotschnaer Kolonistengebiet (Zentrum Prischib), und wenige Kolonien auf der Krim (besonders Neusatz) (Krimer Kolonien). Auch in den nächsten Jahren riss der Strom der Zuwanderer nicht ab. Allein der russische Generalkonsul in Frankfurt stellte 1808/09 Pässe für etwa 11.000 sog. „fränkische“ Kolonisten aus, die auf dem Landweg über Polen einreisten. Mit ihnen wurden sowohl vorhandene Kolonistengebiete erweitert, aber auch neue Gebiete, so das  Beresaner (Zentrum Landau),  Kutschurganer (Zentrum Selz) und Glückstaler (Zentrum Glückstal), sowie einige Einzelkolonien auf der Krim geschaffen. Mit mehr als 90 Familien, die Alexander I. 1813 im Herzogtum Warschau angetroffen hatte, wurden einige Kolonien der Gebiete Liebental, Glückstal und Beresan aufgefüllt, die Mehrheit der „Warschauer“ Kolonisten jedoch nach Bessarabien (Bessarabiendeutsche) geschickt.

 

Um die Wende zum 19. Jahrhundert hatten sich im pietistischen Milieu Württembergs chi­liastische Gruppen entwickelt und von der lutherischen Kirche getrennt. Unter dem Einfluss der Baronin von Krüdener, die in Napoleon den Antichrist und in dem frommen Alexander den Retter sah, der die Gläubigen an einen Bergungsort im Osten führen werde, machte sich ein Teil der  Separatisten bin den Jahren 1816-1819 auf den Weg zum Berg Ararat in Transkaukasien, wo sie sechs Kolonien in der Umgebung von Tiflis und zwei in der Nähe von Elisavetpol´ anlegten (Transkaukasiendeutsche). Ein Teil der unter der Führung der Chiliasten ausgezogenen Württemberger ging auf das Angebot der Regierung ein, sich in Bessarabien und in Neurussland niederzu­las­sen, wo sie die Einzelkolonie Hoffnungstal (Kreis Tiraspol´) sowie vier Kolonien des  „Berdjansker Schwabengebiets“ nördlich von Berdjansk gründeten. Obwohl die Regierung im April 1819 beschlossen hatte, keine ausländischen Kolonisten mehr aufzunehmen, besiedelte sie in den Jahren 1823-1842 ein ursprünglich den Krim-Griechen zugewiesenes Areal nördlich von Mariupol´ mit deutschen Kolonisten. Dort legten 1823/24 etwa 500 Familien aus Westpreussen 17 Kolonien an. Auf diesem „Preußenplan“ durften sich 1825-1842 auch 100 Familien aus Baden und Rheinhessen niederlassen. Dorthin wurde auch der Bevölkerungsüberschuss aus Jamburg (Gouv. St. Petersburg), aus den Altkolonien bei Belovež  (Gouv. Černigov) und aus dem Chorticaer Mennonitengebiet gelenkt und im Mariupoler Kolonistengebiet (Zentrum Grunau)  bzw.  Mariupoler Mennonitengebiet (Zentrum Bergtal) vereinigt.

 

Den Kolonisten im nördlichen Schwarzmeergebiet wurden einerseits die Privilegien eingeräumt, die Katharina II. in ihrem Manifest von 1763 verkündet hatte, also besonders das Religionsfreiheit und die Befreiung von der Rekrutenpflicht. Andererseits konnten sich die einzelnen Gruppen unterschiedliche Rechte und Hilfen sichern. Den mennonitischen Kolonien wurde so viel Land zugeteilt, dass auf eine Familie 65 Desjatinen entfielen. Die Schweden sowie lutherischen und katholischen Einwanderer der Regierungszeit Alexanders I. bekamen 60 D., die Danziger Lutheraner jedoch nur 32,5 D. und die Jamburger 30 D. Im Gegensatz zu den Deutschen an der Wolga wurde den Deutschen Neurusslands nur eine zehnjährige Steuer- und Abgabenfreiheit eingeräumt, allerdings für einige Gruppen um weitere fünf bzw. zehn Jahre verlängert. Nach Ablauf der Freijahre sollten die Mennoniten „für immer“ nur 15 Kopeken pro Desjatine zahlen, während die Steuerlast der übrigen Kolonisten jener der Staatsbauern angeglichen wurde. Unterschiedlich waren auch die finanziellen Hilfen bemessen: Zwar waren die Verpflegungsgelder auf der Reise und bis zur ersten Ernte etwa gleich hoch, doch erhielten die Mennoniten einen Kredit von 500 R. pro Familie, während den Lutheranern Josefstals nur eine äußerst geringe Starthilfe gewährt wurde mit der Begründung, dass sie ihre Produkte im nahegelegenen Ekaterinoslav günstig absetzen könnten. Nachdem sich unter den Einwanderern des Jahres 1803 viele „viele schlechte und zum großen Teil arme Wirte“ und „überflüssige Handwerker“ befunden hatte, wurden am 20. Februar 1804 strengere Richtlinien für die Aufnahme ausländischer Kolonisten beschlossen: Pro Jahr sollten nur noch 150 „gute und wohlhabende Wirte“ mit Familie und einem Mindestbesitz von 300 Gulden ins Land gelassen werden. Diese Regeln wurden jedoch weder 1804 noch in späteren Jahren befolgt.

 

b. Verwaltung und Steuern der Kolonien

 

Im März 1797 übertrug Paul I. (1796-1801) die Betreuung der Kolonisten einer neuen Behörde, der „Expedition für Staatswirtschaft, Ausländerfürsorge und Hauswirtschaft“, die er dem Generalprokureur direkt unterstellte. Der Zar schickte den Staatsrat Samuel Contenius  auf Inspektionsreise in die Kolonien Neurusslands und übergab deren Verwaltung im April 1800 dem „Neurussischen Kontor für ausländische Ansiedler“  mit Sitz in Ekaterinoslav und stellte Kontenius als „Hauptrichter“  an die Spitze des Kontors. Als die erste große Welle deutscher Kolonisten in Odessa erwartet wurde, setzte Graf Armand Richelieu, seit 1803 Stadthauptmann von Odessa, bei Alexander I. durch, dass ihm selbst die Leitung der Ansiedlung der Kolonisten in Odessa und in der weiteren Umgebung der Stadt übertragen und zu diesem Zweck in Odessa eine „Sonderkanzlei der Odessaer Niederlassung“ errichtet wurde. Richelieu, seit März 1805 auch Chersoner Militärgouverneur, sicherte sich auch in den nächsten Jahren die Kontrolle über das Kolonisationswerk.

 

Die deutschen Kolonien wurden auf einige „Gebiete“  aufgeteilt, doch gab es auch Einzelkolonien. Alle drei Jahre wählten die „Wirtsversammlungen“ auf Dorf- und Gebietsebene einen Schulzen bzw. Bezirksschulzen und jeweils zwei Beisitzer. Die Schulzen und Beisitzer sollten dafür sorgen, dass sich „alle arbeitsfähigen Kolonisten in der Landwirtschaft üben und fleißig mit ihrer Wirtschaft beschäftigen“ und ein „nüchternes, ruhiges und arbeitsames Leben führen“. „Faule, lasterhafte und ungehorsame“ Wirte seien mit Geld- und leichten Körperstrafen zu belegen. Contenius drängte die Kolonisten ohne dauerhaften Erfolg zur Seidenzucht, mit mäßigem Erfolg zur Anlage von Obst- und Waldplantagen und Weingärten und mit großem Erfolg zur Zucht feinwolliger Schafe. Für alle diese Aufgaben wurden genaue Vorschriften erlassen. Weitere Regeln forderten die Einführung der Drei- bzw. Mehrfelderwirtschaft und die Anlage von Vorräten für den Eigenbedarf und die Saat. Die Kolonisten müssten tief genug pflügen sowie Haus, Tenne, Ställe, Zäune und landwirtschaftlichen Geräte in gutem Zustand und sauber halten. Die Einhaltung aller dieser Vorschriften wurde von staatlichen „Aufsehern“ kontrolliert, die für ein  Kolonistengebiet oder mehrere Gebiete zuständig waren.

 

Wegen der wachsenden Zahl der ausländischen Siedler, und zwar nicht nur der deutschen, sondern auch der bulgarischen, wurden die Ausländerbehörden 1818 reorganisiert. Dem Innenminister direkt unterstellt wurde ein neues „Fürsorgekomitee für die Kolonisten Südrusslands“ mit Sitz in Ekaterinoslav und unter der Leitung des Generals Ivan N. Inzov als „Hauptfürsorger“, das über je ein „Fürsorgekontor für Ausländer“ in Ekaterinoslav selbst, in Odessa und in Bessarabien verfügte. Nachdem die Regierung 1819 beschlossen hatte, keine ausländischen Kolonisten mehr aufzunehmen, und als sich die Kolonien wirtschaftlich gefestigt hatten, wurden 1833 die Kontore aufgelöst und die Kolonien direkt dem Fürsorgekomitee unterstellt, das nach Odessa verlegt wurde und zu dessen Unterhalt die Kolonisten eine Sondersteuer leisten mussten. Im Zuge der Reformen Alexanders II. wurden die Kolonisten mit Gesetz vom 4. Juni 1871 als „Siedler-Eigentümer“ der allgemeinen Verwaltung unterstellt und das Fürsorgekomitee in Odessa ebenso wie das Kontor in Saratov aufgelöst. Im Gefolge dieser Reform wurden die oft sehr großen „Gebiete“ in kleinere Amtsbezirke aufgeteilt. 

 

Nach Ablauf der steuerfreien Jahre zahlten die Mennoniten die 1787 mit Potemkin ausgehandelten 15 Kopeken Grundsteuer pro Desjatine und eine geringe Seelensteuer, während die Steuern der übrigen deutschen Kolonisten jenen der Staatsbauern angeglichen wurden. Die Kopfsteuer wurde nach der Zahl der Revisionsseelen, die Grundsteuer aus dem Landbesitz der jeweiligen Gemeinde berechnet. Im Ergebnis zahlten die Kolonisten 1812 dreimal, 1840 elfmal und 1868 fünfmal so hohe Steuern wie die Mennoniten. Deshalb konnten die Mennoniten auch die Ansiedlungskosten schneller tilgen als die Kolonisten. Die Regierung verlangte nämlich die Rückzahlung von etwa vier Fünftel der tatsächlichen Ansiedlungskosten, und zwar der Ausgaben der Staatskasse für die Verpflegung des Siedlungsortes, für den Bau der Häuser sowie die Ausstattung mit Vieh und Arbeitsgeräten und auch für die finanziellen Starthilfen.

 

c. Anlage der Dörfer und Gebäude

 

In den meisten deutschen Dörfern wurden nur 20-40 Familien angesiedelt, was lange Wege zu den Feldern ersparte. Die Häuser lagen meist an einer sehr breiten Straßen und soweit voneinander entfernt, dass Feuer nicht leicht von einem Haus zu anderen übergreifen konnten. Seit den 1840er Jahren bauten sich die Molotschnaer Mennoniten neue Häuser aus gebrannten Ziegeln. Die Aussenwände strichen sie mit ziegelfarbenem Öl an und schmückten sie wie in der Heimat mit weißen Streifen. Das Wohnhaus stand hinter einem Zaun sowie Blumen- und Gemüsegarten in der Regel in rechtem Winkel zur Dorfstraße und bestand aus einem Vorder- und Hinterhaus mit drei bis sechs Räumen. Aus dem Hinterhaus ging es in den Stall, an den sich die Scheune anschloss, entweder in geradliniger Fortsetzung des Stalles oder auch in rechtem Winkel zu diesem liegend. In der Scheune brachten die Mennoniten ihre Geräte und Wagen unter, der Dachboden diente als Getreidespeicher. Auf dem Hof befand sich meist noch ein Keller zur Aufbewahrung von Gemüse und Milch und eine Stall für die Schweine. Seit den 1860er Jahren entstanden auch in den Dörfern der überwiegend aus Südwestdeutschland stammenden Kolonisten Häuser aus gebrannten Ziegeln, doch wurden die das Wohn- und verschiedenen Wirtschaftsgebäude einzeln auf dem Hof verteilt. Die Mennoniten deckten ihre Häuser mit gebrannten Dachpfannen, die Kolonisten noch lange, diejenigen des Gouvernements Cherson noch in den 1880er Jahren mit Schilf.

 

d. Landbesitz und Tochterkolonien

 

Die Einwanderer hatten auf dem Wege nach Neurussland, in den Quarantäne-Stationen und in den ersten Jahren nach der Niederlassung infolge mangelhafter Ernährung und des Genusses schlechten Wassers grosse Verluste an Menschenleben zu beklagen, doch wurden die Verluste durch die Geburten schnell ausgeglichen. 1830 lebten 56.478 und 1844 schon 87.304, darunter 21.411 Mennoniten in Neurussland einschließlich Bessarabien, wobei auf die Bessarabiendeutschen etwa 10.000 bzw. 15.000 Personen entfielen. Bis 1890 erhöhte sich die Zahl der deutschen Kolonisten Neurusslands (ohne Bessarabien) auf 226.146 Personen. Zur Zeit der Volkszählung von 1897 lebten 298.209 Deutsche in Neurussland außerhalb der Städte.

 

Da die Kolonisten im März 1764 verpflichtet worden waren, ihren Landanteil ungeteilt an den jüngsten Sohn zu vererben, bildete sich aus den nachgeborenen Söhnen bald eine Schicht von Landlosen.1858 gab es in Neurussland 6.910 Familien mit und 3.413 Fa­milien ohne Land. Im Liebentaler Gebiet und in den Krimer Kolonien sowie bei den Chorticaer Mennoniten übertraf die Zahl der Landlosen jene der Landbesitzer, obwohl den Mennoniten des Gebiets Chortica in den 1830er Jahren nochmals Staatsland für die Ansiedlung der überschüssigen Bevölkerung zugewiesen worden war. Die Gebiete beiderseits der Molotschna hatten das Glück, dass sie bei der Ansiedlung umfangreiche Reserveländereien erhalten hatten, auf denen sie bis 1863 eine große Zahl von Tochterkolonien gründen konnten, wodurch sich die Zahl der Molotschnaer Mennonitendörfer auf 55 erhöhte. Ein Teil der Landlosen behalf sich damit, bei den glücklicheren Brüdern ein Stück Land zu pach­ten und bei der Ernte mitzuhelfen. Andere erlernten ein Handwerk und übten es entweder im Heimatdorf oder in einer der Städte Neurusslands aus, ohne auf den Kolonisten-Status zu verzichten. Eine wachsende Zahl von Kolonisten pachtete Land außerhalb ihrer Dörfer. Von den 260 Mennoniten, die sich 1852/53 aus ihren beiden Heimatgebieten entfernt hat­ten, lebten 25% als Müller und 9% als Handwerker in Städten und Dörfern der Umgebung. 3% waren als Gutsbesitzer und 44% als Pächter weiterhin in der Landwirtschaft tätig. Pachtland erhielten die Kolonisten der Festlandskreise Tau­riens von ihren islamischen Nachbarn, den Nogajern. Da die­se nach dem Krimkrieg auswanderten und durch Bulgaren und Ukrainer ersetzt wurden, versiegte diese Quelle preiswerten Pachtlan­des. Als das Gebietsamt der Molotschnaer Mennoniten die letzte freie Fläche für die Anlage weiterer Kolonien verbrauchen wollte, in denen nur ein kleiner Teil der Land­losen hätte untergebracht werden können, während die übrigen sich ihren Lebensunterhalt als Knechte verdienen sollten, protestierten die Landlosen und verlangten eine gleichmäßige Aufteilung des restlichen Reservelandes. Während das benach­barte Kolo­nistengebiet für seine Landlosen ein Grundstück im Kreis Ekaterinoslav kaufte, zeigten sich die mennonitischen Gross­bauern unter Berufung auf ihre Rolle als „Musterwirte“ unbe­weglich. Daraufhin griff die Regierung zugunsten der Landlo­sen ein. Erstmals erhielten sie Stimmrecht in den Dorf­­versammlungen. Das restliche Staatsland wie auch das Land der ehemaligen Gebietsschäferei wurden in 12-Desjati­nen-Par­zellen an die Hausbesitzer ohne Land verteilt. Zwei Kolo­nistengebiete folgten der Empfehlung des Domänenmi­niste­ri­ums, ihre Landlosen mit 12-Desjatinen-Grundstücken aus dem Land der ehemaligen Gebietsschäfereien zu versor­gen. Das Molotschnaer Kolonistengebiet wählte dagegen eine Lö­sung, die sich auch in den anderen Gebieten durchsetzte. Diese verpachteten das Land der ehemaligen Gebietsschäfereien in Parzellen von 4-5 Desjati­nen an die Meistbietenden und nutzten die Einnahmen zum Kauf von Grundstücken, auf denen sie Tochter­kolonien für die Landlosen anlegten. Als die Trassen, auf denen das Salz von der Krim nach Norden gebracht wurde und die durch das Molotschnaer Menno­nitengebiet führten, ver­engt wurden, folgten die Mennoniten dem Beispiel ihrer Nach­barn und schu­fen sich ebenfalls einen Pachtartikel, aus des­sen Einnahmen sie Land­käufe bestreiten konnten.

 

Für Landkäufe standen den Kolonisten außerdem Kredite der „Waisenkassen“ zur Verfügung. Wenn ein Kolonist starb und min­derjährige Waisen zurückließ, wurde nämlich sein Landanteil verpach­tet und sein bewegliches Eigentum versteigert. Das so ent­standene „Waisenkapital“ wurde von gewählten Waisenältesten verwaltet und mit einem Jahreszins von 5% ausgeliehen und den Waisen, wenn sie volljährig wurden, mit den eingegange­nen Zinsen zurückerstattet. Das Liebentaler Gebiet übertrug die Verwaltung des Waisenkapitals schon 1830 einer „Waisen- und Sparkasse“. 1869 stimmte der Domänenminister dem Vorschlag einer neurussischen Kolonistenkonferenz zu, ent­sprechende „Waisen-, Leih- und Sparkassen“ in jedem Gebiet einzurichten. Mit deren Krediten sollten Gemeinden, Siedler­genossenschaften und einzelne Kolonisten einen Teil der Sum­me für Landkäufe vorfinanzieren können. Die sieben Waisenkas­sen des Gouvernements Cherson verfügten im Jahre 1890 über 1 Million, die entsprechenden Kassen der Lutheraner und Katholiken in Taurien über je 1/2 Million Rubel. Da die Mennoniten auch den Land­anteil des Verstorbenen versteigerten, wurden in ihren bei­den Kassen größere Beträge deponiert, so dass die Chorticaer Kasse im gleichen Jahr über 1,2 Million und die Molotschnaer über 0,8 Million Rubel verfügen konnte. Indem die neurus­sischen Kolonien sofort nach dem Erwerb eines Grundstücks bei einer Bank eine Hypothek in Höhe der Hälfte des Kaufpreises aufnahmen, hatten Aussiedler aus den Mutterkolonien meist nur ein Zehntel der Kaufsum­me aufzubringen. Die Tochter­kolonien mussten die Kredite der Banken und der Waisen- oder Schäfereikassen in jährlichen Raten tilgen. Manche Tochter­kolonien konnten ihren Zahlungs­verpflichtungen nicht nach­kommen. Der mennonitische Amtsbezirk Nikolaifeld tilgte seine Schuld dagegen innerhalb von 18 Jah­ren, so dass das Kapital für weitere Landkäufe zu Verfügung stand. Zudem waren die deutschen Bauern Neurusslands bereit, gegenüber den Banken fürein­ander zu bürgen, und konnten Kolonisten von wohl­habenden Landsleuten Kredite mit einem Zinssatz von 10-12% erhalten, während Außenstehende das Doppelte verlangten.

 

1812 bzw. 1813 verpachtete das Fürsorgekontor erst­mals große Grund­stücke aus seinem Bodenvor­rat zu niedrigen Preisen an die Mennoniten  Johann Cornies  und Claas Wiens, die die Schafzucht in großem Maßstab und damit rationell betreiben konn­ten. Cornies erzielte mit seiner Schä­ferei nach eigenen An­gaben in den ersten 20 Jahren einen Reinertrag von über 422.000 Rubel. 1868 befand sich die Viehzucht auf den Vor­wer­ken der Grossgrundbe­sitzer und Grosspächter unter den Kolo­nisten in blühen­dem Zustand, während die übrigen deutschen Siedler nur noch 8,5% ihrer Einnahmen aus der Viehzucht be­zo­gen. Der erfolgreichste Schafzüchter mit 300.000 Schafen (1858) und bald auch der größte Gutsbesitzer Neurusslands war jedoch der Lutheraner Friedrich  Fein.

 

Nach dem Krimkrieg wanderten viele der muslimischen Tataren und Nogajer nach Anatolien aus. Bulgarische Kolonisten zogen nach der Befreiung Bulgariens von türkischer Herrschaft in ihre frühere Heimat zurück. Einzelne deutsche Kolonisten, Siedler­genossenschaften und Gemeinden nutzten die Gelegen­heit, das Land der verlassenen Aule und Dörfer billig zu kaufen. In den meisten Fällen erwarben sie ihren Grundbesitz je­doch von adligen Gutsbesitzern, die mit der Aufhebung der Leibeigen­schaft ihre billigen Arbeitskräfte verloren hatten und sich nicht selbst um die Gutswirtschaft kümmerten.

 

Eine Karte der deutschen Kolonien Neurusslands von 1848 müsste 199 Dörfer verzeichnen und würde Konzentrationen deutscher Ko­lonien im Hinterland von Odessa, am Djnepr, auf beiden Seiten der Molotschna, nördlich von Ma­riu­pol´ und verstreute Dörfer auf der Krim zeigen. Eine Kar­te des Jahres 1914 würde dagegen die Ausbreitung der Kolo­nien über alle Kreise der drei neurussischen Gouvernements und die Entstehung neuer Amtsbezirke, besonders auf der Krim dar­stellen. Am besten sind wir aus den Berichten von Revisoren über die Zahl der deutschen Kolonien und deren Landbesitz der Schwarzmeerdeutschen im Jahre 1890 informiert.

 

Zahl der deutschen Kolonien im Jahre 1890

Gouvernement  auf Anteilland  auf Eigenland  auf Pachtland  insgesamt.

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Cherson                            43              90              109             242

Ekaterinoslav                    53             137               54             244

Taurien                           103             112               31             349

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Neurussland                     199             339             197             835

 

 

In Neurussland hatten die Kolonisten 199 Dörfer auf Staatsland angelegt, während sich die Zahl der deutschen Dörfer durch die Gründung von Toch­terkolo­nien auf gekauftem und gepachteten Land mehr als ver­vierfacht hatte­. Neben zahlreichen Einzelkolonien, die bestehenden deutschen bzw. auch nicht-deutschen Amtsbezirken  zugeordnet wurden, entstanden neue Amtsbezirke. Mennonitisch waren die Amtsbezirke  Nikolaifeld (Kreis Ekaterinoslav),  Schönfeld  (Kreis Aleksandrovsk), Memrik  (Kreis Bachmut), Ohrloff  (Gouv. Cherson) und  Zagradovka (Kreis Cherson). Mennonitisch-lutherisch-katholisch war der Amtsbezirk Nikolaital (Kreis Ekaterinoslav). Lutheraner und Katholiken lebten in den neuen Amtsbezirke  Alexanderfeld und  Neusatz (beide Kreis Odessa),  Kronau (Kreis Cherson), Tabuldi  (Kreis Simferopol´), Aleksandrovka, Byten und Totanai (alle Kreis Perekop).

 

Landbesitz von Deutschen in Neurussland ­im Jahre 1890 in 1000 Desjatinen

 

Gouvernement Staats-   Eigenland v.    Privat‑  Zwischen‑  Pacht-  Summe

                           land        Kolonien         land       summe      land

Cherson               192                 174        286            652        220      872

Ekaterinoslav         97                 208        233            538          99      637

Taurien                231                 242        448             921        102    1023

Neurussland         520                  624        967           2111        421    2532

 

Aus dem Vergleich dieser Angaben mit anderen zeitgenös­sischen Untersuchungen geht hervor, dass die Revisoren die Landkäufe der Deutschen einfach addiert haben, ohne Verkäufe von Deutschen an Deutsche oder an Angehörige anderer ethnischer Gruppen abzuziehen. Selbst wenn man für diesen Fehler etwa 15% in Rechnung stellt, hatte sich der Landbesitz der Schwarzmeer­deutschen seit der letzten Zutei­lung von Staatsland vervier­facht. In den neurussischen Kolonien war der Landbesitz sehr unter­schiedlich verteilt: In den Gouvernements Ekaterinoslav und Taurien gab es 455 Deut­sche mit mehr als 100 Desjatinen Privatland, von denen 156 mehr als 1.000 Desjatinen und 26 mehr als 5.000 Desjatinen Land besaßen. Auch innerhalb der Kolonien, besonders in den noch auf Staats­land angelegten Mutter­kolonien standen den Grossbauern oder „Voll­wirten“ mit ihrem ur­sprünglichen Anteil von 60 bis 65 Desjatinen sog. „Halb-“ und „Viertelwirte“ sowie eine Klasse von „Anwohnern“, die nur über einen Hof und Garten ver­fügten, und von Landlosen ohne eigenen Hof gegen­über. Deren Zahl hatte sich durch die umfangreichen Land­käufe der beiden vergan­genen 25 Jahre sowie durch die Auswande­rung beson­ders von Mennoniten nach Amerika zwar vermindert, umfasste aber im Gouverne­ment­ Taurien immer noch 16%, im Gouvernement Ekaterinoslav 25% und im Gouvernement Cher­son sogar 67% der Bevölkerung. Auch machte es einen großen Unterschied für die Bauern, ob sie auf Staats-, Eigen- oder Pachtland wirtschaf­teten. Um Staatsland verkaufen oder versetzen zu können, mussten sie ihren Anteil erst mit der 20fachen Grundsteuer ablösen. Pächter konnten ihr Land an zahlungskräftigere Pächter oder Käufer verlie­ren.

 

Bei 89% der deutschen Privatlandbe­sitzer Neurusslands handelte es sich um ehemalige Kolonisten. Einzelper­sonen, Siedlerge­nossenschaften und Ko­lonien hat­ten im Jahre 1890 außerdem von Gutsbesitzern mehr als 400.000 Desjatinen ge­pachtet. Die meisten Güter lagen in der Nach­barschaft der Mutterkolonien und in den Gebieten, die die Tataren und No­gajer verlassen hatten. Da der Boden im Gou­vernement Taurien stets billiger gewesen war als im Gouver­nement Ekaterinos­lav, hatten die Kolonisten in Taurien auch grössere Güter kau­fen können. Obwohl in diesen beiden Gouvernements auf fünf  Mennoniten etwa acht Lutheraner und drei Katholiken entfielen, besaßen Mennoniten 177, Lutheraner 182 und Katholiken nur 28 Güter mit mehr als 200 D. In den 1890er Jahren verlang­sam­te sich die Zunahme des deutschen Grundbe­sitzes in Neu­russ­land, da die Kolonisten begannen, Land in an­deren Provinzen des Reiches zu kaufen. Dennoch erhöhte sich der Landbesitz der Deutschen in Neurussland - ohne Pachtland - bis 1914 auf mindestens 2.119.000 (Brandes) und höchstens 2.440.000 Desjatinen (Neutatz).

 

Neurussische Kolonisten legten seit den 1860er Jah­ren auch Dörfer im Land der Donkosaken (Deutsche im Dongebiet), im Gouvernement Stawropol und im Kuban- und Terek-Gebiet (Nordkaukasusdeutsche) an, wo das Land noch wesentlich billiger war als in ihren Heimatkreisen. Seit den 1890er Jahren entstanden in den Gouvernements Samara und Orenburg mennonitische Tochterkolonien („Neu-Samara“ und „Deevka“) sowie lutherisch-katholische Dörfer in den Gouvernements Poltava und Ufa. In den asiatischen Teil des Reiches zogen Mennoniten erstmals unter der Führung von zwei chiliastisch gesinnten Predigern. Ihnen wurden Siedlungsplätze im Talas-Tal im heutigen Kirgisien zugewie­sen, wo sie anfangs vier Kolonien anlegten. Nach der Jahrhundertwende gründeten größere Partien von Aussiedlern sowohl aus den südrussischen und nordkaukasischen als auch den wolgadeutschen Siedlungs­gebieten Dörfer in der Steppe zwischen Omsk und Tomsk ( Sibiriendeutsche)..

 

e. Ackerbau

 

In den Kolonien im Schwarzmeergebiet erhielt jeder „Wirt“ ein Grundstück im Dorf für den Bau seiner Wohn- und Wirtschaftsgebäude und seinen Garten. In der Nähe des Dorfes befand sich die gemeinsame Weide, zu der jeder Wirt einen Teil seines Landanspruchs beisteuern musste. Das Ackerland und der Heuschlag wurden dagegen in eine Reihe von Gewannen geteilt, an denen jedem Wirt im Losverfahren einen Streifen erhielt. Die Auslosung wurde regelmäßig wiederholt, auf jeden Fall aber vorgenommen, wenn die Ackerflächen ausgedehnt wurden. Dadurch erreichten die Kolonisten zwar eine gerechte Verteilung des unterschiedlich weit vom Dorf entfernten und unterschiedlich ertragreichen Landes, nahmen aber auch die Zersplitterung  ihres Anteils  in 10 bis 40 Felder in Kauf.

 

Mangel an Nahrung und gutem Wasser und das Leben in Bruchbu­den kosteten in den ersten Jahren vielen lutherischen und ka­tholischen Kolonisten die Gesundheit oder das Leben. Mehr als die Hälfte von ihnen waren in ihrer Heimat Winzer, Handwerker, Tagelöhner oder auch Soldaten gewesen. Nur jene Deutschen, die rund 25 Jahre in Ungarn gelebt und sich den durchreisenden Kolonistenzügen angeschlossen hatten, passten sich schnell der neuen Umgebung an. Die Kolonisten besaßen so wenig Vieh, dass meist zwei bis vier Wirte ihre Arbeitstiere zum Pflügen zusammenspannen muss­ten. Auch wegen des Mangels an Geräten ging die Feldarbeit langsam voran. Beim Austre­ten des Getreides durch Pferde oder Ochsen ging viel Korn ver­loren. Die Mennoniten am Dnepr und besonders an der Molotscha machten schnellere wirtschaftliche Fortschritte als die übrigen Kolonisten, da es sich bei vielen Einwanderern um erfahrene Landwirte handelte, die zum Teil mit eigenen Wagen und landwirtschaftlichen Geräten gekommen waren. Dennoch betrieben die Mennoniten noch im Jahre 1825 erst auf 6-10% ihres Anteils Ackerbau. Sie konnten allerdings schon damals schneller als ihre ukrainischen und russischen Nachbarn arbeiten, da sie ihre deutschen Pflüge und großen Wagen von Pferden ziehen ließen und Sensen einsetzten. 1830 wurde im Molotschnaer Mennonitenbezirk ein „Verein zur fördersamen Verbreitung des Gehölz-, Garten-, Seiden- und Weinbaus“  ins Leben gerufen und der Gutsbesitzer Johann  Cornies zu dessen lebenslangem Vorsitzenden ernannt. Der 1836 in „Verein zur Erhöhung der Landwirtschaft und Gewerbetreibung“ umbenannte Verein verpflichtete alle Wirte zur Einführung der Vierfelderwirtschaft mit geregeltem Fruchtwechsel und Schwarzbrache. Der Verein bemühte sich auch um die Verbesserung der Viehzucht, die Modernisierung der kommunalen Bauten, besonders der Schulen und half  bei der Durchsetzung der von Contenius erlassenen strengen Vorschriften.

 

Mit Ausnahme der unmittelbar auf die Napoleonischen Kriege folgenden Jahre war der Weizenpreis in den 1810er und 1820er Jahren niedrig. Außerdem wurde die südrussische Steppe in den zwanziger Jahren von gewaltigen Heuschreckenschwärmen heimgesucht, die einen Teil der Ernte vernichteten. 1833 erlebte Neurussland eine totale Missernte, der eine weitere schlechte Ernte folgte. Viele Rinder und Schafe wurden notgeschlachtet, Pferde auf entfernte Weideplätze gebracht. Die guten Ernten der folgen­den Jahre verhalfen den Kolonien von Odessa bis Mariu­pol´ zu ei­nem wirtschaftlichen Aufschwung, zumal der russi­sche Weizen inzwischen einen stabilen Absatzmarkt in West­europa gefunden hatte. Deshalb verwandelten die deutschen Bauern immer mehr Wiesen in Äcker. So wurden z.B. in den Kolonien des ­Liebentaler Gebiets 1848 30% und ein Jahrzehnt später schon 38% der Landanteile für den Anbau von Getreide genutzt. Die Ausweitung wurde möglich, da inzwischen verbesserte Pflüge und Eggen zur Verfügung stan­den. Die Ernteergebnisse schwankten auch in den 1850er und 1860er Jahren in extremem Masse. Die ausgezeichnete Ernte des Jahres 1852 brachte z.B. im Mariupoler Kolonistengebiet durchschnittlich das 19,5fache der Aussaat. Dagegen vernichteten Heuschrecken im Jahre 1855 einen grossen Teil der Ernte Neurusslands. Käfer und Zieselmäuse taten ein übriges. Nach dem Krimkrieg zogen die Weizenpreise an und hielten sich bis 1861 auf einem hohen Stand, sanken aber in den folgenden Jahren. Die Missernten der Jahre 1862 bis 1864 schwächten die Wirtschaftskraft der Kolonien und stürzten viele Siedler in Schulden. 1869 erhöhten sich die Weizenpreise wieder, blieben einige Jahre auf gleichem Niveau, um von 1876 bis 1881 kontinuierlich anzusteigen. In den achtziger Jahren nutzten die deutschen Kolo­ni­sten an der Molotschna schon zwei Drittel ihrer Anteile für den Acker­bau und nur noch ein Drittel als Wiesen und Weiden.

 

Schrittweise führten die Kolonisten moderne Geräte ein: Statt mit dem einscharigen Pflug pflügten sie mit dem mehrscharigen Bugger, statt mit der Sense mähten sie mit Mähmaschinen, meist des Typs „Stirnwärmer“, manche kurz vor dem Ersten Weltkrieg auch mit Selbstbindern. Sie ließen das Korn nicht mehr von Pferden austreten, sondern droschen mit steinernen Walzen und schließlich mit Dreschmaschinen. Am besten mit Geräten ausgestattet waren die Molotschnaer Mennoniten: Im Jahre 1914 verfügte jeder der 2.694 Höfe im Durchschnitt über 6,3 Pferde und 5,0 Rinder (jeweils einschließlich des Jungviehs), 2,5 Arbeitswagen mit oder ohne Verdeck sowie 0,6 Droschken, 0,7 ein- und 1,4 mehrscharige Pflüge, 1,6 Sämaschinen, 0,8 Kornschwingen, 0,5 Mähmaschinen, 0,4 Pferdedreschmaschinen und Milchseparatoren und 0,3 Häckselmaschinen; dazu kamen insgesamt 336 Drillen, 198 Walzen, 606 Selbstbinder, 7 Dampf- und 257 Motordreschmaschinen. Dieser Bestand an Geräten ist umso erstaunlicher, als nur noch weniger als die Hälfte der Bauern über den ursprünglichen Landanteil von 65 Desjatinen verfügte, während die übrigen nur Halb- oder Viertelwirtschaften besaßen.

 

Von den Molotschnaer Mennoniten übernahmen ihre Glaubensbrüder in den Gebieten Chortica und Mariupol´ sowie die lutherischen und katholischen Kolonien jenseits der Molotschna und die „Schwabenkolonien“ des Kreises Berdjansk die Vierfelderwirtschaft mit Brache. Den Nutzen eines regelmäßigen Fruchtwechsels erkannten die Bauern des Mariupoler Kolonistengebiets und jene des Gouvernements Cherson erst in den 1850er und 1860er Jahren. Nur die Molotschnaer Kolonisten benutzten schon in den 1860er Jahren die zeitsparenden Dreschmaschinen, während die deutschen Bauern des Gouvernements Cherson sich noch mit Steinwalzen behalfen. 

 

f. Viehzucht

 

Schon Anfang des 19. Jahrhunderts hatte das Fürsorgekontor Merinoschafe unter den Kolonisten verteilt, um die Herstellung feiner Wolle zu fördern. In den zwanziger und dreißiger Jahren besaßen die Kolonien, besonders jene, die weit von den näch­sten Seehäfen entfernt lagen, große Schafherden verbesserter Rasse. Die Schafzucht wurde solange betrieben, bis die australische die russische Wolle vom englischen Markt verdrängte, das Wei­deland für den rentableren Weizenanbau umgebrochen und für die Ernährung der wachsenden Zahl von Zugtieren und Milch­kühen benötigt wurde. Als Ende der 1860er Jahre viele Schafe einer Seuche zum Opfer fielen, ergriffen die Koloni­sten die Gelegenheit, sich ihrer Herden fast völlig zu ent­ledigen. 1911 erzielten die deutschen Bauern des Gouver­nements Ekaterinoslav zwei Drittel ihrer Einnahmen aus der Viehzucht durch den Verkauf von Fleisch und nur noch 1,3% durch den Verkauf von Wolle. Die Kolonisten der Gouvernements Ekaterinoslav und Taurien hielten deutsche Rinder, während sich die deutschen Bauern des Gouvernements noch mit einheimischen Steppenrindern begnügten und erst in den 1880er Jahren die „Molotschnaer rote Kuh“ einführten, die mehr Milch gab.

 

g. Handwerk und Industrie

 

Seit den 1850er Jahren verkauften die deutschen Handwerker ihre Geräte und Maschinen nicht nur an ihre Landsleute, sondern auch an andere ethnische Gruppen. Rus­sen, Tataren und Bulgaren interessierten sich besonders für die großen und soliden Wagen mit Eisenachsen und die besse­ren Pflüge, die die Deutschen und vor allem die Mennoniten herstellten und selbst benutzten. Während des Krimkrieges verkauften Molotschnaer Mennoniten und Kolonisten ihre Pferdewagen an die Armee, nach dem Krieg auch an Gutsbesitzer und zunehmend an russische und ukrainische Bauern der Umgebung, die die solide Bauweise dieser Plan- oder Leiterwagen im Krieg schätzen gelernt hatten. Bald zogen auch andere deutsche Handwerker großen Gewinn aus der Herstellung von Wagen und landwirtschaftlichen Geräten. Im Kutschurganer Gebiet blieb der Wagenbau bis zum Ersten Weltkrieg das wichtigste Gewerbe: Wagner bauten die Gefährte, die von Schmieden beschlagen und von „Anstreichern“ bemalt wurden. Reiche Schmiede und Wagner vergaben die Holz- und Schmiedearbeiten an ärmere Handwerker, „so dass einzelne zur Hauptwagenzeit Dutzende oder gar bis hundert fertige Wagen zum Verkauf dastehen haben“.

 

Die Kolonisten errich­te­ten Fabriken, in denen sie Baumwollstoffe, Bier, Essig und Ziegel herstellten. Einige Jahre lang war die Stärkefabrik der Molotschnaer Mennoniten der größte Betrieb seiner Art im Russischen Reich. Der wichtigste Beitrag der Schwarzmeerdeutschen zur Industrialisierung des Reiches bestand jedoch in ihren Dampfmühlen sowie in ihren Fabriken für landwirtschaftliche Gerä­te und Maschinen. In und nach dem Krimkrieg errichte­ten sie Dampfmühlen in den Kolonien, den Hauptstädten der neurussi­schen Gouvernements und in den Zentren der Kreise. In der Stadt Ekaterinoslav gehörte mehr als die Hälfte der Müh­len Menno­niten.

 

1879 lag der Anteil Neurussland an der Gesamtherstellung landwirtschaftlicher Geräte und Maschinen in Russland noch bei 14,5%, derjenige des Gouvernements Ekaterinoslav bei 10,5%. Drei Viertel der Produktion des Gouverne­ments entfiel damals auf die kleine Kolonie Chortica. Dieses Mennonitendorf  produzierte Landmaschinen im Wert von über 300.000 Rubel und blieb nur noch hinter Warschau mit einer Produktion im Wert von 500.000 Rubel und ganz knapp hinter Moskau zurück. Als die Regierung den Import von Eisenwaren mit Zöllen belegte, stieg die heimische Produktion. Neurussland übernahm die Füh­rung vor den westlichen und den baltischen Provinzen und erhöhte seinen Anteil auf fast 50% im Jahre 1911. Die Werk­statt des ehemaligen Schmiedes  Johann Höhn  in Odessa entwickel­te sich zum grössten Pflughersteller des Landes mit 1.200 Arbei­tern. Die meisten deutschen Fabriken standen in Kolonien oder ebenfalls nahegelegenen Städten wie Aleksandrovsk und Ekaterinoslav und gehörten mennonitischen oder lutherischen Unterneh­mern.

 

Den Grundstein für die Landmaschinenindustrie des Gebiets Chortica hatte der Uhrmacher Peter Lepp gelegt. Anfang der 1850er Jahre begann er, Putzmühlen zu produzieren, in den 1860er Jahren kamen Dreschmaschinen hinzu. Nach seinem Tode führte sein Schwiegersohn A.A. Wallmann die Firma weiter, in der Anfang der 1880er Jahre 170 Arbeiter Streusä- und Dreschmaschinen, Putzmühlen und Getreidemäher des Typs Wood im Wert von 200.000 Rubel herstellten, die von drei bis vier Pferden gezogen werden mussten, wobei Wallmanns Version auf den Selbstabwurfapparat für das geschnittene Getreide des Vorbilds verzichtete. Da die schweißtreibende Maschine einfach konstruiert und leicht zu reparieren war, gewann sie schnell viele Kunden. Die grossen Stückzahlen ermöglichten  Lepp & Wallmann, den Preis von ursprünglich 250 bis 300 auf 120 Rubel (1898) zu senken. Die Firma gehörte zu den führenden Herstellern von Landmaschinen in Russland und fertigte darüber hinaus Eisenteile für die genannten, aber auch andere Geräte an, aus denen selbständige Handwerker ebenfalls Maschinen bauen konnten. Die Firma errichtete eine Filiale in Schönwiese bei Aleksandrovsk, das 1884 einen Eisenbahnanschluss erhielt. In den letzten Jahren vor dem Ersten Weltkrieg expandierte das Unternehmen weiter, errichtete eine Zweigbetrieb in Pavlograd und erzielte 1911 mit 700 Arbeitern einen Umsatz von 1 Million Rubel. An der russischen Jahresproduktion von 200 Dampfdreschmaschinen des Jahres 1911 waren Lepp & Wallmann mit 30 und die Firma Gebrüder Klassen in der Kolonie Olgafeld bei Melitopol´ mit 38 Maschinen beteiligt.

 

Bei Lepp & Wallmann hatten auch die meisten anderen Fabrikanten Chorticas gelernt. Abraham J. Koop machte sich 1864 selbständig und produzierte die gleichen Geräte wie sein Lehrmeister, darüber hinaus aber noch mehrscharige Pflüge, sog. Bugger. Sein Erbe Abraham A. Koop beschäftigte 1911 schon 800 Arbeiter in seinen vier Fabriken, unter anderem in einer Giesserei, die auch andere Fabriken mit Eisen verschiedenen Härtegrades belieferte. In Aleksandrovsk stellte die Firma Getreidemäher mit Selbstabwurfapparaten des Typs Daisy der Fa. MacCormick her, in der Kolonie Einlage liess er Ernte- und Heumähmaschinen sowie Pferderechen zusammenbauen, die sich durch die hohe Qualität des Materials und der Montage auszeichneten. Das Unternehmen erwarb 1910 zu seinen vier eigenen Fabriken in Chortica, Einlage und Schönwiese noch 13 weitere Landmaschinenfa­briken im Raum Aleksandrovsk und wurde dadurch zum örtlichen Marktführer. Darüber hinaus errichtete Koop 1913 gemeinsam mit den Aktiengesell­schaften Höhn und Elworthy, die in Odessa beziehungsweise in Elisavetgrad dominierten, ein Kartell. Die sogenannte Verkaufsgemeinschaft Uroschaj teilte jedem der drei Beteiligten eine Produktgruppe zur Herstellung zu, unterhielt Filialen in Charkov, Odessa und Rostov und kann somit als Ansatz zu einer Monopoli­sierung des Marktes im gesamten Schwarzmeergebiet gesehen werden. Cornelius Hildebrandts Betrieb war Anfang der 1880er Jahre mit 20 Arbeitern eher eine große Werkstatt. Seine Söhne bauten die Werkstatt allmählich zur Fabrik  Hildebrandts Söhne und Pries mit einer Filiale in Schönwiese aus. In der mennonitischen Tochterkolonie Waldeck errichtete Julius  Legin eine Fabrik, die im ersten Jahre 1895 nur 50, kurz vor dem Kriege aber schon 1.000 Mähmaschinen und 600 Bugger, 300 Putzmühlen sowie verschiedene andere landwirtschaftliche Geräte herstellte. Die Tochterkolonie New‑York entwickelte sich zu einem Industriedorf mit zwei Maschinenfabriken, fünf Dampfmühlen, zwei großen Ziegel‑ und Dachpfannenbrennereien, drei Ölschlägereien und einigen Läden.

 

In den 1880er Jahren hatten die Chorticaer Unternehmer ihre neuen Zweigwerke in der verkehrsgünstig gelegenen Kolonie Schönwiese errichtet, die im Norden an die Stadt Aleksandrovsk, im Westen an den Dnepr, im Osten an die große Strasse zum Azovschen Meer und im Süden an den Terminal der Südeisenbahn nach Sevastopol´ stieß, von dem sechs Gleise zu den Mühlen und Fabriken des Dorfes führten. Wie Schönwiese verloren Chortica und die benachbarten Kolonien Einlage und Rosentaldurch die Industrialisierung ihren dörflichen Charakter. 1890 arbeiteten in Chortica mit nur 44 landwirtschaftlichen Betrieben 343 Ausländer, 519 Orthodoxe und 147 „Andersgläubige“, d.h. Juden. In dieser Gemeinde bauten und unterhielten die Firmen Lepp & Wallmann, Koop und Hildebrandt eine zweiklassige Schule für die Kinder ihrer Fabrikarbeiter sowie ein Betriebskrankenhaus. Zum industriellen Zentrum des Molotschnaer Mennonitenbezirks entwickelten sich die Kolonien Halb- und Neuhalbstadt. In Halbstadt standen 1890 die Motorfabrik  H. Schröder und die Wagenfabrik  Wiens & Co. und in Neuhalbstadt die Eisengießerei Kornelius Wedels. Prischib war das Handels- und Kulturzentrum des Molotschnaer Kolonistengebiets. 1915 beherbergte es u.a. eine Zementfabrik, zwei Ziegeleien, eine Bierbrauerei und eine Buchdruckerei. Die meisten seiner 810 Bewohner (1912) widmeten sich dem Handel und Gewerbe und verpachteten ihre Wirtschaften an Russen und Ukrainer. Die Maschinenindustrie dieses Gebiets hatte sich in der Kolonie Hoffental angesiedelt. Insgesamt betrug der deutsche Anteil an der Landmaschi­nenproduktion des Schwarzmeergebietes im Jahre 1911 fast 50%, derjenige der Mennoniten rund 26%, was außergewöhnlich ist, wenn man bedenkt, dass die Deutschen in dieser Region nur 3,5% der Bevölkerung stellten.

 

h. Religiöses Leben

 

Nachdem dem Abschluss des Ansiedlungsprozesses stellten die Lutheraner zusammen mit den Reformierten 41%, die Katholiken 30% und die Mennoniten 29% der Deutschen Neurusslands. Dieses Verhältnis veränderte sich durch Auswanderung in den 1870er Jahren zuungunsten der Mennoniten.

 

Die Kolonialverwaltung verpflichtete die Geistlichen ebenso wie die Schulzen, die Kolonisten „zur Frömmigkeit, zum Kirchenbesuch an Sonn- und Feiertagen, zum Beten und zum Empfang des Abendmahls zu ermahnen“. Wegen ihrer geringen Zahl konnten die Pastoren die deutschen Dörfer nur wenige Mal im Jahr besuchen und mussten den sonntäglichen Gottesdienst den Küstern überlassen. Dennoch besaßen die luthe­rischen und reformierten Pastoren großen Einfluss und lenkten zusammen mit den wohlhabenden Wirten das Leben der Gemeinden. Sowohl die lutherische und reformierte als auch die ka­tholische Kirche Russlands waren multi-ethnische Institutio­nen. Die Amtssprache der lutherischen Kirche war aber deutsch, denn ihre Pastoren wurden in Dorpat ausgebildet. Durch das Kirchengesetz von 1832 wurden je ein evangelisch-lutherischer Konsistorialbezirk in Moskau und St. Petersburg gebildet. Dem St. Petersburger Kon­sistorium wurde bald darauf eine „Reformierte Sitzung“ zur Betreuung der wenigen reformierten Gemeinden angegliedert. Diesem Konsistorium unterstanden der 1. Propstbezirk (mit den Gemeinden des Gouvernements Bessarabien und dem größten Teil der Gemeinden des Gouvernements Cherson) und der 2. Propstbezirk (Ekaterinoslav, Taurien sowie der schwedische und Kronauer Amtsbezirk). In vielen protestantischen Gemeinden bildeten sich pietisti­sche Gemeinschaften, die sich zu „Stunden“ trafen. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts schickte die Basler Mis­sionsanstalt eine Reihe von Pastoren, denen es gelang, die „Stunden“ im Rahmen der Kirche zu halten. Seit den 1830er Jahren kamen dagegen die meisten Pastoren von der Theologischen Fakultät der Universität Dorpat. Diese streng orthodox orientierten Pastoren kamen mit ihren oft pie­tistisch gesinnten Gemeinden nur schwer zurecht und konnten den Einfluss von Sektierern, die an chiliastischen Vor­stellungen des Auszugs festhielten, und von Predigern, die neue Freikirchen wie jene der Baptisten, nur mit Mühe zurückdrängen. Ein Teil der ehemaligen  Separatisten ­lehnten die Unterstellung unter das evangelisch-lutherische Konsistorium ab. ­­­

 

Die katholischen Kolonien wurden in den ersten Jahren von Jesuiten und nach deren Ausweisung im Jahre 1820 überwiegend von polnischen Geistlichen betreut, die ihnen das zuständige Erzbistum Mohylev schickte, dessen Sitz später ebenfalls nach St. Pe­tersburg verlegt wurde. Mangelhafte Sprachkenntnisse begrenzten den Einfluss der polnischen Priester in der Gemeinde. Erst 1856 wurde in Saratov ein geistliches Seminar gegründet, das deutsche Priester für die Kolonien ausbildete.

 

Die  Mennoniten wollten eine Gemeinschaft bewusster Christen sein. Aus diesem Ziel leiteten sie die Taufe bekehrter Er­wachsener, das allgemeine Priestertum mit der freien Wahl der geistlichen „Lehrer“ und „Ältesten“, die Autonomie jeder Gemeinde, die gegenseitige Fürsorge und den Bann ab. Zur Zeit der Einwanderung organisierten sie sich in Gemeinden der eher konservativen flämischen und der eher weltoffenen friesischen Richtung. Beide lehnten aber Eidesleistung und Waffendienst ab. Ihre Tradition, die „Welt“ zu meiden und die Übernahme weltlicher Ämter ab­zulehnen, konnten sie in den konfessionell homogenen Kolonien Neuruss­lands nicht aufrechterhalten. Mennoniten wurden zu Schulzen gewählt. Die Regierung verlieh den Amtsinhabern Herrschafts- und Strafgewalt über ihre Glaubensbrüder, und die Fürsorgebehörden­ unterstützten diejenigen, die sich für Neuerungen auf landwirtschaftlichem und schulischem Gebiet einsetzten, ge­gen die Opposition stärker der Tradition ver­hafteter Menno­niten. Diese trennten sich 1812 als  Kleine Gemeinde und 1861 als Krimer Mennoniten-Brüdergemeinde von den „kirchlichen“ Mennoniten. Beide Gruppen wanderten in den 1870er Jahren im Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen um den Wehrersatzdienst (Forsteidienst) nach Amerika aus. Unter dem Einfluss neu eingewanderten Mennoniten, die in Preussen pietistisches Gedankengut aufgenommen hatten, und erweckt von Eduard Wüst, dem Prediger der benach­barten Separatisten-Gemeinde Neuhoff­nung, sowie von baptistischen Missionaren, pro­testier­te Ende 1859 eine Gruppe von Mennoniten gegen das Ge­wohn­heitschristentum ihrer Glau­bensbrüder und die soziale Vor­herrschaft der Grossbauern und bildete die „Mennoniten-Brü­dergemeinde“. Wegen der Spannungen mit den traditionellen Gemeinden wanderte ein Teil der Mennonitenbrüder 1864 ins Kuban-Gebiet und 1871 in den Kreis Evpatorija aus. Nach der Revolution von 1905 kamen sich die kirchlichen Mennoniten und die Brüdergemeinde wieder näher und trafen sich 1910 zu einer „Allgemeinen Mennonitischen Konferenz“. Kurz vor Kriegsbeginn arbeitete eine weitere Konferenz das Projekt eines „Statuts der Evangelisch-Mennonitischen Konfession in Russland“ aus, das drei Jahre später angenommen wurde.

 

i. Schulen

 

In den protestantischen Gemeinden übten die Schulmeister zugleich das Amt des Küsters aus. Bei Abwesen­heit des Pastors lasen sie aus den Predigtbüchern vor und vertraten den Pastor bei Begräbnissen und Taufen. Solange die Fürsorgekontore ihre Gehälter zahlten, unterstan­den die Küsterlehrer deshalb dem Pastor des zuständigen Kirchspiels. Den Gemeinden wurde freigestellt, wieviel Ge­halt sie den Schulmeistern zahlen und wieviel Lebensmittel sie ihnen liefern wollten. Die Lehrer sollten auch freie Wohnung und Heizung in den Schulhäusern erhalten. Da die Bauern oft schlechten, aber billigen den Vorzug vor guten und teuren Schulmeistern gaben, wurde die Auswahl den Gemeinden wieder entzogen und dem zuständigen Pfarrer über­tragen. Noch 1830 hielt ein führender Kolonialbeamter 108 von 116 Lehrern der Ekaterino­slaver Niederlassung für gänz­lich ungeeig­net: Sie könnten nur mit Mühe lesen und kaum ihren Namen schrei­ben. Der Unterricht in der Dorfschule bereitete die Jugendlichen in erster Linie auf die Konfirma­tion bzw. Firmung vor. Deshalb gingen die katholischen Kin­der zwei Jahre weniger zur Schule als die protestantischen. Klassen mit 200 bis zu 350 Schülern hinderten die Lehrer, sich dem Einzelnen zu widmen, so dass die Lehrer den Buchstabierkurs durch fortgeschrittene Schüler erteilen ließen. Dann setzte man die Kinder an die Fibel, die Bibel und das Einmaleins. Wenn die Jugendlichen die Schule verlieβen, konnten die wenigsten schreiben und rech­nen. Nur in den Kolonien der Menno­niten sah es mit einem Durchschnitt von 46 Schülern pro Klasse (1837) besser aus. Das Schuljahr dauerte nur vom 1. Ok­to­ber bis zum 31. März, doch schickten viele Eltern ihre Kin­der sehr unregelmäßig zur Schule.­

 

1822 liess ein von Johann Cornies initiierter Verein eine „Christliche Vereinsschule“ in Ohrloff  bauen. Sie brannte 1847 nieder und wurde erst 1860 als  „Zentralschule“ wiedereröffnet. Die ersten Zentralschulen waren in den Halbstadt (1836) und Chortica (1841), den Zentren der beiden Mennonitenbezirke, eröffnet worden. Ihnen folgten je eine lutherische Zentralschule in Sarata (1844) ( Bessarabiendeutsche) und in Prischib (1846). Die zweiklassigen, aber vierjährigen Zentralschulen sollten Kolonisten-Kinder zu Schulmeistern und Gemeindeschreibern heranbilden und die Kenntnis der russischen Sprache verbreiten. Wie eine Konferenz von Vertretern der Schwarzmeerdeutschen im Jahre 1866 beschlossen hatte, entstanden weitere Zentralschulen in Grossliebental (1869), Neu-Freudental (1869, seit 1897 in Landau), Grunau (1873), Gnadenfeld (1873) und Neusatz (1874). Manche Gebiete scheuten die Kosten für den Unterhalt von Zentralschulen und entschieden sich für die staatlich geförderten Zemstvo-Schulen, so die Katholiken des Kutschurganer Gebiets und die „Schwabenkolonien“ bei Berdjansk. Das Interesse der Kolonisten an der Aus­bildung ihrer Kinder an staatlich anerkannten weiterführen­den Schulen stieg nach der Einführung der Wehrpflicht, da Absolventen solcher Lehranstalten eine Reduktion der Wehr­dienstzeit eingeräumt worden war. Die Zentralschulen wurden in den 1880er Jahren, die Kirchenschulen zu Beginn der 1890er Jahre russifiziert (Russifizierung). Nur noch Deutsch und Religion sollten in der Muttersprache unterrichtet werden. Nach der Revolution von 1905 wurde die harte Russifizierung der deutschen Schulen gemildert. Nun wurden zahlreiche neue Zentralschulen, u.a. in Alexanderkron, Gnadenheim, Karasan, Lindenau, Spat und Zürichtal sowie eine achtklassige Real-, später Kommerzschule in Halbstadt und eine Ackerbauschule in Eugenfeld errichtet. Ein privates Progymnasium entstand 1900 in Karlsruhe und wurde 1914 zum Gymnasium ausgebaut.­

 

j. Wohltätigkeitseinrichtungen

 

Zentrale lutherische Wohltätigkeitseinrichtungen baute die lutherische Kirche in Odessa auf, nämlich ein Armenhaus (1831-1865), ein Witwen- und Waisenhaus für Mädchen (seit 1868) und für Knaben (seit 1880) sowie ein evangelisches Hospital (seit 1892). In Grossliebental wurde das lutherische Haus „Bethanien“ für Altersschwache, Schwachsinnige und Krüppel, 1891 auch ein Waisenhaus und 1897 ein Krankenhaus errichtet. In Worms und Prischib verfügten die Lutheraner über je eine Taubstummenanstalt. Später als die lutherische baute die katholische Kirche Wohlfahrtseinrichtungen auf, so 1892 und 1909 Waisenhäuser in den Kolonien Karlsruhe und Selz. Die Mennoniten eröffneten 1885 eine Taubstummenanstalt in Blumenort bzw. seit 1890 in Tiege. Heime in Rückenau (1895), auf dem Land der ehemaligen Gebietsschäferei (1904) nahmen Alte und in Grossweide (1914) Waisen auf. Private Krankenhäuser in Muntau (1889), Waldheim (1906) und Ohrloff (1910) sowie eine Diakonissen-Anstalt in Neuhalbstadt (1909) verdankten ihr Entstehen den Spenden wohlhabender Mennoniten. In Einlage wurde eine Nervenheilanstalt errichtet.

 

k. Zeitschriften und Zeitungen

 

Die Kolonisten lasen vorwiegend kirchliche Blätter und Kalen­der. In Odessa wurde das Sonntagsblatt Christlicher Volksbote für die evangelisch-lutherischen Gemeinden in Südrussland (1868-1914) sowie der Neue Haus- und Landwirtschaftskalender für deutsche Ansiedler im südlichen Russland (1881-1915) herausgegeben. Die katholische Presse bestand aus dem Diözesan-Wochenblatt Klemens (1897-1914), der Tageszeitung Deutsche Rundschau (1908-1918), dem Kalender Hausfreund (1892-1906), danach dem Deutschen Volkskalender für Stadt und Land (1908-1911) und dem Abreißkalender Daheim. In Halbstadt brachten Mennoniten den Christlichen Familienkalender (1897-1918), den Christlichen Abreißkalender (1899-1914) heraus. Auch das Wochenblatt Die Friedensstimme erschien in Halbstadt, in Berdjansk zweimal wöchentlich Der Botschafter (1905-1914) sowie das Mennonitische Jahrbuch (1905-1914).

 

Das überkonfessionelle Unterhaltungsblatt für die Ansiedler im südlichen Russland

 brachte seit 1840 der Grossliebentaler Kolonist Johann Heinrich Sonderegger heraus, zu dessen Bezug das Fürsorgekomitee die Schulzenämter verpflichtete. An die Stelle des Unterhaltungsblatts trat 1863 die Odessaer Zeitung, die sowohl die Deutschen Odessas als auch der Kolonien anzusprechen versuchte. Die Eugenfelder Landwirtschaftsschule gab in den letzten beiden Jahren vor dem Ersten Weltkrieg das Wochenblatt Der Landwirt heraus. Überkonfessionell war auch der Molotschnaer Volkskalender für die deutschen Ansiedler in Südrussland (1861-1914).

 

l. Sitten und Gebräuche sowie Dialekte

 

Die Kolonisten brachten ihre Sitten und Gebräuche aus ihrer jeweiligen Heimatregion mit. Aufwendig und manchmal mehrere Tagel lang gefeiert wurden besonders von Katholiken und Lutheranern die dörflichen Hochzeiten. Neben Liedern, die die Einwanderer aus ihrer Heimat mitgebracht hatten, wurden auch Lieder aus neueren Liederbüchern bei den Schwarzmeerdeutschen heimisch, und schließlich entstanden Kolonistenlieder, die Ereignisse von lokaler oder allgemeiner Bedeutung zum Thema hatten. Da Deutsche aus fast allen deutschsprachigen Gebieten Mitteleuropas nach Neurussland gewandert waren, waren dort auch fast alle deutschen Dialekte vertreten. Durch Mischung der Dialekte reduzierte sich deren Zahl, war aber immer noch gross. Die wichtigsten Mundarten waren schließlich das „Plautdietsch“ der Mennoniten, das Schwäbische und das Südfränkische als Übergangsvarietät zwischen dem Rheinfränkisch-Hessischen und Schwäbischen. 

 

m. Verhältnis der Kolonisten zu anderen ethnischen Gruppen und zum Staat

 

Die Mehrzahl der deutschen Kolonisten „weiss nichts von Deutschland, will aber auch nichts mehr davon wissen“, meinte der deutsche Reisende Wilhelm Hamm im Jahre 1862. Ihre Vorstellungen und Zukunftsträume seien russisch, wenngleich sie an ihren Gebäu­den, Geräten, Trachten, Vornamen und Dialekten festhielten. Sie hätten aber den russischen Schafpelz, russische Speisen und Getränke übernommen.

 

Die Kolonisten wollten sich selbst verwalten und von der staatlichen Administration in Ruhe gelassen zu werden. Deshalb gingen sie Konflikten mit den Behörden aus dem Wege und erfüllten ihre Pflichten mit Genauigkeit und „mit bewunderns­werter Schnelligkeit“, wie Revisoren im Jahre 1890 nach St. Petersburg be­richteten. Die Finanzbehörden hatten keine Mühe mit der Ein­treibung der Steuern und Abgaben. Die Polizei hatte selten in ihren Gemeinden zu tun, da Verbrechen kaum vorkamen. Der Kolonist gehe in der kleinen Welt seines Dorfes auf, das Leben ausserhalb der Gemeinde sei ihm fremd. Kirche, Schule und Gemeinde seien der einzige In­halt seines geistigen und sozia­len Lebens. Mehr oder weniger freiwillig dokumentierten die Kolonisten ihre Untertanentreue. Der Krimkrieg spielte sich in der Nähe der deutschen Kolonien ab. Von März bis Mai 1855 wurden allein in einem ihrer Gebiete über 22.000 Soldaten einquartiert, die den Typhus einschleppten. Die Kolonisten stellten Geld, Nah­rung und Fut­ter für die Kriegführung zur Verfügung und be­lie­ferten zudem in der Nähe stationierte Truppen. Sie erfüll­ten ihre Pflicht, mit einer bestimmten Zahl von Fuhrwerken Truppen und Kranke von der Krim abzutransportieren, richteten in ihren Dörfern Lazarette ein und betreuten die Verwun­de­ten. Die Aufhebung ihrer Privilegien im Jahre 1871 brachte dann auch den Ko­lonisten die Wehrpflicht. Im Türken‑Krieg von 1877 bis 1878 dienten Deutsche erstmals in der Armee und wurden auch mit Orden aus­gezeichnet. Besonders die Mennoniten lieferten der Armee Pfer­de zu den niedrigen staatlichen Ankaufspreisen, spendeten Ge­treide für Soldaten-Familien, Geld für Soldaten-Witwen und übernahmen die Pflege von Verwundeten.

 

Als die russische Regierung im Juni 1871 die Privilegien der Kolonisten aufhob, suchten Kanada und die Vereinigten Staaten von Ame­rika gerade Siedler für die neu erschlossenen Provinzen des Westens. Besonders die angekündigte allgemeine Wehrpflicht beunruhigte die deutschen Kolonisten, vor allem aber die Mennoniten. Sie lehnten auch das Angebot der Regierung ab, ihre Wehrpflicht als Sanitäter abzuleisten, falls deren Dienst militärisch organisiert werde. Als ein Teil der Men­noniten seinen Besitz verkaufte und sich zur Auswanderung nach Nordamerika vorbereitete, lenkte die Regierung ein und bot ihren Vertretern einen vierjährigen Ersatzdienst in Forstkommandos unter der Aufsicht gewählter Vorsteher an. Dennoch emigrierten in den nächsten Jahren ungefähr 15.000 Mennoniten in die USA und nach Kanada. Zur gleichen Zeit verließen auch lutherische Schwarzmeer-Deutsche das Russi­sche Reich.

 

Die Reformen Alexanders II. zwangen die Kolonisten, aus der Enge des Dorfes herauszutreten. Die Modernisierung mit der Zunahme des Wa­renaustausches, dem Ausbau der Verkehrsverbindungen, der Verstädterung und der sozialen Differenzierung verstärkte auch ihre Kontakte mit der Aussenwelt. Als der Integrationsprozess in vollem Gange waren, stieß die nationalistische Presse die deutschen Bauern plötzlich als angebliche Vorposten des mächtigen Deutschen Rei­ches und als potentielle Vaterlandsverräter zurück. Besonders das schnelle Wachstum der deutschen Siedlungen in Wolhynien (Wolhyniendeutsche) erregte Misstrauen. Schuld war erstens die Ver­schlechterung der Beziehungen Russlands zum Deutschen Reich. Zweitens hatte die Hoffnung getrogen, dass die Aufhebung der Privilegien und der Sonderverwaltung für die Kolonisten im Jahre 1871 zu ihrer all­mählichen Russifizierung führen werde. Drittens hatten Pie­tisten unter den Lutheranern und Mennoniten Proselyten unter den or­thodoxen Gläubigen gemacht (Stundisten). Viertens schien sich der Landbesitz deutscher Siedler Neuruss­lands durch Landkäufe von Gemeinden, Siedlergenossenschaften und einzelne Kolonisten un­aufhaltsam zu vergrößern.

 

Ende der 1880er Jahre begannen russische Nationalisten, sich mit der „deutschen Gefahr“ im eigenen Lande zu beschäftigen. Paltov, der Verfasser des bekanntesten Pamphlets, bezeichnete die deutschen Kolonisten Südrusslands als „gehorsames und akti­ves Werkzeug“ des Germanismus. Ohne Waffen und Blutvergiessen eroberten sie Russland, erklärte er, unterdrückten es wirt­schaftlich und geistig und eigneten sich seine besten Lände­reien an. „Wir brauchen weder sie, noch ihre Saatpflüger oder Dreschmaschinen, sollen sie doch dahin gehen, woher sie gekom­men sind.“ Auf jeden Fall müsse ihnen jedoch der weitere Land­erwerb verboten werden. Wie Dietmar Neutatz nachgewiesen hat, sahen jedoch weder die deutsche Regierung und noch nicht einmal die Alldeutschen in den Russlanddeutschen, sondern nur in den Deutschbalten einen Vorposten des Deutschen Reiches und waren eher einer an einer Rücksiedlung von Russlanddeutschen ins Deutsche Reich oder auch an ihrer Umsiedlung ins Baltikum interessiert.

Die russische Regierung schickte im Jahre 1890 Beamte in die neurussischen Gouvernements, die keine Hinweise auf eine politische Unzuver­lässigkeit der deutschen Siedler fanden. Die Kolonisten sym­pathisierten nicht mit den Deutschen im Ausland und unterhiel­ten mit ihnen auch keine Beziehungen. Aus dem Reich abonnier­ten sie religiöse, nicht aber politische Zeitschriften. Die Presse‑Attacken der letzten Zeit hätten sie „sehr verbittert und beleidigt“. Sie wehrten sich gegen die Beschuldigungen, und erklärten, dass „sie Russland lieben und glauben, dass es ihnen nirgendwo so gut gehen werde wie in Russland“. Eine Ge­le­genheit, ihre Za­ren- und Staatstreue erneut zu beweisen, bot der Krieg gegen Japan, der auch deutsche Kolonisten in die Mandschurei brach­te. Wieder spendeten Mennoniten für verwunde­te und kranke Krieger und entsandten Freiwillige als Sanitäter an die Front­.

 

Nach der Schaffung der Zemstva in den 1860er Jah­ren be­tei­ligten sich die Koloni­sten auch am politischen Leben des Reiches. Da eine große Zahl von Schwarzmeer-Deut­schen Pri­vatland besaß und deshalb in den ersten beiden Ku­rien wählen konnte und da die Wahlbeteiligung der Kolonisten über derje­ni­gen der übrigen Bauern lag, entsandten sie überdurch­schnitt­lich viele Abgeordnete in die Zemstva der Kreise. Deutsche wurden auch in die Zemstva der Gouvernements und die Zemst­vo-Verwaltungen delegiert. Bei den ersten Wahlen zur Duma, dem gesamtrussischen Parlament, unterstützten die Schwarzmeerdeutschen wie die Deutschen St. Petersburgs und Moskaus den „Ver­band vom 17. Oktober“. Mit Unterstützung dieser Partei konnten die deutschen Abgeordneten in den Jahren 1910 und 1912 Versuche der Regierung abwehren, die wirtschaftliche Betätigung ehemaliger Kolonisten einzuschränken.

Literatur

Literatur: Brandes, Detlef: Von den Zaren adoptiert. Die deutschen Kolonisten und die Balkansiedler in Neurussland und Bessarabien 1751-1914. München, Wien 1993; Neutatz, Dietmar: Die „deutsche Frage“ im Schwarzmeergebiet und in Wolhynien. Politik, Wirtschaft, Mentalitäten und Alltag im Spannungsfeld von Nationalismus und Modernisierung (1856-1914). Stuttgart 1993; Ders.: Ländliche Unternehmer im Schwarzmeergebiet. Die südukrainische Landmaschinenindustrie vor dem Ersten Weltkrieg. In: „... das einzige Land in Europa, das eine große Zukunft vor sich hat“. Deutsche Unternehmen und Unternehmer im Russischen Reich im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Essen 1998, S. 541-574.

 

Autoren: Brandes Detlef

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