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Bodenbesitz und Bodennutzung

Rubrik: Wirtschaftsgeschichte

Zemlevladenie i zemlepol´zovanie

 

            Die genauesten Angaben über den Landbesitz der Deutschen im nördlichen Schwarzmeergebiet und an der Wolga stammen aus den Berichten von 5 Revisoren, die 1890 in die Gouvernements Bessarabien, Cherson, Ekaterinoslav und Taurien sowie Saratov und Samara geschickt worden waren. Weitere Angaben zum Landbesitz siehe bei den Artikeln zu den einzelnen Regionen (Volyn´, Don, Zakavkaz´e, Zapadnaja Sibir´, Povol ´e, Pri ernomor´e, Severnyj Kavkaz).

            Im Wolgagebiet hatten die Kolonisten 198, in Neurußland 225 Dörfer auf Staatsland angelegt. Während sich jedoch die Zahl der neurussischen Kolonien durch die Gründung von Toch­terkolo­nien auf gekauftem und gepachtetem Land mehr als ver­vierfacht hatte, gab es in den Wolgakolonien in den letzten beiden Jahr­zehnten keine Neugründungen.

 

Tab. 1: Zahl der deutschen Kolonien 1890

 

Gouvernement    auf Anteilland   auf Eigenland     auf Pachtland    insges.

 

 

Cherson              43              90            109               242

Ekaterinoslav      53             137             54              244

Taurien             103             112             31               349

Bessarabien         26              15             43                84

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Neurußland        225             354            237             919

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Samara              140               -              -      140

Saratov               58               -              -        58

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Wolgagebiet      198               -              -                  198

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            Wenngleich die Mutterkolonien Neurußlands wesentlich volk­rei­cher waren als die Tochterkolonien, verteilten sich die knapp 300.000 Schwarzmeerdeutschen doch auf vier mal so viele Dörfer wie die über 400.000 Wolgadeutschen. Nur wenige deutschspra­chige Aus­länder hatte es an die ferne Wolga verschlagen, wäh­rend über 7.000 von ihnen in den neurussischen Kolonien Arbeit und Brot gefunden hatten.

 

Tab. 2: Landbesitz von Deutschen in Neurußland und im Wolgage­biet 1890 in Desjatinen

 

Gouvernement

Staatsland

Eigenland von Kolonisten

Privatland

Zwischen-summe

Pachtland

Summe

Ekaterinoslav

   96.998

 207.862

  233.191

  538.051

 98.834

  636.885

Taurien

  231.418

 242.533

  447.697

  921.648

102.447

1.024.095

Cherson

  192.033

 173.824

  285.666

  651.523

220.123

  871.646

Bessarabien

  135.099

  31.138

   45.093

  211.330

 85.112

  296.442

Summe

  655.548

 655.357

1.013.167

2.323.802

500.242

2.829.068

-15%

 

        1.418.245

2.073­.793

 

2.574­.035

Samara

  903­.047

 137.479*

 177.841

1.218­.367

 

1.218­.367

Saratov

  468­.695

  28.475*

  65.244

  562­.414

 

  562­.414

Wolgage­biet

1.371­.742

 165.954*

 243.085

1.780­.781

 

1.780­.781

 *gekauftes und gepachtetes Land

 

            Den Wolgadeutschen hatte die Regierung mit fast 1,4 Mio. Desjatinen mehr als doppelt so viel Staatsland zugewiesen wie den neurus­sischen Kolonien. Diese hatten jedoch bis 1890 ihren Landbe­sitz durch Käufe von Ländereien verdoppelt, auf denen sie Tochterkolonien anlegten. Die Wolgakolonien hatten dagegen ihren Landbesitz nicht um 100%, sondern nur um 12% vermehrt, wobei aus den Angaben des Revisors nicht klar wird, welchen Teil davon gepachtetes Land ausmachte. In Neurußland hatten einzelne Ko­lonisten nach den Angaben der Revisoren mehr als eine Million Desjatinen Pri­vatland erworben, vier mal so viel wie einzelne Wolgadeut­sche. Aus dem Vergleich dieser Angaben mit anderen zeitgenös­sischen Untersuchungen geht hervor, daß die Revisoren die Landkäufe der Deutschen einfach addiert haben, ohne Verkäufe von Deutschen an Deutsche oder Angehörige anderer ethnischer Gruppen abzuziehen. Selbst wenn man für diesen Fehler rund 15% in Rechnung stellt, hatte sich der Landbesitz der Schwarzmeer­deutschen seit der letzten Zutei­lung von Staatsland vervier­facht, derjenige der Wolgadeutschen dagegen nur um 30% zuge­nommen. Auf einen Hof mit durchschnitt­lich elf Familienmitglie­dern entfielen auf der Berg­seite, d.h. dem Westufer der Wolga 30, auf der Wiesenseite 39 Desjatinen. In den neurussischen Kolonien war der Landbesitz dagegen sehr unter­schiedlich verteilt: In den Gouvernements Ekaterinoslav und Taurien gab es 455 Deut­sche mit mehr als 100 Desjatinen, von denen 156 mehr als 1.000 Desjatinen und 26 mehr als 5.000 Desjatinen Privatland besaßen. Auch innerhalb der Kolonien, besonders in den noch auf Staats­land angelegten Mut­ter­kolonien standen den Großbauern oder Voll­wirten mit ihrem ur­sprünglichen Anteil von 60-65 Desjatinen sog. Halb- und Viertel­wirte sowie eine Klasse von Anwohnern, die nur über ihr Hofland ver­fügten, und von Landlosen ohne eigenen Hof gegen­über. Deren Zahl hatte sich durch die umfangreichen Land­käufe der vergan­genen 25 Jahre sowie durch die Auswande­rung beson­ders von Menno­niten nach Amerika zwar vermindert, umfaßte aber in den Gouver­ne­ments Bes­sarabien und Taurien immer noch 16%, im Gouvernement Ekaterinoslav 25% und im Gouvernement Cher­son sogar 67% der Bevölkerung.

            Die Gründe für diese unterschiedliche Entwicklung liegen vor allem in der unterschiedlichen Agrarverfassung. Die Wolgadeutschen hatten das russische mir-System übernommen. In ihren Kolonien hatte jeder wolgadeutsche Bauer ­Anspruch auf einen Land­anteil (obš innoe vladenie), der gemäß den regelmäßigen Umteilungen (peredel) auf die Familieneinheiten (tjaglo) oder die männlichen Seelen entfiel. Kein Vater war gezwungen, für den Kauf von Land für seine meist zahlreichen Nachkommen vorzusorgen. Zudem konnte ein Teil von ihnen den Anteil von Dorfgenossen pachten, die sich ausschließlich einem Handwerk widmeten. Die neurussischen Ko­lo­nisten hielten dagegen bis zur Reform von 1871 an der Ver­er­bung des gesamten Landanteils an einen Sohn fest (podvornoe vladenie). Die übrigen Söhne mußten auf eigenem oder gepachte­tem Land wirtschaften oder ein Handwerk lernen.

            Die Agrarordnung der Schwarzmeer- wie auch der Transkaukasus-Kolonisten unterschied sich jedoch von der Agrarordnung Westeuropas oder Nordamerikas. Jeder Wirt erhielt nämlich nur ein Grundstück im Dorf zu dauerndem Besitz, wo er sein Haus baute und seinen Garten anlegte. In der Nähe des Dorfes befand sich meist die gemeinsame Weide, zu der die Wirte einen Teil ihres Landanteils (nadel) beisteuern mußten. Das Ackerland und der Heuschlag, beide in den ersten Jahrzehnten von geringem Ausmaß, wurden in eine größere Anzahl von Gewändern oder Gewannen geteilt. In diesen Gewannen erhielt jeder Wirt ein Los. Dadurch erreichten die Kolonisten zwar eine gerechte Verteilung des unterschiedlich weit vom Dorf entfernten und unterschiedlich ertragreichen Landes, nahmen aber auch die Zersplitterung ( erespolosnost') ihrer Anteile in Kauf. In den 1880er Jahren besaßen die Großwirte in den meisten deutschen Kolonien sogar mehr Einzelfelder als ihre russisch-ukrainischen oder bulgarischen Nachbarn, bei den Mennoniten Tauriens zwischen 4 und 18, bei den übrigen Deutschen sogar zwischen 10 und 43.

            Die deutschen Kolonisten nahmen eine Neueinteilung des Gemeindelandes vor, wenn die Kolonie zu einem anderen Wirtschaftssystem überging wie z.B. von der Drei‑ zur Vierfelderwirtschaft. Seit den 1880er Jahren wurde häufig Weideland umgebrochen und dafür ein Ackerstreifen zur Weide bestimmt. Die Kolonisten der taurischen Festlandkreise nutzten die Gelegenheit zu einer pereverstka und zur Zusammenlegung ihrer zerstreuten Felder, um ihre neuen Maschinen besser einsetzen zu können. Neueinteilungen im Sinne von Flurbereinigungen gab es auch, wenn Einzelpersonen oder Gemeinden Land hinzukauften.

            Auch ohne einen solchen wirtschaftlichen Grund führten die Kolonisten pereverstki der Äcker und Wiesen kaum seltener durch als Russen und Ukrainer. Deshalb kann man davon ausgehen, daß die Kolonisten den Grundgedanken der ausgleichenden Gerechtigkeit der Umteilung von ihren Nachbarn übernommen hatten. Die deutschen Gemeinden der volost' Glückstal (Kreis Tiraspol') verlosten z.B. die Feldstücke noch in den 1880er Jahren alle drei Jahre, die Gemeinden Kassel und Hoffnungstal (ebenfalls Kreis Tiraspol') hatten die Neuverteilung auf bestimmte Gewannen beschränkt. Zur Durchführung der Umteilung wählte die Gemeinde zwei bis vier Personen, die die Felder neu absteckten. Die Lose wurden dann aus einem Hut gezogen.

            In den meisten Mennonitenkolonien Tauriens sei die pereverstka unbekannt, schrieb ein Revisor im Jahre 1890, doch werde sie in anderen praktiziert. In Neukirch liege die letzte Umteilung 40, in Muntau 20, in Blumenort acht Jahre zurück. In Liebenau und Rudnerweide werde das an die Höfe anschließende Ackerland von der Neuverteilung ausgenommen, doch der Rest recht häufig neu verlost. Ähnliche Unterschiede gebe es auf der anderen Seite der Molo naja. Das Land Waldorfs war seit 40, dasjenige Neu-Montals seit zehn Jahren nicht neu verteilt worden. In Neuhoffnung habe man früher alle 5‑6 Jahre umgeteilt, seit 1877 jedoch nicht mehr. Der Heuschlag wurde in Dörfern des Molo naer Kolonistengebiets sogar jedes Jahr neu verlost. In den deutschen Kolonien des Gouvernements Ekaterinoslav fanden Umteilungen dagegen selten statt.

            Neben ihren Ersparnissen standen den neu­russi­schen Kolonisten im Gegensatz zu den Wolgakolonisten kom­munale Finanzquellen für den Land­kauf zur Verfügung, nämlich das Wai­sen- sowie das Schäfereika­pital.

            In allen deutschen Bezirken gab es kommunale Kassen, die ent­sprechend dem Allerhöchst bestätigten Statut vom 21. Dezember 1859 errichtet worden waren. Sie sollten die Kolonisten mit billigen Krediten versorgen sowie die Waisengelder verwalten. Im Todesfall wurde das Vermögen des Verstorbenen auf einer Auktion versteigert, der Erlös in der Kasse ein- und bei Voll­jährigkeit des Waisen mit den inzwischen aufgelaufenen Zinsen ausgezahlt. Die Kassen gewährten für Einlagen 4% und nahmen für Kredite 6% Zin­sen. Aus der Differenz bildeten sie ein Reserve­kapital, das sich bis 1890 in Katharinenstadt auf 46.000 Rubel und in Schil­ling (Sos­novka) auf 52.000 Rubel vermehrt hatte.

            Die Kassen auf der Bergsei­te wurden nach Aussagen des Revisors hervorra­gend ge­führt und zahlten den Wai­sen ihre Einlagen korrekt aus. In den Kassen auf der Wiesenseite herrschte dagegen Unordnung. Wegen ihres geringen Bestandes konnten sie ihre Verpflichtungen ge­genüber den Waisen nicht erfüllen. Rechne man die gewährten Kredite der Kassen der volo­sti, d.h. der 1871 geschaffenen Amts­bezirke, zu den anderen Schulden, dann liege auf jedem Koloni­stenhof des Gouvernements Samara eine durchschnittliche Schuld von 197 Rubel, zu der noch Steuerrückstände von 13 Rubel kä­men.­

            Wegen des geringeren Werts der Holzhäuser der Wolgadeut­schen und ihres lebenden und toten Inventars erbrachten die Auktio­nen des Eigentums von Waisen weniger Einnahmen als die Ver­steigerung der Steinhäuser und des reichen Inventars der neu­russischen Koloni­sten. Die Mennoniten versteigerten nicht nur das bewegliche Eigentum der Waisen, sondern auch den Landan­teil des Erblassers. Dadurch kam in ihre Kassen mehr Geld als in diejenigen der Lu­theraner und Katholiken. Der Feuerversi­che­rungswert, d.h. die Kosten für Wiederaufbau und Neuausstat­tung einer wolgadeutschen Wirtschaft lagen bei rund 400 Rubel, der Wert von Haus und Inventar eines taurischen Kolonisten zwischen 2.000 und 2.500 Rubel, war also fünf- bis sechsmal so hoch. Die Versteigerung des 60-65 Desjatinen großen Landanteils eines mennoniti­schen Bauern erbrachte damals zusätz­lich mindestens 6.000 Rubel Deshalb konnten deutsche Kolonisten Neurußlands, besonders aber die Mennoniten mit Krediten aus der Waisenkasse Grund und Boden erwerben.

            Ihnen stand aber noch eine weitere Quelle für kommunale Kredi­te zur Verfügung: das sog. Schäfereikapital. Das in Parzel­len auf­geteilte Land der inzwischen aufgelassenen Gebietsschäfe­reien wurde nämlich an die Meistbietenden verpachtet; die Re­gierung hatte die widerstrebenden Großbauern gezwungen, die Pachteinnah­men der Finanzierung kommunaler Landkäufe für die Landlosen des jeweiligen Gebiets zu widmen. Indem die neurus­sischen Kolonien sofort nach dem Erwerb eines Grundstücks bei einer Bank eine Hypothek in Höhe der Hälfte des Kaufpreises aufnahmen, mußten Umsiedler aus den Altkolonien meist nur ein Zehntel der Kaufsum­me aufbringen. Einen solchen Pachtartikel besaßen weder die Gemeinden der Staatsbauern und der bulgari­schen Kolonisten noch der Wolgadeutschen. Deren kommunale Kassen vergaben keine langfristigen Kredite. Die Bauernboden­banken wiederum gewährten Kredite nur an russische Bauern.

            Die deutschen Großbauern Neurußlands konnten ihre Arbeits­kräf­te, d.h. die Familienmitglieder und die Bediensteten, die Zug­tiere und die Geräte und Maschinen wirtschaftlicher einsetzen als die wolgadeutschen Bauern, deren Saatfläche infolge der regelmäßigen Umteilung unter den immer zahlreicher werdenden Familien immer kleiner wurde. Eine Desjatine in der Hand eines Großwirts brach­te mehr ein als eine Desjatine im Besitz eines Kleinwirts. Da in den Schwarzmeerkolonien die Zahl der Fami­lien mit Anspruch auf Land gleich blieb, mußte die Gemeinde­flur nicht in so viele Streifen aufgeteilt werden wie in den Wolgakolonien mit ihrer größeren Bevölkerungszahl und ihrem Umteilungssystem: In der Kolonie Galka z.B. wurden fast 50.000 Streifen abgemessen und an die Familien entsprechend der Zahl ihrer männlichen See­len ver­geben. 30 km lagen zwischen den voneinander am weitesten ent­fernten Feldern jedes Bauern. Dies waren ungünstige Voraus­set­zungen für die Verbesserung des Ackerbaus. Die Mehrfelder­wirt­schaft mit geregeltem Fruchtwechsel und einjähriger Brache über­nahmen die ersten wolgadeutschen Kolonien von den benach­barten Mennoniten erst in den 1880er Jahre, die meisten deut­schen Kolo­nien Neurußlands dagegen drei bis zwei Jahrzehnte früher.

            Die Unterschiede in der wirtschaftlichen Entwicklung beider Gebiete waren groß. Die Umteilungsgemeinde der Wolgadeutschen verlangsamte, das Anerbenrecht der Schwarzmeerdeutschen be­schleunigte die soziale Differenzierung im Dorf. Als die Span­nungen zwischen den Klassen der Großbauern und der Landlosen den sozialen Frieden in den Kolonien bedrohten, griff die Re­gierung ein und wies die Kolonien auf den Ausweg von kommuna­len Landkäu­fen. Ein weiterer Unterschied sollte aber nicht übersehen wer­den: Die vergleichsweise kompakte wolgadeutsche Siedlung erschwerte den Kauf und die Pacht von Land in der näheren Umge­bung. Hier fanden sich allenfalls Staatsbauerndör­fer, die eben­falls kein überflüssiges Land besaßen, sowie auf der Wiesenseite große staatliche Ländereien. Diese verpachtete das Domänenmini­sterium aber lieber an wohlhabende Kaufleute als an Bauern mit zweifelhafter Zahlungsfähigkeit. Die neu­russischen Kolonisten kauften oder pachteten zusätzliches Land fast ausschließlich bei adligen Gutsbesitzern ihres Kreises oder Gouvernements sowie in Taurien bei ihren muslimischen Nachbarn, den Nogajern und Tata­ren.

            Sowohl die Kolonisten an der Wolga wie auch die Kolonisten des Schwarzmeergebiets und Transkaukasiens exportierten ihre traditionelle Agarordnung in die Tochterkolonien. Deshalb wurde z.B. in Westsibirien, im Uralgebiet und im Nordkaukasus je nach der Herkunft der Umsiedler die obš innoe oder podvornoe zemlepol´zovanie praktiziert.

 

Literatur

Brandes D.: Von den Zaren adoptiert. Die deutschen Kolonisten und die Balkansiedler in Neurußland und Bessarabien 1751-1914. München 1993.

Autoren: Brandes Detlef

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