OSTSEEPRIVILEGIEN, in den Jahren 1710-1783 und 1795-1889 in den Ostseeprovinzen des Russischen Reiches geltende Sonderrechte und Privilegien, die in den 1710 von den Städten Riga, Reval, Dorpat und Pernau gegenüber den russischen Truppen unterzeichneten Kapitulationsurkunden festgehalten wurden. In den mit der Ritterschaft vereinbarten sogenannten „Akkordpunkten“ versprach der russische Staat folgendes: Beibehaltung der für den Adel und die städtischen Patrizier günstigen schwedischen Gesetzgebung; Aufrechterhaltung des lutherischen Glaubensbekenntnisses, Aufbau nach Konsistorien, Patronat der Gutsbesitzer über die Pfarrkirchen, Wahl und Anstellung der Pastoren gemäß den Vorstellungen der Ritter und Stadtbürger; Wiederherstellung des 1694 abgeschafften Landratskollegiums, Beibehaltung der Immunität der aus „Eingeborenen deutscher Nation“ bestehenden Gerichte; Rückgabe der aufgrund der Reduktion enteigneten Landgüter. Die Ritterschaft bat um Aufnahme in den russischen Staatsdienst, was in Punkt 11 der „Akkordpunkte“ formuliert war: „Der Adel und die Landeseingeborenen sollen ein Vorzugsrecht haben bei der Einstellung zu allen Civil- und Kriegsämtern“. Am 30. September 1710 bekräftigte Peter I. in seinem Freibrief für den Livländischen Adel in feierlicher Form diese in den „Akkordpunkten“ festgehaltenen Rechte.
Die Autonomie der Ostseeprovinzen wurde abgesehen von der regelmäßigen Bestätigung der Privilegien auch dadurch bekräftigt, dass in Sankt Petersburg eigene für die Belange der Region zuständige Ämter bestanden: das Kollegium für Livländische und Estländische Angelegenheiten, das in den Jahren [1719]-1739 und 1742-[1833] bestand und in den Jahren 1762-1812, als auch das Gouvernement Wyborg seiner Jurisdiktion unterstand, Justizkollegium für Livländische, Estländische und Finnische Angelegenheiten hieß, sowie das Kammer-Kontor für Livländische und Estländische Angelegenheiten, das in den Jahren [1736]-1739 und 1742-1799 bestand und von 1762 an Kammer-Kontor für Livländische, Estländische und Finnische Angelegenheiten hieß. Im Jahr 1739 wurden die beiden Ämter zum Gemeinsamen Kollegium für Livländische und Estländische Angelegenheiten zusammengefasst, das bis 1741 bestand. In den Jahren 1763-1805 bestand zudem beim Dritten Departement (Kassation) des Senats die Livländische Expedition, bei der das Baltikum betreffende Fälle eingingen.
Innerhalb der lokalen Adelsverwaltung der Ostseegouvernements stellte der von den Gouverneuren bzw. Generalgouverneuren einberufene Landtag das Hauptorgan dar, dem Repräsentanten der Ritterschaft angehörten. In die Kompetenz des Landtags fielen: Erörterung der Vorschläge der Zarenregierung, Wahl der Richter, Landräte und sonstigen Amtsträger, Festsetzung der Höhe von Abgaben und Steuern, Entscheidung der die Verwaltung des Gouvernements betreffenden Fragen. Die Landtage wurden in Livland einmal pro Jahr und in Estland einmal in drei Jahren sowie bei Bedarf einberufen. Der Kurländische Landtag war im Unterschied zum Livländischen keine allgemeine Adelsversammlung, sondern vereinte nach Kirchspielen gewählte Adlige. Die Landtage waren nicht der Verwaltung der Gouverneure bzw. Generalgouverneure unterstellt.
In der zwischen den Landtagen liegenden Zeit wurden die laufenden Angelegenheiten des Adels vom Landratskollegium entschieden. Die dem Adelsmarschall in den russischen Gouvernements vergleichbaren Ämter waren in Livland der Landmarschall und in Kurland und Estland der Ritterschaftshauptmann.
Auf den Landtagen wurden nicht nur überaus wichtige innere Angelegenheiten der Provinzen entschieden, sondern auch die folgenden der Ritterschaft entstammenden Amtsträger der örtlichen Selbstverwaltung gewählt:
In Livland (fünf Landgerichte - in Riga, Wenden, Dorpat, Pernau und Ösel): Landständische und Adelsselbstverwaltung: Landmarschall, zwölf Landräte, acht Revisoren der Ritterkasse, Ritterschaftssekretär und Notar der Ritterschaft. Gerichtsverwaltung: zwei Assessoren des Livländischen Hofgericht, Sekretär der für bäuerliche Angelegenheiten zuständigen Abteilung des Hofgerichts, vier Landrichter, vier Assessoren der und vier Sekretäre der Landgerichte, vier Vorsitzende und acht adlige Beisitzer (Assessoren) der Bezirksbauerngerichte, vier Sekretäre der Bezirksgerichte, 27 Richter der Pfarrgerichte. Kirchenverwaltung: ein weltliches Mitglied des Generalkonsistoriums, Präsident des Konsistoriums, zwei weltliche Beisitzer des Livländischen Provinzial-Konsistoriums, Oberkirchenvorsteher und zwei weltliche Beisitzer des Hauptkirchenkuratoriums. Polizeiverwaltung: acht Ordnungsrichter, acht Adjunkte der Ordnungsrichter und acht Notare der Ordnungsrichter. Insgesamt 112 Personen.
Auf Ösel: Landständische und Adelsselbstverwaltung: Landmarschall, vier Landräte, Ritterschaftssekretär, zwei Kassen-Revisoren; zwei Kassen-Deputierte, sechs Konvents-Deputierte. Gerichtsverwaltung: Assessor des Livländischen Hofgerichts, Landrichter, Assessor des Landgerichts, Sekretär des Landgerichts, Vorsitzender, zwei adlige Beisitzer und ein Sekretär des Kreisgerichts, drei Richter des Gemeindegerichts und ihre Ersatzleute, Sekretär des Landratskollegiums für bäuerliche Angelegenheiten, Ordnungsrichter und dessen Adjunkt, Notar des Ordnungsgerichts. Kirchenverwaltung: weltliches Mitglied des Generalkonsistoriums, Präsident des Konsistoriums, zwei weltliche Beisitzer des Konsistoriums, Oberkirchenvorsteher, zwei weltliche Beisitzer des Hauptkirchenkuratoriums. Insgesamt 38 Personen.
In Estland: Landständische und Adelsselbstverwaltung: Ritterschaftshauptmann, 13 Landräte, zwölf Kreisdeputierte, vier Ritterschaftssekretäre und Auskultatoren; zwei Revisoren der Adelskasse. Gerichtsverwaltung: ein Sekretär des Niederlandgerichts, drei Mahnrichter, 5-6 Assessoren der Mahngerichte; drei Vorsitzende, sechs Assessoren und drei Sekretäre der Kreisbauerngerichte. Polizeiverwaltung: zwölf Hakenrichter (Ordnungsrichter). Insgesamt 66 Personen.
In Kurland: Adelsselbstverwaltung: fünf (1814-66) bzw. drei (1866-1920) residierende Kreis-Adelsmarschalle, elf Kreis-Adelsmarschalle (in den Jahren 1796-1817 dreizehn), mindestens 20 Bevollmächtigte der Gemeinden, Ritterschaftssekretär, Archiv-Sekretär, Adels-Kämmerer, zwei Actuarii (Gerichtsschreiber) der Ritterschaft. Gerichtsverwaltung: vier Oberräte des Oberhofgerichts (Landmarschall, Landhofmeister, Kanzler und Oberburggraf), sechs Oberhauptmänner, zwölf Assessoren der Oberhauptmanngerichte, zehn Vorsitzende der Kreisbauerngerichte. Polizeiverwaltung: zehn Hauptmänner, 20 Assessoren der Hauptmanngerichte. Insgesamt 123 Personen.
Ein Privileg der in die Matrikel eingetragenen Ostsee-Adligen bestand darin, dass sie die ihre Adelszugehörigkeit belegenden Dokumente in einem vereinfachten Verfahren beim Departement für Heraldik des Regierenden Senats einreichen konnten. Während die russischen Adligen verpflichtet waren, Dokumente über ihren Gutsbesitz, Kopien ihrer Dienstlisten, Rang- und Ordenspatente usw. vorzulegen, wurde von den Adligen in Estland, Livland und Ösel lediglich eine Bescheinigung der Landräte und in Kurland ein Auszug aus den Büchern des Adelskomitees samt Ahnentafel in russischer und deutscher Sprache sowie eine Geburts- und Taufurkunde verlangt.
Am 3. Juli 1783 hob Zarin Katharina II. die Ostseeprivilegien per Erlass auf und ordnete an, in den Ostseeprovinzen die gleichen Ämter und Posten einzuführen, die auch im Gouvernements-Statut von 1775 festgelegt waren. Die regionale und städtische (Selbst-)Verwaltung wurde den im ganzen Reich geltenden Regeln angeglichen, die Adels-Matrikel wurden abgeschafft durch Stammbücher ersetzt, die für alle zugänglich waren, die sich nach der Rangtabelle in den russischen Adel gedient hatten. Anstelle der früheren Landabgaben wurde eine für die Bauern zu entrichtende Kopfabgabe eingeführt. Parallel wurden in den übrigen russischen Gouvernements adlige Stammbücher nach dem Vorbild der Ostseematrikel eingeführt.
Zar Pawel I. stellte das eigenständige Verwaltungssystem der Ostseeprovinzen wieder her. Endgültig abgeschafft wurde es von Alexander II. im Jahr 1889.