NKWD-LAGER TAGIL, Bauorganisation des NKWD-MWD Tagil, Besserungsarbeitslager Nischni Tagil.
Das Besserungsarbeitslager Tagil wurde am 27. Januar 1942 eingerichtet und diente vor allem dem Bau des Eisen- und Stahlkombinats und der Kokerei Nischni Tagil sowie weiterer Objekte der Grubenwirtschaft. Es bestand bis zum 29. April 1953 und war der Hauptverwaltung der Lager für Industriebau des NKWD unterstellt. Hauptstandort des Lagers war die im Gebiet Swerdlowsk gelegene Stadt Nischni Tagil. Der Bau des Lagers begann im Februar 1942.
Die Chefs der Lagerverwaltung des Besserungsarbeitslagers Tagil waren Obermajor der Staatssicherheit (Generalmajor des Ingenieurtechnischen Dienstes) Jakow Dawydowitsch Rapoport (27. Januar 1942 bis 30. Mai 1943), Generalmajor des Ingenieurtechnischen Dienstes Michail Michailowitsch Zarewski (30. Mai 1943 bis 14. Dezember 1945), Oberst E.Je. Schwarz (24. April 1946 bis 1. Oktober 1951) sowie Oberst W.I. Lewenok und Oberleutnant Iwanow (9. November 1951 bis 1953).
Bei den meisten beim Bau des Lagers und des Eisen- und Stahlwerks Nischni Tagil eingesetzten Arbeitskräften handelte es sich um Arbeiter der Bauorganisation Wolga des NKWD sowie Insassen des NKWD-Lagers Wolga. Nach Stand zum 10. Februar 1942 waren 5.250 der insgesamt 13.500 von der Bauorganisation des Eisen- und Stahlwerks Nischni Tagil eingesetzten Arbeiter Strafgefangene.
Neben Strafgefangenen aus der Besserungsarbeitskolonie Nr. 4 (Nischni Tagil) und dem Lager Wolga wurden im Besserungsarbeitslager Tagil auch zwangsrekrutierte Deutsche eingesetzt. Am 17. Februar 1942 kam an der unweit von Nischni Tagil gelegenen Bahnstation Smytschka der erste „deutsche Transport“ an. Im Frühjahr 1942 wurden zahlreiche Sowjetdeutsche aus Swerdlowsk und Kamensk-Uralski nach Nischni Tagil gebracht, die bis zu ihrer zwangsweisen Entfernung aus dem Dienst in der Roten Arbeiter- und Bauernarmee gekämpft hatten. Unter ihnen waren Vertreter der unteren, mittleren und sogar höheren Kommandoebene sowie einfache Soldaten.
In und unweit der Stadt wurden Anfang 1942 drei aus Sowjetdeutschen bestehende Sondertrupps zusammengestellt: Abteilung Nr. 18-74 (in der Stadt selbst), Abteilung Nr. 18-75 (in der zwanzig Kilometer von Nischni Tagil entfernt gelegenen Siedlung Kamenka) und Abteilung Nr. 18-76 (deren genauer Standort nicht bekannt ist). In der Zeit zwischen Herbst 1942 und Frühjahr 1943 stand die Abteilung Nr. 18-75 infolge einer extrem hohen Mortalitätsrate kurz vor der Auflösung und wurde für einige Zeit mit der Abteilung Nr. 18-74 zusammengelegt. Später wurde die Abteilung nach Ufa verlegt, wo sie im sogenannten Baschkirischen Unterlager des Lagers Tagil bei der Heumahd und bei landwirtschaftlichen Arbeiten eingesetzt wurde.
Neben der Verrichtung schwerer körperlicher Arbeit, bei der die Mehrheit der zwangsrekrutierten Russlanddeutschen zum Einsatz kam, wurden die Mobilisierten oft auch als Konstrukteure, Ingenieure, Bauleiter sowie in der Verwaltung und in Labors eingesetzt, was der Tatsache geschuldet war, dass es unter ihnen zahlreiche hochqualifizierte Spezialisten gab. So waren in der Ziegelei und in anderen Bereichen z.B. der Archäologe und Professor der Staatlichen Moskauer Universität Otto Bader, der 1934 vor den Nazis geflohene Chemiker und Mineraloge Paul Rückert, der Mathematiker und spätere Mitbegründer der sowjetischen Raketentechnik Boris Rauschenbach, der Elektrochemiker Armin Stromberg sowie bekannte Mediziner wie der Chirurg Theodor Grasmück, der Radiologe G. Heinrichsdorf und die Ärzte W.E. Rung, W.R. Sommer und O.W. Michelson tätig. Vor diesem Hintergrund war es nur folgerichtig, dass in diesen Jahren im Lager die sogenannte „Kleine Akademie“ entstand, in der herausragende Wissenschaftler ihr Wissen mit ihren Mithäftlingen teilten. Ende 1942 erreichte die Zahl der Häftlinge mit insgesamt 43.000 Personen ihren Höchststand.
Aufgrund eines Beschlusses des Staatlichen Verteidigungskomitees vom 19. April 1943 kamen 13.712 Wehrpflichtige aus Mittelasien (Militärbezirk Mittelasien) und 5.000 polnische Sondersiedler in das Besserungsarbeitslager, die dort als „freie Arbeitskräfte“ eingesetzt wurden.
Nach Stand zum 15. Mai 1943 war das Besserungsarbeitslager Tagil in insgesamt 18 Standorte und 26 Abschnitte unterteilt, die sich sowohl an der Baustelle des Eisen- und Stahlwerks Nischni Tagil als auch außerhalb in einem Umkreis von 30 bis 200 Kilometer befanden.
Bis 1946 war das Lager Tagil in zahlreiche auf verschiedene Standorte verteilte Abschnitte unterteilt, die an bestimmte Produktionseinheiten gebunden waren. Es gab eigene Abschnitte für Bauarbeiten, Holzgewinnung (die in Jaswa und Reschi gelegenen Teillager Nr. 9 und Nr. 14) und landwirtschaftliche Arbeiten (das in Petrokamensk gelegene Teillager Nr. 11), die ausschließlich der Aufrechterhaltung des Lagerbetriebs dienten, ein eigenes in Tschernoistotschinsk angesiedeltes Lager für entkräftete und arbeitsunfähige Häftlinge sowie eigene Eisenbahn- und Frachtbereiche. Die wichtigsten Teilbereiche waren die für die Errichtung und Inbetriebnahme der Schlüsselobjekte des Eisen- und Stahlwerks Nischni Tagil zuständigen Baulager, von denen die Teillager Nr. 1 und Nr. 2 die größten waren, deren Insassen beim Bau der Kokerei und des Hochofens zum Einsatz kamen. Das Teillager Nr. 3 baute das Heizkraftwerk. Das Teillager Nr. 4 wurde beim Bau einer Fabrik für feuerfeste Materialien eingesetzt. Die Insassen der Teillager Nr. 5. und Nr. 6 stellten die in den Metallbaubetrieben Nr. 1 und Nr. 2 und im Kraftfahrzeugreparaturwerk sowie beim Bau der Gießerei und des Walzwerks des Stahlwerks Nischni Tagil eingesetzten Arbeitskräfte. Die Strafgefangenen des Teillagers Nr. 7 wurden beim Bau des Eisenbergwerks und des Agglomerations- und Granulierungskombinats in Wyssokogorsk, des an der Oberen Wyja errichteten Staudamms sowie der örtlichen Wasserleitung eingesetzt.
Einige Zeit gehörte auch das in Tula gelegene Teillager Nr. 15 zum Lager Tagil, unter dessen Insassen zahlreiche zwangsrekrutierte Deutsche waren, die bei der Demontage des Hochofens in Nowaja Tula eingesetzt wurden, der anschließend nach Nischni Tagil gebracht werden sollte. Aufgrund der Anordnung des Rats der Volkskommissare der UdSSR vom 19. Januar 1946 und dem gemeinsamen Befehl des NKWD , des Volkskommissariats für Bauprojekte der Schwerindustrie und des Volkskommissariats für Stahl- und Buntmetallhüttenwesen vom 23. Februar 1946 wurde der Bau- und Lagerkomplex Tagil in die dem Volkskommissariat für Bauprojekte der Schwerindustrie unterstellte Bauorganisation Tagil und das der Hauptlagerverwaltung des NKWD unterstellte Lager Tagil aufgeteilt.
Art der Arbeitseinsätze
Auf den folgenden Baustellen verrichteten die Häftlinge des Lagers Tagil 50-100 % der geleisteten Arbeit: Siemens-Martin-Ofen Nr. 4 und Nr. 5, Hochofen Nr. 3, Bessemeranlage, Schienenwalz-, Guss-, Walz- und Blockwalzwerk des Stahlwerks Nischni Tagil; Sinteranlage; Staudamm an der Oberen Wyja; Kalkgrube Nord-Lebaschje, Klub und Verwaltungsgebäude des Wyssokogorsker Eisenbergwerks; Kokereien Nr. 3 und Nr. 4, Rektifikationsanlage und andere Objekte der kokschemischen Produktion; Zement- und Faserzementfabrik; Neue Ziegelei; Stahlbaufabrik Nr. 2 und Nr. 3, Hoffmannsche Ringöfen Nr. 3 und 4 der Fabrik für feuerfeste Materialien; Bau von in der Stadt gelegenen Wohnhäusern, eines Panzerübungsplatzes sowie der Zufahrtsstraßen zur Ural-Waggonfabrik; Metalllager des Hauptmetallvertriebs und Fachschule für Berg- und Hüttenwesen; Bergverwaltung Blagodat. Hinzu kam die Holzgewinnung an den Flüssen Jaswa, Kamenka, Winowka, Sinegorsk und Serebrjanka sowie der Einsatz in Produktions- und Werkstätten, die der Aufrechterhaltung des Lagerbetriebs dienten.
Im Lager Tagil wurden die Arbeitsmobilisierten der Sonderabteilung Nr. 18-74 vor allem in Hilfs- und Zuliefererbetrieben wie der Ziegelei, der Schottergrube „Saitora“, der Sandgrube „Schaitanka“, dem Holzverarbeitungskombinat, dem Metallbaubetrieb Nr. 2, dem Maschinen- und Reifenreparaturwerk, dem Armaturenhof sowie dem Zement- und Asphalt-Kombinat eingesetzt.
Entkräftete und arbeitsunfähige Arbeitsarmisten wurden in das Teillager Tschernoistotschinsk verlegt, wo sie landwirtschaftliche Arbeiten in den zum Lager Tagil gehörigen Versorgungswirtschaften in Schilowka und Petrokamensk (Rayon Prigorodny, Gebiet Swerdlowsk) sowie in den Sowchosen Aksaricha (Rayon Kamyschlow), Tamakul (Rayon Dalmatowo, Gebiet Kurgan) und Baschkirski (Rayon Abselilowski, Baschkirische ASSR) verrichteten und später auch im Unterlager Magnitogorsk zur Heumahd eingesetzt wurden.
Arbeitsmobilisierte wurden auch beim Fischfang im Autonomen Kreis Chanty-Mansijsk und bei der Demontage des Hochofens in Tula eingesetzt. Eine Sonderstellung nimmt in dieser Aufzählung die sogenannte „Hochofen“-Kolonne (9. Kolonne) des Bautrupps Nr. 18-74 ein, die 1943 aus den qualifiziertesten Arbeitern und Ingenieuren zusammengestellt wurde, um in Form des Hochofens Nr. 3 das Herzstück des Eisen- und Stahlwerks Nischni Tagil zu errichten.
In den Jahren 1942-53 durchliefen insgesamt über 187.000 Häftlinge das Lager Tagil. In den Jahren 1942-46 kamen laut den in der Elektronischen Datenbank enthaltenen personenbezogenen Angaben insgesamt 95.765 Strafgefangene und 7.249 Arbeitsmobilisierte in das Besserungarbeitslager, unter denen wiederum 6.511 Deutsche waren, so dass die Arbeitsmobilisierten etwa 7 % der insgesamt 103.014 Häftlinge stellten. Bei den genannten Zahlen ist zu berücksichtigen, dass durch Verlegung und Rückkehr bedingte Doppelzählungen bislang nicht herausgerechnet wurden.
In den Jahren 1942-45 kamen in den Lagern über 20.000 Strafgefangene und Arbeitsmobilisierte ums Leben, wobei in den Jahren 1942-43 mit jährlich etwa 20% die höchste Mortalitätsrate zu verzeichnen war. Allein 1943 starben im Besserungsarbeitslager 7.090 Personen, was 21% der Gesamtzahl der Gefangenen ausmachte. Dabei bildeten durch Mangelernährung hervorgerufene Krankheiten wie Dystrophie und Pellagra mit insgesamt 5.257 Fällen die mit Abstand häufigste Todesursache. 1942 hatte das Lager Tagil mit insgesamt 10.640 Opfern (32% der durchschnittlichen Belegungsstärke) in absoluten Zahlen die meisten Todesfälle in der Region zu beklagen. Im Zeitraum von 1942 bis 1946 starben insgesamt 630 Arbeitsmobilisierte (9,7%) und 19.101 Strafgefangene (20%). 8,4% aller Arbeitsmobilisierten wurden infolge von Auszehrung und Arbeitsunfähigkeit und weitere 3% ohne Angaben von Gründen demobilisiert. 5,1% wurden verhaftet. Für 9,1% liegen keine Angaben vor.
Zahl der Häftlinge des Besserungsarbeitslagers 1942-45
Jahr |
Zahl der neu ins Lager gekommenen Strafgefangenen |
Zahl der neu ins Lager gekommenen Arbeitsmobilisierten |
Abgänge an Arbeitsmobilisierten absolut/ in Prozent
|
Verstorbene Arbeitsmobilisierte absolut/ in Prozent% |
1942 |
67522 |
4127 |
618/ 15% |
etwa 300/ 48,5% |
1943 |
21037 |
1914 |
806/ 14,3% |
244/ 30,3% |
1944 |
2161 |
227 |
552/ 10,9% |
72/ 13% |
1945 |
5045 |
401 |
keine Angaben |
keine Angaben |
1946 |
|
11 |
335 |
9/2,7 |
Arbeitsmobilisierte im Lager Tagil 1942-45
Insgesamt |
Verstorbene absolut (in %) |
wegen Arbeitsunfähigkeit Demobilisierte |
ohne Angaben von Gründen Demobilisierte |
Verhaftete bzw. Verurteilte |
ohne Angaben |
7.249 davon 6511 Deutsche |
695 (10,7%) davon 630 Deutsche (9,7%) |
547 Deutsche (8,4%) |
193 Deutsche (3%) |
333 Deutsche (5,1%) |
590 Deutsche (9,1%) |
Das Kontingent der zur Arbeit mobilisierten Deutschen bestand vor allem aus Personen, die von der Wolga oder aus der Ukraine nach Sibirien und Kasachstan deportiert worden waren, bereits vor dem Krieg im Ural oder in Sibirien gelebt hatten oder aufgrund von Anordnung Nr. 3860 des Staatlichen Verteidigungskomitees vom 19. August 1943 aus dem Gebiet Omsk und der Region Krasnojarsk mobilisiert wurden. Im Frühjahr und Sommer 1942 kamen zudem frühere deutsche Wehrdienstleistende in das Besserungarbeitslager, die zuvor im Ural in den im Landesinneren eingesetzten Baubrigaden tätig gewesen waren.
Aufteilung nach Geburtsort: 53,7% der zur Arbeit Mobilisierten kamen aus dem Wolgagebiet, 15,4% aus der Ukraine, 7,7% aus dem Nordkaukasus, 5,6 % aus Kasachstan, 5,1 % aus Transkaukasien, 2,8% aus dem Norden und Nordwesten des europäischen Landesteils (vor allem aus dem Gebiet Leningrad), 1,9% aus Westsibirien, 1,4 % aus Regionen, die außerhalb der Grenzen der UdSSR von 1941 lagen, sowie weniger als ein Prozent aus den Regionen Fernost und Ostsibirien, aus dem Ural, Weißrussland, dem Baltikum, Zentralrussland, der Zentralen Schwarzerde-Region, der Wolga-Wjatka-Region oder Mittelasien.
Aufteilung der Arbeitsmobilisierten nach Nationalitäten: Etwa 90% aller Mobilisierten waren Deutsche. Hinzu kamen 1 % Finnen, 0,8 % Russen und 0,4 % Polen sowie unter anderem Juden, Balten, Ukrainer, Italiener, Österreicher, Rumänen, Ungarn, Bulgaren und Tschechen.
1.008 der zur Arbeit mobilisierten Deutschen waren Frauen. In Nischni Tagil wurde das Sondersiedlungsregime ein wenig später als in anderen Regionen der Sowjetunion eingeführt. Erst im März 1946 wurde aus dem Lager Tagil die Bau- und Montageorganisation „Tagilstroi“ ausgegliedert, in deren Stammbelegschaft fast alle der zu diesem Zeitpunkt 4.392 früheren Arbeitsmobilisierten übernommen wurden.