DEUTSCHES VOLKSLIEDARCHIV IN LENINGRAD, von Viktor Schirmunski zusammengetragene und heute in St. Petersburger Archiven verwahrte Sammlung deutscher Lieder und Balladen, die in den Jahren 1926-30 in den deutschen Kolonien der UdSSR aufgenommen wurden.
Bestand und Struktur der Sammlung
Das Deutsche Volksliedarchiv in Leningrad umfasst eine systematische Sammlung hand- und maschinenschriftlich festgehaltener Liedtexte sowie auf verschiedenen Tonträgern (Phonographenwalzen und Wachsplatten) oder in Notenform aufgezeichneter Melodien sowie Kataloge dieser Texte und Melodien. Die Texte sind mit einer Angaben zu Gattung (Großbuchstaben von А bis O), Motiv und Variante des Liedes enthaltenden Signatur sowie einer Inventurnummer versehen und enthalten zudem Angaben zu Alter und Wohnort (Kolonie) des Vortragenden, zum Zeitpunkt der Aufzeichnung sowie zum für die Aufnahme verantwortlichen Forscher. Die Phonographenwalzen, Wachsplatten und Notationen sind mit Angaben zu Ort und Zeit der Aufzeichnung sowie zum Vortragenden des Liedes versehen.
Das Deutsche Volksliedarchiv wird heute größtenteils im Institut für Russische Literatur (Puschkin-Haus) der Russischen Akademie der Wissenschaften verwahrt, wobei die Tondokumente (Sammlung der Phonographenwalzen, Wachsplatten und Notationen), die Kataloge (Karteikarten) und das entsprechende Begleitmaterial im Phonographischen Archiv der Folklore-Abteilung und die Textdokumente (hand- und maschinenschriftliche Texte, Kataloge) in der Handschriftenabteilung enthalten sind („Sammlung“ Nr. 104 des Akademiemitglieds W.M. Schirmunski (deutsche Kolonisten). 1926-1930“).
Im Einzelnen werden im Phonographischen Archiv des Instituts für Russische Literatur 90 Phonographenwalzen mit insgesamt 312 Liedern (in der Regel die ersten Strophen) sowie 321 Wachsplatten mit insgesamt 694 Liedern verwahrt, zusammen also über 1.000 Melodien. Hinzu kommen 550 Karten mit Notationen der auf den Wachsplatten aufgezeichneten Lieder, zahlreiche weitere Notationen von Melodien sowie diverse Textdokumente (Karteikarten, Kataloge und Expeditionshefte).
Die in der Handschriftenabteilung verwahrte Sammlung Nr. 104 besteht aus 49 Mappen, die wiederum 9.597 Dokumente bzw. 10.325 Blätter enthalten. Den Kern dieser Sammlung bilden etwa 4.000 maschinenschriftlich festgehaltene Textvarianten von Liedern.
Da Schirmunski in seinem 1933 verfassten Abschlussbericht von insgesamt 3.940 Texten und etwa 1.000 Melodien spricht, ist davon auszugehen, dass die heute im Puschkin-Haus verwahrten Dokumente das gesamte bei den Expeditionen zusammengetragene Folklorematerial darstellen. Darüber hinaus wird ein Teil des ursprünglichen Liedarchivs in der St. Petersburger Zweigstelle des Archivs der Russischen Akademie der Wissenschaften verwahrt (Fond 1001, persönlicher Bestand Schirmunskis).
Die insgesamt etwa 4.000 Liedvarianten verteilen sich auf verschiedene Genres, die sich wiederum in zahlreiche Motivgruppen unterteilen lassen. So enthält die Gruppe A (Alte Balladen) 46 Nummern und 407 Textexemplare, die Gruppe B (Neue Balladen) 112 Nummern und 384 Textexemplare und die Gruppe D (Liebeslieder) 214 Nummern und 657 Textexemplare. Insgesamt enthält die Textsammlung etwa 1.200 Liedvarianten, die sich auf 14 Genres verteilen. Auch mit Blick auf die einzelnen deutschen Siedlungsgebiete ist die Sammlung repräsentativ: 1.730 Varianten wurden in der Ukraine aufgezeichnet, 550 auf der Krim, 330 in Transkaukasien, 900 im Gebiet Leningrad und 430 im Wolgagebiet.
Geschichte des Aufbaus der Sammlung
Von Sommer 1926 an unternahm der Professor der Universität Leningrad Viktor Schirmunski zusammen mit seinen Schülern und Kollegen zweimal im Jahr jeweils in den Sommer- und Winterferien Expeditionen in die in den Gebieten Leningrad und Nowgorod, in der Ukraine, in Moldawien sowie auf der Krim und in Transkaukasien gelegenen deutschen Kolonien, wodurch nahezu alle im europäischen Teil der Sowjetunion gelegenen größeren deutschen Siedlungsgebiete abgedeckt waren.
Die komplex angelegten Expeditionen dienten laut Schirmunski dem Ziel, „Geschichte, Dialekte, Folklore und Ethnographie“ der Kolonien zu erforschen, um die Perspektiven einer nationalen Selbstbestimmung zu klären. Beim Sammeln des Expeditionsmaterials stützte sich Schirmunski auf ortsansässige Heimatkundler und Dorfschullehrer.
Ein Teil der Expeditionsarbeit bestand darin, musterhafte Bespiele der Folklore und insbesondere des Liedguts der deutschen Kolonisten zu dokumentieren. Dafür nutzten die Expeditionsteilnehmer nicht nur „handgemachte“ Aufzeichnungen von Texten und die ihnen überlassenen handgeschriebenen Liederbücher, sondern zeichneten die Melodien auch mit Hilfe von Phonographen und Grammophonen auf (meist die ersten Strophen eines Liedes).
Das im Zuge der Expeditionen zusammengetragene Folklorematerial bildete den Grundstock des von Schirmunski aufgebauten Archivs, das auch einige vor allem aus dem Wolgagebiet stammende Liedtexte enthält, die Schirmunski von anderen Forschern zur Verfügung gestellt wurden. Die von den Fahrten mitgebrachten Texte wurden auf der Schreibmaschine in mehreren Exemplaren abgeschrieben und systematisiert. Die Melodien wurden in Notenschrift übertragen, in (systematischen und geographischen) Katalogen erfasst und mit den bekannten deutschen Liedsammlungen (Erk-Böhme; Schünemann) abgeglichen.
In den 1920er-1930er Jahren war Schirmunski am Staatlichen Institut für Kunstgeschichte und von 1930 an auch im Institut für Sprachkultur tätig. Als Schirmunski 1935 die Leitung der West-Abteilung des Instituts für Russische Literatur (Puschkin-Haus) übernahm, verlegte er einen großen Teil seines Liedarchivs dorthin. 1930 stellte Schirmunski die in den deutschen Kolonien geleistete Arbeit angesichts der sich verändernden politischen Rahmenbedingungen ein und veröffentlichte 1933 in der Zeitschrift „Sowjetische Ethnographie“ eine letzte Abschlusspublikation. Schirmunskis weitere Forschungstätigkeit hatte praktisch nichts mehr mit seiner vorherigen Arbeit zu tun. Seine engsten Mitarbeiter Ellinor Johanson und Alfred Ströhm, die ihn auf vielen Expeditionen begleitet hatten, wurden repressiert und kamen ums Leben.
Publikationen Schirmunskis
Schirmunskis der Sammlung und Beschreibung der musikalischen Folklore der deutschen Kolonien gewidmete Arbeit fand Niederschlag in zahlreichen Monographien und Artikeln, die er sowohl parallel zu seiner aktiven Expeditionsarbeit als auch in seinen wissenschaftlichen Berichten und in der Korrespondenz mit dem Deutschen Volksliedarchiv in Freiburg verfasste. In den Jahren 1929-33 veröffentlichte Schirmunski mehrere den Materialien seiner Expeditionen gewidmete Arbeiten, die er größtenteils in deutscher Sprache verfasste und zum Teil im Ausland (Deutschland) publizierte. Dem folkloristischen Liedgut der deutschen Kolonisten waren der Artikel „Das kolonistische Lied in Russland“ (1928) und ein Kapitel des Buches „Die deutschen Kolonien in der Ukraine. Geschichte. Mundarten. Volkslied. Volkskunde“ (1928) gewidmet. Offensichtlich war ein Großteil des zusammengetragenen Materials zum Zeitpunkt der Einstellung des Projekts schon zur Veröffentlichung aufbereitet. So kündigte ein aus dem Jahr 1930 stammender Artikel die unmittelbar bevorstehende Veröffentlichung einer umfangreichen Sammlung „Deutscher Volkslieder aus dem Newa-Gebiet“ an, die allerdings bislang nicht auffindbar war. Zugleich bereitete auch Ellinor Johanson, die zu Schirmunskis engsten Mitarbeitern gehörte und an zahlreichen Expeditionen beteiligt war, eine Sammlung von der Krim stammender deutscher Lieder zur Veröffentlichung vor. Kurz vor dem Druck standen auch eine Sammlung deutscher Lieder aus den in der Ukraine gelegenen Kolonien sowie eine von Peter Sinner zusammengestellte Sammlung der an der Wolga gemachten Aufzeichnungen. Ungeachtet all dieser großen Pläne stellte das einer einzigen Kolonie gewidmete, 1931 in Wien erschienene Buch „Volkslieder aus der bayrischen Kolonie Jamburg am Dnjepr“ letztlich die einzige tatsächlich umgesetzte Veröffentlichung des im Zuge der Expeditionen zusammengetragenen Materials dar.
Erforschung des in dem Archiv enthaltenen Materials
Die Arbeit an den von Schirmunski und seinen Schülern und Kollegen in den 1920er Jahren zusammengetragenen Materialien begann erst 1995 im Rahmen einiger in Zusammenarbeit mit dem Wiener Phonogrammarchiv und dem Deutschen Volksliedarchiv in Freiburg umgesetzter Projekte. Resultat des ersten, in den Jahren 1995-97 von Mitarbeitern des Lehrstuhls für Phonetik der Universität Petersburg und des Phonographischen Archivs des Instituts für Russische Literatur durchgeführten Projektes war die Beschreibung des Inhalts und der Struktur der Sammlung sowie die Überspielung des auf den Wachsplatten dokumentierten Materials auf Magnetbänder. Bei den folgenden Projekten wurden in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Volksliedarchiv Freiburg im Breisgau ausführlichere Verzeichnisse der gesamten Sammlung, ein Katalog der Phonographenwalzen und Wachsplatten sowie ein Gesamtkatalog der Texte und Melodien angelegt. Darüber hinaus wurde das Text- und Tonmaterial digitalisiert und in Kopie dem Freiburger Archiv überlassen, so dass die etwa 4.000 Texte und über 1.000 Melodien deutscher Lieder heute die etwa 250.000 Dokumente umfassende Sammlung des Freiburger Archivs vervollständigen.
Heute wird die der wissenschaftlichen Aufbereitung des von Schirmunski zusammengetragenen Materials gewidmete Arbeit fortgesetzt, wobei das Hauptaugenmerk den von Schirmunski als „kolonistisch“ bezeichneten Liedern gilt, die bereits nach der Übersiedlung nach Russland entstanden. Viele dieser Lieder sind schon im digitalen „Historisch-kritischen Liederlexikon“ enthalten. Einen weiteren Forschungsschwerpunkt stellen die zweisprachigen (deutsch-russischen) makkaronischen Lieder dar.
Schirmunski V. Das kolonistische Lied in Russland // Zeitschrift des Vereins für Volkskunde. Jg 37/38/ H/4/5. 1928/ S 182–215; Schirmunski V. Die deutschen Kolonien in der Ukraine: Geschichte. Mundarten. Volkslied. Volkskunde. Moskau: Zentr. Vö1kerverlag der Sowjet-Union, 1928. – 161 S.; Schirmunski V. Das deutsche Volksliedarchiv in Leningrad // Jahrbuch für Volksliedforschung, Jg.2, Wien, 1930, S. 165–166; Schirmunski V. Volkslieder aus der bayrischen Kolonie Jamburg am Dnjepr. Wien, Verlag des deutschen Volksgesang-Vereins, 1931; Жирмунский В.М. Итоги и задачи диалектографического исследования немецких поселений СССР // Советская этнография, №2, 1933, 84–112; Viktor Schirmunski. Linguistische und ethnographische Studien 1926–1931. Herausgegeben von C.-J. Hutterer. Verlag Südostdeutsches Kulturwerk. Bd. 59. München 1992; Svetozarova N.D. Zhirmunsky’s Collection of German Folk Songs in the Sound Archives of the Pushkinsky Dom // Archives of the Languages of Russia. St.-Petersburg-Groningen, 1996, р. 33–38; Najdič L. Deutsche Bauern bei St. Petersburg-Leningrad. Dialekte – Brauchtum – Folklore. Franz Steiner Verlag, Stuttgart, 1997 (ZDL Beihefte 94); Светозарова Н.Д. «Архив немецкой народной песни в Ленинграде» В.М.Жирмунского: история и современное состояние // Язык и речевая деятельность. Т. 2. СПб., 1999. С. 212–221; John, Eckhard, "Russlanddeutsches Volkslied". Geschichte und Analyse seiner Konstruktion // Lied und populäre Kultur. Jahrbuch des Deutschen Volksliedarchivs. 48. Jahrgang, 2003. Hrsg. von Max Matter und Nils Grosch. Waxmann Verlag, Münster, New York, München, Berlin, 2004, S. 133–161; Светозарова Н.Д. Фольклорно-диалектологические экспедиции В.М.Жирмунского и его «Архив немецкой народной песни» // Русская германистика. Ежегодник Российского союза германистов. Том 2. М., 2006, с. 137–147; Пузейкина Л.Н. Немцы в Санкт-Петербургской губернии. История. Язык. Песни. С.-Петербург, 2013.