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BEKÄMPFUNG DES ANALPHABETISMUS in den deutschen Kolonien der Ukraine. Großangelegte Kampagne zur Beseitigung des Analphabetismus, verpflichtendes Alphabetisierungsprogramm für des Lesens und Schreibens unkundige Erwachsene sowie Kinder im schulpflichtigen Alter, die keine Schule besuchten

Rubrik: Kultur, Wissenschaft, Bildung, Medizin

BEKÄMPFUNG DES ANALPHABETISMUS in den deutschen Kolonien der Ukraine. Großangelegte Kampagne zur Beseitigung des Analphabetismus, verpflichtendes Alphabetisierungsprogramm für des Lesens und Schreibens unkundige Erwachsene sowie Kinder im schulpflichtigen Alter, die keine Schule besuchten. Die Kampagne zur Bekämpfung des Analphabetismus wurde in der Sowjetunion in den 1920er und 1930er Jahren im Rahmen der sogenannten sozialistischen „Kulturrevolution“ durchgeführt. Das Programm wird sowohl in der Geschichtswissenschaft als auch im kollektiven Gedächtnis ambivalent gesehen.

Ende des 19. Jahrhunderts waren in Russland laut Volkszählung von 1897 lediglich 27% der Bevölkerung des Lesen und Schreibens kundig (unter Frauen lag der entsprechende Wert sogar nur bei 13,1%). In einigen vorwiegend von nichtrussischen Völkern besiedelten Randregionen des Russischen Reichs war die Bevölkerung sogar durchgängig analphabetisch. Nach der Oktoberrevolution und der Etablierung der Sowjetmacht ergriffen die Bolschewiki entschiedene Maßnahmen zur Bekämpfung des Analphabetismus. Im Dezember 1917 wurde innerhalb des Volkskommissariat für Bildungswesen der RSFSR die von N.K. Krupskaja geleitete Abteilung für Außerschulische Bildung gegründet (ab 1920 Hauptkomitee für Politische Bildung), zu deren Aufgaben auch die Beseitigung des Analphabetismus gehörte. Von 1918 an wurde ein Netz von Schulen aufgebaut, in denen Analphabeten Lesen und Schreiben lernen sollten. Am 26. Dezember 1919 erschien das (auf Initiative des Kongresses zur Außerschulischen Bildung im Volkskommissariat für Bildungswesen ausgearbeitete) Dekret des Rats der Volkskommissare „Über die Beseitigung des Analphabetismus unter der Bevölkerung der RSFSR“, aufgrund dessen die gesamte des Lesens und Schreibens unkundige Bevölkerung der Republik im Alter von 8-50 Jahren verpflichtet wurde, in der jeweiligen Muttersprache oder der russischen Sprache Lesen und Schreiben zu lernen. Im Jahr 1920 wurde die dem Volkskommissariat für Bildungswesen unterstellte Allrussische Außerordentliche Kommission zur Beseitigung des Analphabetismus eingerichtet. Das erklärte Ziel der Kampagne bestand darin, der gesamten Bevölkerung die bewusste Teilhabe am politischen Leben des Landes zu ermöglichen. Der Bekämpfung des Analphabetismus wurde große politische Bedeutung beigemessen, weswegen das Lehrprogramm auch politische Aufklärung einschloss. Der Unterricht fand sowohl in den staatlichen allgemeinbildenden Schulen als auch in eigens eingerichteten Alphabetisierungszentren statt. Der Unterricht dauerte 3-6 Monate. Das Programm umfasste Lesen, Schreiben und Rechnen. Für den Besuch der Alphabetisierungskurse wurde die von den Teilnehmern zu leistende tägliche Arbeitszeit bei vollem Lohnausgleich um zwei Stunden verkürzt.

Mitte der 1920er Jahre wurde die zur Beseitigung des Analphabetismus geleistete Massenarbeit auch unter der in der Südukraine ansässigen deutschen Bevölkerung betrieben. Vom Maßstab dieser Kampagne zeugen die Archivdokumente: So gab es z.B. im Jahr 1925 im Gouvernement Donezk 22 und im Deutschen Nationalrayon Friedrich-Engels zehn für die deutsche Bevölkerung bestimmte Alphabetisierungszentren (im Friedrich-Engels-Rayon lernten insgesamt 267 Personen: 117 Deutsche, 93 Ukrainer und 40 Russen). Im deutschen Rayon Selz gab es zehn Alphabetisierungszentren (davon fünf deutsche).

In den anderen von Deutschen bewohnten Regionen schritt die Bekämpfung des Analphabetismus deutlich langsamer voran. So war beispielsweise in einigen in der Umgebung von Saporoschje gelegenen deutschen Rayonen der Anteil der in den Alphabetisierungszentren lernenden Deutschen sehr gering. So gab es den Archivquellen zufolge 1925 im Rayon Chortiza, der einen hohen deutschen Bevölkerungsanteil aufwies, insgesamt 136 des Lesens und Schreibens unkundige Deutsche, von denen aber nur 29 eines der beiden im Rayon bestehenden Alphabetisierungszentren besuchten. Im Rayon Prischib besuchten nur 16 der insgesamt 473 erwachsenen deutschen Analphabeten eines der beiden dort bestehenden Alphabetisierungszentren.

Eine bedeutende Rolle spielten bei der Bekämpfung des Analphabetismus gesellschaftliche Organisationen wie z.B. die im Jahr 1923 gegründete, von M.I. Kalinin geführte Allrussische Gesellschaft „Nieder mit dem Analphabetismus“. Sehr aktiv war (in den 1920er Jahren) auch die Jugendorganisation „Alphabetisierte Jugend“. 1928 begann auf Initiative des Allrussischen Leninschen Komsomol der gesamtsowjetische Kulturfeldzug zur Bekämpfung des Analphabetismus. Per Sonderverordnung „Über die zur Bekämpfung des Analphabetismus zu leistende Arbeit“ setzte das ZK der WKP(b) im Mai 1929 ein für alle Organe der Partei- und Sowjetmacht verpflichtendes Aktionsprogramm zur durchgängigen Alphabetisierung der Bevölkerung der UdSSR in Kraft. Von diesem Zeitpunkt an wurden Hunderttausende Menschen mobilisiert, um den Analphabetismus zu bekämpfen. So waren im Jahr 1930 etwa eine Million Personen in der „Kulturarmee“ aktiv. Allein in den registrierten Alphabetisierungszentren lernten 10,5 Millionen Menschen Lesen und Schreiben.

In der Ukraine konnte die 1923 gegründete, von G.I. Petrowski geführte Gesellschaft „Nieder mit dem Analphabetismus W.I. Lenin“, die im Jahr 1925 insgesamt 1.500 Zellen und 59.000 aktive Mitglieder hatte, die Zahl ihrer Basisorganisationen bis zum Jahr 1934 auf 10.000 Zellen und etwa eine Million Mitglieder steigern, die Schulen und Zirkel eröffneten und Plakate und Lehrbücher sowie die Zeitung „Nieder mit dem Analphabetismus“ und die Zeitschrift „Für Alphabetisierung“ herausgaben. Insgesamt lernten dort etwa vier Millionen Analphabeten. Die Gesellschaft arbeitete eng mit der Allukrainischen Außerordentlichen Kommission zur Beseitigung des Analphabetismus zusammen und führte in den Jahren 1927, 1929 und 1932 jeweils Allukrainische Kongresse durch. 1932 war die Bekämpfung des Analphabetismus auf dem Gebiet der Ukraine im Wesentlichen abgeschlossen.

Von den bei der Bekämpfung des Analphabetismus unter den in der Ukraine ansässigen Deutschen erzielten Ergebnissen zeugen die folgenden Zahlen: Im Jahr 1926 waren 623 von 1.000 Deutschen alphabetisiert. Laut Volkszählung von 1926 (17. Dezember 1926) waren 93,2% der deutschen Männer und 95,3% der deutschen Frauen in ihrer Muttersprache (Deutsch), 75,5% bzw. 79,9% in der russischen und 9,6% bzw. 5,2% in der ukrainischen Sprache alphabetisiert.

Große Bedeutung hatte für die Förderung der Alphabetisierung die Einführung der allgemeinen Grundschulpflicht im Jahr 1930. Von der zweiten Hälfte der 1930er Jahre an änderten sich die Formen der Erwachsenenbildung. Das Netz der nach den gewöhnlichen allgemeinbildenden Programmen arbeitenden Abendschulen wurde ausgeweitet. 1936 fasste die Regierung der UdSSR den Beschluss, den Analphabetismus im Verlauf der Jahre 1936-37 vollständig zu beseitigen. Im Februar 1936 löste sich die Gesellschaft „Nieder mit dem Analphabetismus“ selbst auf, da sie ihr Ziel im Wesentlichen als erreicht ansah. In den Jahren 1920–40 wurden in der UdSSR etwa 60 Millionen Menschen alphabetisiert (davon 12 Millionen in der Ukraine). In den 1950er Jahren war die UdSSR praktisch vollständig alphabetisiert. Die Alphabetisierungsrate entwickelte sich folgendermaßen: 1926 – 56,6%, 1939 – 87,4%, 1959 – 98,5%, 1970 – 99,7%, 1979 – 99,8%. Zugleich wurde die im Bereich der Bekämpfung von Lese- und Schreibschwächen geleistete Arbeit intensiviert.

Die unter den schwierigen Bedingungen des Bürgerkriegs und des ökonomischen Zusammenbruchs geführte Bekämpfung des Analphabetismus war ein erheblicher Erfolg der Sowjetmacht, der Bauern, Arbeitern und Handwerkern Wege eröffnete, sich Wissen anzueignen und an den Segnungen der Zivilisation teilzuhaben. Allerdings lassen sich diese Ergebnisse nicht eindeutig bewerten. Wenn sie die Grundlagen des Lesens und Schreibens erlernten, ohne zugleich eine systematische Bildung zu erwerben, wurden Arbeiter und Bauern nur selten zu regelmäßigen Besuchern von Bibliotheken, Museen oder Theatern und waren kaum in der Lage, das Zeitgeschehen und das kulturelle Erbe selbständig und kritisch zu verfolgen.

Das Problem des Analphabetismus ist auch heute in vielen Staaten noch aktuell, weswegen die UNESCO alljährlich am 8. September den Welttag der Alphabetisierung begeht.

Literatur

Богданов И.М. Грамотность и образование в дореволюционной России и СССР, М., 1964; Куманев В.А. Социализм и народная грамотность. Ликвидация массовой неграмотности в СССР, М., 1967; Народное образование, наука и культура в СССР. Статистический сборник, М., 1977; Культурне будівництво в Украïнській РСР. 1918–1927. 3б. документів і материіалів, К., 1979. 

Archive

Archive: ЦГАВО Украины, ф. 413, оп. 1. 

Autoren: Smirnowa T.B., Udod A.

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