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Deutsche Operation des NKWD

Rubrik: Politische Geschichte

Deutsche Operation des NKWD. Ursprünglich handelte es sich um die Kurzbezeichnung eines operativen Befehls des Volkskommissariats für Innere Angelegenheiten (NKWD) der UdSSR Nr. 00439 vom 25. Juli 1937 „Operation zur Ergreifung von Repressivmaßnahmen an deutschen Staatsangehörigen, die der Spionage gegen die UdSSR verdächtig sind“. Dieser Geheimbefehl erschien als Folge einer Notiz Stalins, die dem Sitzungsprotokoll des Politbüro des ZK der Kommunistischen Allunions-Partei (Bolschewiki) WKP (b) vom 20. Juli 1937 beigefügt war: „Alle Deutschen in unseren militärischen, paramilitärischen und chemischen Werken, in den Kraftwerken und Bauobjekten – und zwar in allen Gebieten – sind zu verhaften“. In der Politbüro-Verordnung vom 20. Juli unter dem Namen „NKWD-Frage“ wurde die Formulierung etwas abgeändert: „Man sollte dem Genossen Jeschow vorschlagen, den NKWD-Organen unverzüglich den Befehl zu erteilen, dass alle Deutschen, die in den Rüstungswerken (Artillerie, Geschosse, Gewehre und Maschinengewehre, Patronenmunition etc.) beschäftigt sind, verhaftet werden und ein Teil der Verhafteten ins Ausland ausgewiesen wird …“.

In einem Direktivschreiben der  Hauptverwaltung für Staatssicherheit (GUGB) des NKWD Nr. 26 vom 2. April 1937 „Über zunehmende Aktivität der deutschen Aufklärungsorgane und Spezialeinrichtungen der faschistischen Partei (die Auslands- und die Außenpolitik- Abteilung der Antikomintern, der Aufklärungsdienst der Schutzstaffeln usw.) im Gebiet der Union der SSR“ sowie in der beigefügten mehrseitigen „Orientierung über die Aktivitäten deutscher Faschisten in der UdSSR“ (entstanden im Anschluss an das soeben stattgefundene Februar/März-Plenum des ZK der KPdSU)  zeichnen sich die Konturen der künftigen „deutschen Operation“ ab. Das Schreiben war maßgeblich für die Vorbereitung von „Großterror“ und insbesondere von „deutscher Operation“.

Im Befehl Nr.00439 wurde festgestellt: „Die Agenten aus dem Kreis deutscher Staatsangehöriger verüben schon jetzt Diversions- und Schädlingsakte, wobei das Hauptaugenmerk der Organisierung von Diversionshandlungen für die Dauer des Krieges gilt; zu diesem Zweck werden Diversionstrupps ausgebildet“. Um „diese Aktivitäten vollständig zu unterbinden“, befahl das Volkskommissar, alle deutsche Staatsangehörige zu verhaften, die in der UdSSR wohnhaft sind sowie in der Rüstungsindustrie oder bei der Eisenbahn arbeiten bzw. früher gearbeitet haben. Für die Verhaftungen wurden fünf Tage eingeräumt: ab 29. Juli 1937.

Der Befehlstext beschränkte sich keineswegs nur auf die deutschen Bürger: „Die während der Ermittlungen neu aufgedeckten deutsche Agenten bzw. Spionen, Diversanten und Terroristen – seien es Sowjetbürger oder Staatsangehörige anderer Länder – sind unabhängig von deren Arbeitsstelle unverzüglich zu verhaften“.

Nach Stalins Plan waren die „nationalen“ Operationen darauf gezielt, in der UdSSR „die Spionage- und Diversionsbasis“ aus den Ländern des „kapitalistischen Umkreises“ zu liquidieren. Das Objekt der Repressivmaßnahmen waren dabei die ausländischen Kolonien und andere Gemeinschaften, die direkt oder indirekt mit dem Ausland verbunden waren. Zu den wichtigsten dieser Operationen gehörten die polnische, die harbinsche und die deutsche.

Die Operation startete in der Nacht zum 30. Juli 1937. Eine Woche später meldete Jeschow Stalin: „Insgesamt wurden in der UdSSR 340 deutsche Staatsangehörige verhaftet. Anhand der bis zum 5. August erhaltenen Aussagen deutscher Staatsangehöriger wurden  43 deutsche Agenten aus dem Kreis der Sowjetbürger verhaftet; zusätzlich werden weitere  52 Personen verhaftet“.

Der Befehl Nr. 00439 setzte das gemeinsame Vorkommen von zwei Gründen voraus: Eine bestimmte Staatsbürgerschaft (z. B. deutsche) sowie die Beschäftigung in einem bestimmten  Produktionsbereich (Rüstungsindustrie oder Verkehrswesen). Wenn beides zusammenfiel, war die Verhaftung automatisch prädestiniert.

Laut Jeschow’s Angaben wurden in der Zeit vom 29. Juli bis zum 28. August 1937 „insgesamt in der UdSSR 472 deutsche Staatsangehörige verhaftet“. Die für fünf Tage geplante Operation auf Befehl Nr. 00439 dauerte auch nach Ablauf dieser Frist weiter an. Nach Einschätzung der Historiker (N. Ochotin, A. Roginski) war die Operation gegen deutsche Staatsangehörige nur ein Mosaiksteinchen im System des politischen Terrors von 1937–1938. Bis zum Herbstbeginn war die vorrangige Aufgabe – die „Säuberung“ der geheimen Rüstungswerke und -zechen – weitgehend gelöst.

In den Jahren 1937–1938 wurden in der UdSSR 750 bis 820 deutsche Bürger verhaftet (ca. jeder fünfter aller deutschen Bürger in der UdSSR). Die meisten von ihnen wurden nach der Verhaftung und dem Ermittlungsverfahren nach Deutschland ausgewiesen (1937–1938 insgesamt ca. 620 Personen). Ca. 200 Verhaftete wurden nicht des Landes verwiesen.

Zugleich war diese Operation ein Vorspiel zu einer anderen, weit umfassenderen deutschen Operation, die sich ähnlich den anderen nationalen Operationen entwickelte. Die massenhafte deutsche Operation galt in erster Linie den Sowjetbürgern, vor allem den Volksdeutschen sowjetischer Staatsangehörigkeit.

Der Befehl über diese massenhafte nationale Operation wurde nicht gefunden. Als Modell für alle massenhaften nationalen Operationen in den Jahren 1937–1938 diente vermutlich die erstere davon – die polnische. Das Vorgehen bei der deutschen Operation deckt sich weitgehend mit dem „polnischen Modell“.

Die erste Erwähnung über die großangelegte deutsche Operation findet man in einem Telegramm, das Jeschow am 3. November 1937 an alle Volkskommissare der Unionsrepubliken für innere Angelegenheiten sowie an die Chefs der Regionalverwaltungen des Inneren (UNWD) verschickt hatte. Darin wurde die Aufgabe gestellt, die „Herde“ und die „Basis“ für die Spionage-, Diversions- und Rebellenaktivitäten des deutschen Nachrichtendienstes in der UdSSR zu liquidieren. 

Noch vor diesem Jeschow’s Telegramm schickte Stalin am 2. August 1937 ein verschlüsseltes Telegramm an А. А. Andrejew über die notwendigen Verhaftungen in der Wolgadeutschen-Republik. Darin wies Stalin an: „Die jetzigen Tschekisten in der ASSR der Wolgadeutschen sind durch Nichtdeutsche auszuwechseln”.

Die Grundvoraussetzung jeder Operation war eine genaue Auflistung der Kategorien, die den Repressivmaßnahmen zu unterziehen sind. Wegen des fehlenden entsprechenden Befehls stand den NKWD-Organen ursprünglich keine solche Liste bezogen auf die Deutschen zur Verfügung. Die erstmalige Erwähnung eines Verzeichnisses „deutscher Kontingente“ findet man in den Direktivdokumenten des NKWD erst am 1. Februar 1938: Ehemalige deutsche Kriegsgefangene, politische Emigranten, Überläufer aus Deutschland, „konterrevolutionäre Aktivisten“ deutscher Nationalkreise, „Konsularbeziehungen“, ehemalige russische Kriegsgefangene (Soldaten und Offizieren der russischen Armee, die im ersten Weltkrieg in deutsche Gefangenschaft geraten waren), ehemalige Beschäftigte deutscher Betriebe, Ehefrauen der im Rahmen der deutschen Operation Verurteilten sowie Häftlinge, die wegen Spionage für Deutschland eine Haftstrafe verbüßen. Sämtliche Kategorien sind durch ein integrierendes Merkmal vereint – eine wirkliche oder vermeintliche Verbindung zu Deutschland.

Die nationalen Operationen, darunter auch die deutsche Operation, zielten in erster Linie auf eine Säuberung in jenen Staatsbereichen, die mit der Wehrkraft des Landes unmittelbar verbunden waren: in militärischen und paramilitärischen Einrichtungen (Armee, NKWD u. ä.), in der Rüstungsindustrie, im Maschinenbau, in der Kohle-, Öl- und Chemieindustrie, in der Eisen- und NE-Metallurgie, im Verkehrswesen, in der Energiewirtschaft und manchen anderen Industriezweigen.

Die ersten Zahlen bezüglich der deutschen „Linie“ sind datiert mit dem 16. November 1937: landesweit und flächendeckend 2.536 Verurteilte. Die Operation begann vermutlich im September in der Ukraine und anschließend in Moskau und Leningrad. Seit Dezember greift die Operation auf andere Gebiete der UdSSR über.

Der Befehl Nr. 00439 spielte eine initiierende Rolle und gehörte auch mit zu den maßgeblichen Komponenten der nationalen Operation. Die Verweise auf ihn im neuen Zusammenhang dienen häufig als verdeckte Bezeichnung der deutschen Operation insgesamt.

Seit Frühjahr 1938 werden die nationalgerichteten Operationen zur Hauptrichtung in den massenhaften Repressivmaßnahmen. Am 17. November 1938 wurden alle „massenhaften Operationen“ beendet.

Bisher konnte man die endgültigen Zahlen über die direkt nach dem Befehl Nr. 00439 durch das Militärkollegium oder durch die Sonderversammlung Verurteilten nicht ausfindig machen. Auf deutscher „Linie“ wurden ca. 65–68 Tsd. Personen verhaftet, jedoch hat man bis November 1938 nicht geschafft, alle von ihnen zu verurteilen; außerdem wurden manche in anderen Richtungen der Repressivmaßnahmen verurteilt. Es ist jedoch gelungen, die Zahl jener auszurechnen, die in der UdSSR flächendeckend seit Beginn der Operation bis zum 15. September 1938 sowie durch die Sondertroikas vom 15. September bis zum 15. November 1938 verurteilt wurden: 55.005 Personen, davon 41.898 zum höchsten Strafmaß und 13.107 Personen zu sonstigen Strafarten.

Die Repressivmaßnahmen in der ASSR der Wolgadeutschen waren stärker als im UdSSR-Durchschnitt. Während in der Gesamt-UdSSR in den Jahren 1937–1938 knapp 1% der Bevölkerung (ohne Deportationen, Ausweisungen und sonstige Repressivmaßnahmen) verurteilt worden war, lag der Prozentsatz der Verurteilten in der Wolgadeutschen-ASSR etwa um 50% höher. Dabei war der Prozentsatz der Verurteilten bei der „deutschen“ Operation zwar niedriger, wurde jedoch durch das Ausmaß der Repressionen gegen die Deutschen in anderen Richtungen reichlich „kompensiert“.

In manchen Regionen betrug der Anteil über die deutsche „Linie“ repressierter Personen 0,3–0,5% von allen Deutschen (Kalmücker ASSR, ASSR der Komi), in anderen hingegen 1–2% (Kasachstan, Kirgisien, Gebiet Orenburg, Region Ordschonikidse, Gebiet Omsk), in den dritten 8–10% (Region Krasnodar, Region Altai). Es gab auch Regionen, wo dieser Prozentsatz um Mehrfaches höher lag (z. B. im Gebiet Swerdlowsk).

Gemäß dem Sinn der nationalen Operationen gehörten zu den maßgeblichen Faktoren für das Ausmaß der Repressivmaßnahmen über die deutsche „Linie“ erstens das Vorhandensein von Rüstungsbetrieben in der Region und zweitens das Vorhandensein in der regionalen Gebietsverwaltungsstruktur von deutschen Nationalkreisen.

Wenn man alle nationalen „Linien“ zusammenrechnet, so wurden im gesamten Zeitraum der nationalen Operationen 335.513 Personen verurteilt (davon 73,66% zur Erschießung). Der durchschnittliche Prozentsatz der Erschossenen bei der deutschen „Linie“ lag mit 76,17% höher. Dabei wurden an manchen Orten 30–40% der Verurteilten erschossen, während anderswo dieser Prozentsatz weit höher lag. In der Region Krasnodar sowie in den Gebieten Nowosibirsk und Orenburg betrug diese Zahl 96,1%, 96,3% und 96,8%. In diesen Regionen ist der höchste Anteil von Erschießungen auch bei anderen „Linien“ zu verzeichnen.

Unter den 55.005 Personen, welche über die deutsche Nationallinie verurteilt wurden, gab es vermutlich 37,7–38,3 Tsd. Deutsche. Über die deutsche „Linie“ wurden Vertreter von 35 Nationalitäten verurteilt: Litauer, Tataren, Bulgaren, Usbeken etc. Über die anderen nationalen „Linien“ wurden wahrscheinlich 2–2,5 Tsd. Deutsche verurteilt. Insgesamt hat man 1937–1938 ca. 69–73 Tsd. Deutsche verurteilt, davon ca. 40–41 Tsd. über nationale Operationen, 20–22 Tsd. durch Troikas-Justiz über die Kulakenoperation und alle anderen durch die Sonderberatung bei dem NKWD bzw. durch die Gerichte. Zu „allen anderen“ gehörten insbesondere die aufgrund des Befehls Nr.00439 Verurteilten. Anfang 1939 gab es unter den GULAG-Häftlingen 18.572 Deutsche, d. h. 1,4% aller Häftlinge beim Anteil der Sowjetdeutschen an der Gesamtbevölkerung der UdSSR von 0,7%.

INHALT

Archive

АП РФ. Ф. 3. Оп. 58. Д. 254а. Л. 82. Д.254. Л.79; ЦА ФСБ. Ф. 3. Оп. 4. Д. 101. Л.188–189; ЦА ФСБ. Ф. 66. Оп. 1т. Д. 26. Л. 301, Д. 413. Л. 139.

Literatur

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Archive

История сталинского Гулага. Конец 1920-х-первая половина 1950-х годов: Собрание документов в 7-ми томах/Т.1. Массовые репрессии в СССР. М: Российская политическая энциклопедия (РОССПЭН), 2004. С.267–268; Лубянка. Сталин и Главное управление госбезопасности НКВД. Архив Сталина. Документы высших органов партийной и государственной власти. 1937–1938. М.: МФД, 2004. С. 250–251, 297.

Autoren: Kirillow V. M.

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