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KRIEGSKOMMUNISMUS, unter den Bedingungen des wirtschaftlichen Zusammenbruchs, des Bürgerkriegs, der ausländischen Intervention sowie des gescheiterten Versuchs der Einführung des „Staatskapitalismus“ entstandenes System von Sondermaßnahmen; verbreitete Bezeichnung für den entsprechenden Zeitabschnitt der Geschichte Sowjetrusslands (1918–21), die sich sowohl auf die Wirtschaftspolitik als auch auf das politische System und die entsprechende Ideologie bezieht

KRIEGSKOMMUNISMUS, unter den Bedingungen des wirtschaftlichen Zusammenbruchs, des Bürgerkriegs, der ausländischen Intervention sowie des gescheiterten Versuchs der Einführung des „Staatskapitalismus“ entstandenes System von Sondermaßnahmen; verbreitete Bezeichnung für den  entsprechenden Zeitabschnitt der Geschichte Sowjetrusslands (1918–21), die sich sowohl auf die Wirtschaftspolitik als auch auf das politische System und die entsprechende Ideologie bezieht. Die Ausnahmesituation machte die Aufstellung einer riesigen Armee, die Mobilisierung sämtlicher Ressourcen, die Zentralisierung der Macht und die Etablierung einer umfassenden Kontrolle über alle Bereiche des Lebens erforderlich. Die im Rahmen des „Kriegskommunismus“ ergriffenen Maßnahmen fielen mit den Vorstellungen der Bolschewiki vom Sozialismus als einer warenlosen, zentralisierten Gesellschaftsordnung zusammen, die das Land in „eine einzige große Fabrik“ verwandeln sollte. Der „Kriegskommunismus“ stellte den Versuch dar, mit Hilfe außerordentlicher Maßnahmen, die zum Teil bei den sogenannten „imperialistischen“ Staaten und insbesondere bei der deutschen Kriegswirtschaft des Ersten Weltkriegs entlehnt waren, ohne Umweg zum Kommunismus überzugehen. Zugleich wurden die europäischen Revolutionen der Jahre 1918–19 von den Bolschewiki als Beginn der langerwarteten Weltrevolution angesehen. All dies ließ eine Ideologie des revolutionären Sturms und schließlich den „Kriegskommunismus“ selbst entstehen.

Die Anfangsphase der Politik des „Kriegskommunismus“ war durch das faktische Verbot der Betätigung der oppositionellen politischen Parteien, die Gründung einer rein bolschewistischen Regierung und den Aufbau eines starken bürokratischen Staatsapparats gekennzeichnet.

Die Politik des „Kriegskommunismus“ lastete in gleichem Maße auf allen in Russland lebenden Völkern einschließlich der Deutschen. Am stärksten waren die Wolgadeutschen betroffen. Zur Zeit des „Kriegskommunismus“ wurde die Groß-, Mittel- und später auch ein Teil der Kleinindustrie enteignet und verstaatlicht, was die deutschen Unternehmer und Handwerker empfindlich traf. Die Einführung der Lebensmitteldiktatur lief letztlich auf eine schrankenlose Ausraubung der Kolonisten hinaus. Da die bolschewistische Führung die wohlhabenden deutschen Kolonien als „Kulakennester“ ansah, wurde die Beschlagnahmung von Lebensmitteln hier mit besonderer Härte betrieben. Am 26. Juni 1918 sah sich der Vorsitzende des Rats der Volkskommissare W.I. Lenin gezwungen, die Organe der Sowjetmacht in den Gouvernements Saratow und Samara per Telegramm anzuweisen, „Kontributionen, Konfiskationen und Requirierungen von Getreide unter den deutschen Kolonisten“ nur mit Zustimmung des Kommissariats für deutsche Angelegenheiten im Wolgagebiet durchzuführen. Die weitere Entwicklung der Lebensmitteldiktatur führte im Januar 1818 zur Einführung einer Abgabepflicht für Lebensmittel, deren Normen für die deutschen Dörfer deutlich über den für die benachbarten russischen und sonstigen Siedlungen festgelegten Mengen lagen. So hatte z.B. das im Bezirk Golyj Karamysch (Gebiet der Wolgadeutschen) gelegene deutsche Dorf Frank, das eine Bevölkerung von 5.200 Einwohnern und eine Saatfläche von 5.200 Desjatinen hatte, im Herbst 1920 eine Abgabenorm von 93.000 Pud Getreide zu erfüllen, während das hinsichtlich seiner Einwohnerzahl und Saatfläche vergleichbare russische Nachbardorf Aleksandrowka lediglich 3.000 Pud Getreide abliefern musste. Auf der im gleichen Bezirk gelegenen deutschen Kolonie Talowka lastete eine Ablieferungspflicht in Höhe von 200.000 Pud – was in etwa der Ablieferungsnorm für den gesamten im Gouvernement Saratow gelegenen Bezirk Kamyschin entsprach. Die mit Massenrepressionen gegen die Bauern einhergehende unaufhörliche Abschöpfung von Getreide, Fleisch und anderen Nahrungsmitteln aus den deutschen Dörfern des Wolgagebiets, des Ural, Sibiriens, des Nordkaukasus und der Ukraine lief auf die völlige Verarmung der Bevölkerung hinaus und führte schließlich wie auch in anderen Getreideregionen des Landes zur massenhaften Hungersnot der Jahre 1921/22.

Bereits 1918 kam es in einzelnen Regionen einschließlich der kompakten deutschen Siedlungsgebiete zu ersten Versuchen, die Bauernhöfe zwangsweise zu vergesellschaften, die in den deutschen Dörfern auf massiven Widerstand der Bauern trafen. So gab 1920 im Gebiet der Wolgadeutschen gerade einmal zwei landwirtschaftliche Kommunen.

Die aus der ungezügelten Geldemission resultierende Hyperinflation sowie die auf die Abschaffung der Ware-Geld-Beziehungen zielenden staatlichen Maßnahmen ließen ein gleichmacherisches staatliches Verteilungssystem entstehen, bei dem die Entlohnung der Arbeit in Naturalien erfolgte. Weitere soziale Neuerungen des „Kriegskommunismus“ waren der zwangsweise Zusammenschluss der Bevölkerung in Kooperativen sowie die Abschaffung der Zahlungen für kommunale und einige sonstige Dienstleistungen wie z.B. die Fahrt in öffentlichen Verkehrsmitteln. Im Zuge der Einführung der allgemeinen Arbeitspflicht und der umfassenden Militarisierung der Arbeit wurden Arbeitsarmeen aufgestellt. So wurden z.B. im Gebiet der Wolgadeutschen in den Jahren 1919/20 Arbeitsbrigaden, militärische Baukommandos und Landwirtschaftbataillone gegründet, die beim Bau der Eisenbahnlinie Aleksandrow Gaj – Emba und bei der Errichtung von Befestigungsanlagen in frontnahen Regionen eingesetzt wurden oder mit ihren Fuhrwerken das bei Gurjew geförderte Erdöl zu den an der Wolga gelegenen Anlegestellen transportierten. Allein für den Abtransport des im Rahmen der Abgabepflicht gesammelten Getreides zu den Anlegestellen und Eisenbahnstationen wurden im Gebiet der Wolgadeutschen im Sommer und Herbst 1920 7.500 Bauern mit Pferden und Fuhrwerken mobilisiert. Weitere Einsatzgebiete waren der Holzschlag in den Wolgaauen sowie Erd- und sonstige Arbeiten.

Von April 1919 an wurden Arbeiter, Bauern und Angestellte, denen „Verstöße gegen die Arbeitsdisziplin“ oder „konterrevolutionäre Tätigkeit“ zur Last gelegt wurden, in Zwangsarbeitslagern („Konzentrationslagern“) interniert. Im Gebiet der Wolgadeutschen wurde ein solches Lager in der Nähe von Marxstadt errichtet. 1920 lag die Zahl der dortigen Häftlinge bei 5.000 Personen, wobei neben den „Schuldigen“ selbst auch deren Familienangehörige einschließlich der Kinder interniert wurden. All diese Maßnahmen erfolgten vor dem Hintergrund eines dramatischen Absinkens des ohnehin niedrigen Lebensstandards der städtischen und dörflichen Bevölkerung.

Die Maßnahmen des „Kriegskommunismus“ führten zu einer beispiellosen Aufblähung des bürokratische Apparats. Ende 1920 waren in Marxstadt [Katharinenstadt], dem damaligen Verwaltungssitz des Gebiets der Wolgadeutschen, fast 24% der arbeitsfähigen Bevölkerung im Staatsdienst beschäftigt. Die einsetzende Verschmelzung der Parteiorgane mit dem Staats- und Verwaltungsapparat zeigte sich auch im Gebiet der Wolgadeutschen sehr deutlich: 28 der insgesamt 54 Parteizellen bestanden in staatlichen Stellen, 24 in Dörfern und lediglich zwei im Arbeitermilieu. Praktisch alle Parteimitglieder waren (zivile oder militärische) Staatsbedienstete.

Die Politik des permanenten Ausnahmezustands und Klassenterrors setzte das Leben eines Menschen in unmittelbare Abhängigkeit von seiner sozialen Herkunft. Massenerschießungen von Geiseln, unter denen auch zahlreiche Deutsche waren (Unternehmer, frühere Beamte, Offiziere von Heer und Flotte, der Polizei und der Gendarmerie, Vertreter der Intelligenz), wurden zu einer gängigen Praxis.

Innerhalb der örtlichen Parteiorganisationen war die Politik des „Kriegskommunismus“ umstrittten. So kam es Anfang der 1920er Jahre im Gebiet der Wolgadeutschen aufgrund von Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich der Erfüllung der Lebensmittelablieferungsnormen zu einer ernsthaften Spaltung innerhalb der örtlichen Partei- und Sowjetführung, in deren Folge zahlreiche als gemäßigt geltende Führungskader repressiert wurden, die für eine Beschränkung der Ablieferungsnormen eintraten (A. Emich, G. König, I. Schwab, W. Stromberger, A. Reichert u.a., insgesamt mehr als die Hälfte). 1920 lag die reale Macht auf dem Territorium des Gebiets der Wolgadeutschen und an anderen kompakten Siedlungsorten der deutschen Bevölkerung in den Händen der Außerordentlichen Revolutionkomitees, die sich vor allem auf Gewalt und Terror stützten.

Bürgerkrieg und „Kriegskommunismus“ drückten dem gesellschaftlichen Bewusstsein ihren Stempel auf und nährten den Glauben, dass Härte, Kompromisslosigkeit und Zwang probate Mittel zur Durchsetzung der kommunistischen Ideale darstellten. So erklärte z.B. der Leiter der Parteiorganisation des Gebiets der Wolgadeutschen P.Tschagin im September 1919 auf der 2. Gebietsparteikonferenz: „Was auch immer geschieht, über Berge von Leichen, über Blut, Tränen und Qualen, über Berge rauchender Trümmer kommen wir zur neuen Welt der Brüderlichkeit aller Werktätigen“.

Gerade in den Jahren des „Kriegskommunismus“ entstand die Praxis der ideologischen Einwirkung auf die Bevölkerungsmassen. In der Kunst setzten sich „angewandte“ Genres der Massenagition durch, die darauf abzielten, die Revolution zu preisen und dem Volk ein „sozialisitisches Bewusstsein“ einzupflanzen.

Das faktische Scheitern der Politik des „Kriegskommunismus“, das (auch in den im Wolgagebiet, in der Ukraine und in Sibirien gelegenen deutschen Dörfern) in unzähligen Rebellionen, Aufständen, Streiks und andere Protestaktionen der Bevölkerung Ausdruck fand, zwang die bolschewistische Führung im Frühjahr 1921 zur Abkehr von den „kriegskommunistischen“ Prinzipien der Landesführung und zur Verkündung des Übergangs zur sogenannten Neuen Ökonomischen Politik (NEP).

Literatur

Герман А. А., Немецкая автономия на Волге. 1918–1941. Ч. 1. Автономная область. 1918–1924, Саратов, 1992; Бруль В. И., Немцы в Западной Сибири, ч. 1, Топчиха, 1995; Безносов А. И., К вопросу об участии немецких колонистов и меннонитов в гражданской войне на Юге Украины (1917–1921 гг.), в сб.: Вопросы германской истории: немцы в Украине, Днепропетровск, 1996; Шрадер Т. А., Немцы Петрограда-Ленинграда и Петроградской-Ленинградской губернии в первые годы советской власти, в сб.: Российские немцы. Проблемы истории, языка и современного положения, М., 1996; Кронгардт ПК., Немцы в Кыргызстане. 1880–1990 гг., Бишкек, 1997; Ченцов В. В., Трагические судьбы, М., 1998.

Autoren: German A.

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