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Russlanddeutsche Lieder

Rubrik: Kultur, Wissenschaft, Bildung, Medizin

Als russlanddeutsche Lieder werden traditionelle Lieder der Russlanddeutschen bezeich net, die von den nach Russland ausgewanderten Kolonisten in ihren neuen Siedlungsgebieten gesungen und tradiert wurden. Im Unterschied zu den deutschen Volksliedern, die im gesamten deutschen Sprachraum verbreitet waren und von deutschen Siedlern aus ih rer Heimat mitgebracht wurden, sind russlanddeutsche Lieder, auch „kolonistische Lieder“ genannt, ausschließlich in Russland entstanden und dort verbreitet wurden.

Das Sammeln traditioneller russlanddeutscher Lieder begann Anfang des 20. Jahrhun derts. Von verschiedenen Volksliedsammlern aufgezeichnet, wurden solche Lieder gesammelt, die damals im kulturellen Gedächtnis der Russlanddeutschen existierten. Die meisten überlieferten Lieder sind zwischen den 1870er und den 1920er Jahren entstanden und spiegeln den Zeithorizont zu Beginn des 20. Jahrhunderts wider. Zahlreiche Lieder, die im Laufe des vorausgegangenen Jahrhunderts gesungen wurden, waren zum Zeitpunkt des Sammelbeginns bereits vergessen und von anderen Liedern abgelöst worden, weshalb nicht bekannt ist, worüber die ersten deutschen Kolonisten in Russland sangen.

Traditionelle russlanddeutsche Lieder spiegeln den Alltag und die Lebenswelt der deutschen Kolonisten wider. Thematisch lassen sie sich in drei Gruppen einteilen. Die häufigste Gruppe unter den „kolonistischen Liedern“ sind Soldatenklagen, die die allgemeine Ein führung der Wehrpflicht 1874 bzw. den Ersten Weltkrieg als ein tief in das Schicksal der russlanddeutschen Bevölkerung eingreifendes Ereignis sowie dessen Folgen – Angst vor dem Wehrdienst, Schmerz über den Abschied von der Familie, Todesangst – thematisieren. Ähnlich emotional sind auch Lieder, die etwa der Flucht deutscher Siedler in der Ukraine auf die Krim in Folge des russischen Bürgerkriegs im Jahr 1919 oder der Hungersnot von 1921–1922 an der Wolga gewidmet sind. Die zweitgrößte Gruppe sind Lieder, die kon krete Ereignisse in den Kolonien, meist Kriminal- oder Unglücksfälle, zum Inhalt haben wie zum Beispiel die Ermordung eines evangelischen Pfarrers und seiner Familie in der Südukraine, den Selbstmord eines jungen Liebespaares oder etwa Großbrand, Diebstahl und
Betrug. Die dritte Gruppe bilden Liebes- und Tanzlieder bzw. Lieder, die Hochzeiten, Eheund Familienleben besingen sowie Scherzlieder. Für letzte Gruppe ist Zweisprachigkeit
(deutsch und russisch) charakteristisch, was in den Liedern eine humoristische Funktion erfüllte. Diese Stilelemente, die als „code mixing“ oder „code switching“ bezeichnet werden, bieten eine interessante Quelle für die Untersuchung der Sprachkompetenz der Kolonisten oder zu ihren sprachlichen Kontakten mit russischen oder ukrainischen Nachbarn.

Die erste Sammlung russlanddeutscher Lieder stammt von deutschen Kolonisten selbst, nämlich dem Pastor Johannes Erbes und dem Lehrer Peter Sinner, die in den frühen 1910er Jahren mit dem Sammeln deutscher Volkslieder an der Wolga begannen. 1914 gaben sie das erste weltliche Liederbuch „Volkslieder und Kinderreime aus den Wolgakolonien“ heraus. Während des Ersten Weltkrieges, zwischen 1916 und 1918, zeichnete der Berliner Musikwissenschaftler Georg Schünemann in Kriegsgefangenenlagern deutsche Volkslieder auf, die ihm in Deutschland internierte russlanddeutsche Soldaten vorsangen.

Der sowjetische Philologe Viktor Žirmunskij, Professor an der Leningrader Universität, und seine Mitarbeiter bereisten in den 1920er Jahren die deutschen Kolonien in der Ukraine, im Leningrader Gebiet sowie in Transkaukasien, wo sie linguistische Feldforschungen be trieben und unter anderem deutsche Volkslieder aufzeichneten. Die gesammelten fast
4.000 Lieder bzw. Liedvarianten bildeten die Grundlage für das Deutsche Volksliedarchiv Leningrad (DVL), das Žirmunskij 1927 nach dem Vorbild eines bereits in Deutschland existierenden Volksliedarchivs, das 1914 in Freiburg gegründet wurde, angelegt hat. Die Lied melodien wurden dabei entweder auf Wachswalzen oder -platten aufgezeichnet oder vor
Ort nach dem Gehör transkribiert. Diese Sammlung ist bis heute die umfangreichste aller Liedsammlungen, die ohne selektive Vorauswahl das gesamte Spektrum russlanddeutschen Liedguts abzudecken versuchte. Zur selben Zeit legte das Ehepaar Emma und
Georg Dinges eine umfangreiche Sammlung von Liedern aus den Wolgakolonien an, von denen die meisten aus dem Heimatdorf Georg Dinges’, Blumenfeld, stammten. Ende 1929 umfasste ihre Sammlung bereits etwa 1200 Liedtexte und 400 Melodien. Schließlich wurden auch während der NS-Zeit (Thomas Kopp in Argentinien sowie Sammler des Deutschen Volksliedarchivs Freiburg) und im Nachkriegsdeutschland, vor allem unter den Vertriebenen aus den deutschen Siedlungsgebieten im Osten Europas in Folge des Zweiten Weltkrieges, russlanddeutsche Lieder gesammelt (darunter die Sammlung des Gymnasiallehrers Alfred Cammann und die Sammlung des Volkskundlers Johannes Künzig).

Keine der vorhandenen Liedsammlungen kann naheliegenderweise Vollständigkeit bean spruchen, denn nicht alle jemals gesungenen Lieder wurden auch gesammelt. So legten die ersten Liedsammler Erbes und Sinner ihrer mit erzieherischem Auftrag verbundenen
Sammelpraxis Sittlichkeitskriterien zugrunde und hielten daher so genannte „Gassenlieder“, die von der Jugend abends auf der Straße gesungen wurden, für nicht aufzeich nungswürdig. Oftmals trauten sich auch die Gewährspersonen selbst nicht, bestimmte Lieder aus ihrem Repertoire den sammelnden Wissenschaftlern vorzusingen.  

Im deutschsprachigen Raum wurden nach den 1970er Jahren kaum noch russlanddeutsche Lieder gesammelt. In der Sowjetunion konnte sich nach der Vertreibung der Deutschen aus ihren angestammten Siedlungsgebieten in den Nachkriegsjahren ebenfalls kei ne Sammeltätigkeit entfalten. Die wenigen Versuche unter den Russlanddeutschen selbst, das erhaltene Liedgut zu bewahren, sind noch nicht wissenschaftlich untersucht. So betätigten sich in den 1970er Jahren der Schriftsteller Victor Klein zusammen mit Johann Windholz sowie der Komponist Oskar Geilfuss als Volksliedsammler. Klein und Windholz unternahmen im Winter 1974 gemeinsam eine Folkloreexpedition in Novosibirsk, wo sie Lieder der dorthin 1941 deportierten Wolgadeutschen auf Tonband aufnahmen. Johann Windholz engagierte sich in Karaganda im Rahmen der „Kreativen Werkstatt für deutsche Volkskunst“ für Erhalt und Pflege deutscher Volksmusik. Die im Zuge der Perestrojka Ende der 1980er Jahre einsetzende Bewegung „Wiedergeburt“ trug erheblich dazu bei, dass viele traditionelle Lieder, die in Vergessenheit zu geraten drohten, als Teil russlanddeutscher Identität wiederentdeckt und von zahlreichen Folkloreensembles und Laienkünstlern belebt und aufgeführt werden konnten. Einen Beitrag dazu leistete auch das Deutsche Theater Temirtau / Almaty, das in sein Repertoire Schwänke und Stücke mit russlanddeutschem Folklore aufnahm. Die erstmals 1988 in Temirtau durchgeführten Festivals deutscher Kultur schließlich legten ein anschauliches Zeugnis davon ab, wie sehr die russland deutschen Lieder im kulturellen Gedächtnis der Gruppe noch lebten.

Literatur

Grundlegend: Bertleff, Ingrid / John, Eckhard / Svetozarova, Natalia (Hg.): Russlanddeutsche Lieder. Geschichte – Sammlung – Lebenswelten. Bd. 1: Liedgeschichten und Editionen. Bd. 2: Analysen und Quellen. Essen 2018 (mit weiterführender Literatur).

Archivalien: Deutsches Volksliedarchiv Leningrad (DVL) / Archiv nemeckoj narodnoj pesni v Leningrade (Sammlung Viktor Žirmunskij), f. 1: Handschriftenabteilung des Instituts für Russische Literatur (Puškinskij Dom) der Russischen Akademie der Wissenschaften St.
Petersburg (IRLI); f. 2: Phonogrammarchiv (IRLI); f. 3: Nachlass Viktor Žirmunskij, in: Archiv der Russischen Akademie der Wissenschaften (Filiale St. Petersburg).
Staatliches Historisches Archiv der Wolgadeutschen / Gosudarstvennyj Istoričeskij archiv nemcev Povolž’ja (GIANP), Engels: f. R-1821 (Sammlung Dinges – Dulson).

Gedruckte Quellen: Erbes, Johannes / Sinner, Peter (Hg.): Volkslieder und Kinderreime aus den Wolgakolonien. Saratov 1914; Schünemann, Georg: Das Lied der deutschen Ko lonisten in Russland. München 1923; Dinges, Georg: Wolgadeutsche Volkslieder mit Bil dern und Weisen. Hg. von John Meier. Berlin, Leipzig 1932; Šiškina-Fišer, Elena (Hg.): Pesni i ballady volžskogo sela Bljumenfel’d [Lieder und Balladen des Wolga-Dorfes Blu menfeld]. Po materialam archiva G. i Ė. Dingesov [Aus der Sammlung von Georg und Emma Dinges]. Moskva 1999; Kopp, Thomas: Russlanddeutsches Liederbuch. Buenos Aires 1937; Künzig, Johannes: Ehe sie verklingen… Alte deutsche Volksweisen vom Böh merwald bis zur Wolga. Freiburg 1958; Klein, Victor: Unversiegbarer Born. Vom Wesen des Volksliedes der Sowjetdeutschen. Alma-Ata 1974; Klein, Victor / Windholz, Johann: Unser Volkslied – Hochzeitsmusik. Vom Wesen des Volksliedes und der Volksmusik der Russlanddeutschen. Weil der Stadt [Selbstverlag] 1975 [?].

Autoren: Donig Natalia, (Passau)

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