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SONDERSIEDLUNG

Rubrik: Politische Geschichte

SONDERSIEDLUNG – vom Sowjetstaat für bestimmte, von der Staatsmacht für „schuldig“ erklärte   Volks- und Bevölkerungsgruppen eingeführte Existenzform, die die Zwangsumsiedlung aus den angestammten Siedlungsorten in eigens dafür bestimmte Regionen, das unter Androhung strafrechtlicher Konsequenzen bestehende Verbot, den zugewiesenen Ort zu verlassen, sowie die Einschränkung zahlreicher von der Verfassung der UdSSR deklarierter bürgerlicher Rechte umfasste.

Die Anfänge der Sondersiedlung gehen in die Zeit der flächendeckenden Kollektivierung und Entkulakisierung der Jahre 1929/30 zurück, als Zwangsumsiedlungen zu einer massenhaft praktizierten Form der Repression wurden und Zehntausende zu „Kulaken“ oder „Kulakenhelfern“ erklärte Personen mit ihren Familien in den fernen Norden, nach Sibirien, nach Kasachstan und in andere „abgelegene Regionen“ der Sowjetunion deportiert und dort in sogenannten „Arbeitssiedlungen“ zwangsangesiedelt wurden, die sie meist selbst erst errichten mussten. 1931 wurde innerhalb des NKWD eine eigene, der Hauptverwaltung der Lager unterstellte Abteilung eingerichtet, die sich ausschließlich um die Überwachung und Umerziehung dieser Zwangsumgesiedelten kümmern sollte.

In der zweiten Hälfte der 1930er Jahre kamen vor allem in den Grenzregionen ansässige sogenannte „unzuverlässige Elemente“ in die Sondersiedlung, unter denen auch etwa 15.000 im Jahr 1936 aus den Grenzregionen der Ukraine und Weißrusslands nach Kasachstan umgesiedelte polnische und deutsche Familien waren. In den Jahren 1937-39 wurden Tausende türkische, iranische, kurdische, koreanische und weiteren potentiellen „Feindvölkern“ zugehörige Familien aus den Grenzregionen Transkaukasiens, Mittelasiens und des Fernen Ostens zwangsausgesiedelt.

Bei Ausbruch des Deutsch-Sowjetischen Kriegs lebten bereits 977.100 Personen an den Orten der Sondersiedlung, bei denen es sich größtenteils um „frühere Kulaken“ und deren Familien handelte.

Vor dem Hintergrund der geplanten Umsiedlung der Sowjetdeutschen aus dem europäischen Teil der Sowjetunion nach Sibirien und Kasachstan wurde die bis dahin bei der Hauptverwaltung der Lager angesiedelte Abteilung für Sondersiedlung am 28. August 1941 auf Betreiben Berijas umstrukturiert und unmittelbar dem Volkskommmissar unterstellt. Eben diese neue Abteilung, an deren Spitze Major der Staatssicherheit I. Iwanow stand, war für alle mit dem Abtransport und der Ansiedlung der Zwangsumgesiedelten verbundenen Fragen sowie die konkrete Umsetzung der gegen die Sowjetdeutschen gerichteten Deportationsmaßnahmen zuständig.

 

Aufbau und Entwicklung der deutschen Sondersiedlung

Es dauerte praktisch die gesamten Kriegsjahre, bis die für die Sowjetdeutschen geltenden Regeln der Sondersiedlung ihre endgültige Form annahmen. In den ersten Monaten konnten sich die nach Sibirien und Kasachstan deportierten Deutschen, insbesondere wenn es sich um frühere Stadtbewohner handelte, noch relativ frei innerhalb der Rayone und sogar zwischen den Rayonen bewegen, um sich einen mehr oder weniger erträglichen Wohn- und Arbeitsort zu suchen. Einigen Umsiedlern gelang es sogar, sich in den Verwaltungszentren der Regionen und Gebiete oder in anderen größeren Städten niederzulassen. Im November 1941 berichtete Iwanow an Berija, dass man in den größeren Städten und Verwaltungszentren der Rayone und Gebiete viele deportierte Deutsche antreffen könne, die dort auf der Suche nach einer ihrer Ausbildung entsprechenden Arbeit seien. Nahezu alle im Herbst 1941 in Moskau eingehenden Berichte der Regions- und Gebietsverwaltungen des NKWD gingen ebenfalls auf das Thema des eigenmächtigen Umzugs der Deutschen ein und forderten eine gesetzliche Einschränkung dieser Wanderungsbewegungen. Auch wenn zu diesem Zeitpunkt keine konkreten Gesetzesakte erlassen wurden, erging an die Parteikomitees der betroffenen Gebiete, Städte und Rayone doch das Kommando, die politische Wachsamkeit zu erhöhen und die Deutschen durch entsprechende Maßnahmen von Führungspositionen oder sicherheitsrelevanten Objekten fernzuhalten, zu denen nach Ansicht der Organe der Staatssicherheit neben Fabriken und industriellen Großbetrieben auch kleinere Betriebe und Einrichtungen wie z.B. Kantinen oder Krankenhäuser zählten. Mit Ausnahme einiger weniger hochqualifizierter Spezialisten sollte die große Masse der deportierten Deutschen in den Kolchosen arbeiten.

Als Negativbeispiel für den „Verlust der politischen Wachsamkeit“ wurde den örtlichen Partei- und Sowjetorganen das Beispiel des in der Region Altai gelegenen Rayons Schipunowo vor Augen gehalten, in dem es den Deutschen entsprechenden Berichten zufolge gelungen war, zahlreiche Führungspositionen zu besetzen (Abteilungsleiter beim Rayonsexekutivkomitee, Leiter der Abteilung für Versorgungswirtschaft, Leiter der Abteilung für Straßenwesen, Direktor des Lebensmittelkombinats, Leiter des Rayonskrankenhauses, Vorsitzender der örtlichen Vertretung des Roten Kreuzes usw.). Insgesamt sollten dort innerhalb eines einzigen Monats bis zu 80 deutsche Umsiedler eingestellt worden sein, woraufhin ganze Bereiche wie der medizinische Sektor oder die „Verarbeitung von Kartoffeln für die Rote Arbeiter- und Bauernarmee“ in die Hände der Deutschen geraten seien. Natürlich wurden die verantwortlichen Partei- und Sowjetkader nach Bekanntwerden dieser Zustände umgehend entfernt und die betroffenen Deutschen in die Kolchosen geschickt.

Zur gleichen Zeit wurden zahlreiche Deutsche, die in Rüstungsbetrieben oder als Zivilangestellte in Militäreinrichtungen untergekommen waren, verhaftet, entlassen und vor Gericht gestellt. In einem der in Tomsk angesiedelten Rüstungsbetriebe betraf dies z.B. die Deutschen P. Mehl, Ja. Krüger und N. Vath. In der Stadt Iskitim wurde die am örtlichen Luftwaffenstützpunkt tätige junge Deutsche E. Jäckel verhaftet. Alle Betroffenen sahen sich mit der zeittypischen Anschuldigung konfrontiert, für Deutschland spioniert oder Sabotageakte vorbereitet zu haben.

Bis Anfang 1942 wurde ein Großteil der Deutschen, die in den Städten und Rayonszentren eine mehr oder weniger anständige Arbeit hatten finden können, wieder in die Kolchosen geschickt.

Nachdem im Verlauf des Jahres 1942 praktisch alle arbeitsfähigen Deutschen (einschließlich derer, die bereits vor dem Krieg im Landesinneren gelebt hatten und nicht deportiert worden waren) zur Arbeitsarmee eingezogen worden waren, blieben nur Alte, Kranke und Kinder im Alter von unter 15-16 Jahren sowie Frauen, deren Kinder das dritte Lebensjahr noch nicht erreicht hatten, an den Siedlungsorten zurück, wo sie sich in einer äußerst schwierigen materiellen Lage wiederfanden, da sie in ihrer großen Mehrheit nicht arbeitsfähig waren, keine eigene Behausung hatten und keinerlei Hilfe vom Staat erhielten. Die ohne ihre Eltern zurückgebliebenen Kinder sollten von den Kolchosen erzogen werden, die mit dieser Aufgabe allerdings hoffnungslos überfordert waren, da die Männer größtenteils an der Front waren und die Zurückgebliebenen die hohen Abgabenormen nur unter größten Anstrengungen erfüllen konnten. Die allermeisten betroffenen Kinder kamen ins Waisenhaus oder verwahrlosten. So brachten die Organe des NKWD allein im Zeitraum zwischen März 1944 und Oktober 1945 über 2.900 auf der Straße aufgegriffene Kinder ins Waisenhaus, deren Eltern bei der Arbeitsarmee waren. Hinzu kamen 467 behinderte oder hilflose alte Menschen, die aufgespürt und in entsprechende Pflegeeinrichtungen gebracht wurden.

1943 ließ die Entscheidung, ganze der Kollaboration mit den Besatzern verdächtige Völker aus dem europäischen Teil der Sowjetunion in entfernte Landesteile zu deportieren, die Zahl der Sondersiedler rasant in die Höhe schnellen. So wurden in den Jahren 1943/44 insgesamt 92.000 Kalmücken, 228.400 Bewohner der Krim (Tataren, Armenier, Griechen, Bulgaren usw.), 608.700 Bewohner des Nordkaukasus (Tschetschenen, Inguschen, Balkaren, Karatschaier usw.) und 95.000 Bewohner Georgiens nach Sibirien, Kasachstan und Mittelasien deportiert. 1944 begann zudem die Zwangsumsiedlung Tausender Bürger der Westukraine (sogenannte „Mitglieder der Organistion Ukrainischer Nationalisten“) und des Baltikums (Esten, Letten, Litauer u.a.), die auch in den Nachkriegsjahren fortgesetzt wurde.

Die im Zuge dieser Kampagnen deportierten Personen wurden nicht mehr zur Arbeitsarmee eingezogen, sondern direkt an den Siedlungsorten in den Kolchosen eingesetzt, wo die mit den Zwangsumsiedlungen einhergehenden Härten, das Fehlen jeglicher für die Aufnahme so vieler Menschen geeigneter Infrastruktur sowie Missbrauch und Willkür von Seiten der örtlichen Behörden zu extrem hohen Mortalitätsraten sorgten und entsprechenden Protest provozierten. So kam es an den Orten der Sondersiedlung immer wieder zu Aufruhr und politisch motivierten Straftaten, die sich in einigen Fällen zu offenen antisowjetischen Unruhen auswuchsen, wozu sicherlich auch das südländische Temperament der neuen Sondersiedler beitrug. Jedenfalls sah sich die Sowjetführung vor dem Hintergrund dieser Entwicklung gezwungen, sich konkreter mit den politischen, rechtlichen und organisatorischen Fragen der Sondersiedlung zu befassen. Von den daraus resultierenden Reformen waren auch die schon länger in der Sondersiedlung lebenden Deutschen unmittelbar betroffen.

Am 8. Januar 1945 wurde das System der Sondersiedlung durch zwei geheime Beschlussfassungen des Rats der Volkskommissare der UdSSR auf eine neue rechtliche Basis gestellt:

Aufgrund der ersten Beschlussfassung („Über die Gründung von Sonderkommandanturen“) sollte das NKWD an den Orten der Sondersiedlung den regionalen Verwaltungen des NKWD unterstellte Sonderkommandanturen einrichten. Diese sollten für die Erfassung und Überwachung der Sondersiedler, die Suche nach Flüchtigen, die Verhinderung und Unterbindung von Unruhen und die Kontrolle über das Wirtschafts- und Arbeitsleben der Sondersiedler zuständig sein, deren Beschwerden und Gesuche bearbeiten und den Sondersiedlern in begründeten Einzelfällen befristete Genehmigungen zum Verlassen der von der Kommandantur kontrollierten Zone ausstellen, sofern sich diese innerhalb des jeweiligen Rayons bewegten. Zudem sollten die Kommandanten gegen Sondersiedler Strafen in Höhe von maximal 100 Rubeln Bußgeld oder fünf Tagen Haft verhängen dürfen, wenn sich diese etwas zuschulden kommen ließen.

Die zweite Beschlussfassung des Rats der Volkskommissare („Über die rechtliche Stellung der Sondersiedler“) verpflichtete alle Sondersiedler, einer gesellschaftlich nützlichen Arbeit nachzugehen, sich streng an alle für die Sondersiedler geltenden Regeln zu halten und allen Anordnungen der Sonderkommandanturen Folge zu leisten. Es war verboten, sich ohne entsprechende Genehmigung außerhalb des der Kommandantur unterstellten Territoriums aufzuhalten. Das eigenmächtige Verlassen des Siedlungsorts wurde als Fluchtversuch eingestuft und strafrechtlich verfolgt. Jegliche Veränderungen des Familienstands (wozu neben Geburten und Todesfällen auch die Flucht eines Familienmitglieds zählte) mussten der Kommandantur innerhalb einer Frist von drei Tagen gemeldet werden.

Die zitierten Beschlussfassungen des Rats der Volkskommissare der UdSSR bildeten (ergänzt durch einige interne Anordnungen des NKWD) die politische, rechtliche und organisatorische Basis der Sondersiedlung, der Hunderttausende Sowjetbürger unterlagen, deren Leben in noch größerem Maße reglementiert und deren Rechte noch stärker eingeschränkt wurden, als dies bis dahin der Fall gewesen war.

Gegen Ende des Kriegs und in der unmittelbaren Nachkriegszeit stieg die Zahl der deutschen Sondersiedler stark an, da einerseits zahlreiche zwangsweise aus dem Ausland zurückgeführte Repatrianten (etwa 200.000) und andererseits viele frühere Arbeitsarmisten in die Sondersiedlung kamen. Letztere waren in vielen Fällen auch nach der im März 1946 erfolgten Auflösung der Arbeitsarmee wie Leibeigene an ihre Unternehmen, Baustellen und Lager gebunden und blieben an ihren früheren Einsatzorten, durften als Sondersiedler aber ihre Familien zu sich zu holen, in Wohnheimen oder eigenen Wohnungen wohnen und eigenen Wohnraum bauen oder kaufen. In den von den früheren Arbeitsarmisten und ihren Familien bewohnten Siedlungen wurden Sonderkommandanturen eingerichtet. Nur sehr wenige frühere Arbeitsarmisten durften ihre Unternehmen verlassen und an ihre ursprünglichen Wohnorte zurückkehren. In der Regel handelte es sich dabei um Invaliden, Frauen im Alter von über 45 Jahren, Mütter, die unbeaufsichtigte Kinder zurückgelassen hatten, sowie Männer im Alter von über 55 Jahren.

Infolge der oben beschriebenen Beschlüsse der Sowjetführung kam es in den Jahren 1946/47 unter der deutschen Bevölkerung der UdSSR zu umfangreichen Migrationsprozessen. Durch den Zuzug der Familien stieg die Zahl der an den früheren Objekten der Arbeitsarmee (Unternehmen, Fabriken und Baustellen) lebenden Deutschen stark an, was mittelfristig auf eine Verstädterung der deutschen Siedlungsstruktur hinauslief, auch wenn die meisten Deutschen auch weiterhin auf dem Land lebten. Geographisch dehnte sich die deutsche Sondersiedlung erheblich aus. Aus ihren größtenteils in Sibirien oder Kasachstan gelegenen ursprünglichen Deportationsorten kamen die Deutschen in den Ural und den europäischen Norden, nach Ostsibirien und in den Fernen Osten, nach Mittelasien und in einige weitere Regionen.

Im Zuge der unmittelbar nach Kriegsende erfolgten Wanderungsbewegungen nahm die deutsche Sondersiedlung ihre endgültige Form an. Nach Angaben des NKWD lebten nach Stand zum 1. Oktober 1948 insgesamt 1.012.754 Deutsche in der Sondersiedlung, bei denen allerdings die über 100.000 Deutschen nicht mitgezählt waren, die schon vor dem Krieg im Ural, in Sibirien, im Fernen Osten, in Kasachstan, in Mittelasien und in einigen weiteren Regionen gelebt hatten und nie deportiert oder zur Arbeitsarmee eingezogen worden waren und zunächst das „Glück“ hatten, nicht unter die Ordnung der Sondersiedlung zu fallen, was allerdings nicht von Dauer sein sollte.

Ganz egal, wo die Deutschen lebten und arbeiteten, ob sie in Stadt oder auf dem Land ansässig waren, ob sie in der Industrie, im Bauwesen, im Transportwesen oder in der Landwirtschaft tätig waren, ihr Leben war unglaublich hart und durch niedrige Geburten- und hohe Mortalitätsraten geprägt. So starben allein in Kasachstan im Zeitraum zwischen April 1944 und Juli 1949 19.500 Personen, was etwa 8% aller dort lebenden Deutschen entsprach. Wie sich den Dokumenten des NKWD/MWD entnehmen lässt, waren es vor allem die unmenschlichen Lebens- und Arbeitsbedingungen, der Hunger sowie eine im Jahr 1944 grassierende Typhusepidemie, denen die Leute zum Opfer fielen. Insgesamt gab es nach den  Daten des NKWD im Zeitraum vom 1. Januar 1942 bis zum 1. Oktober 1948 unter den Deutschen 25.800 Geburten und 45.300 Sterbefälle. Selbst diese längst nicht vollständigen Daten zeigen anschaulich, dass es unter den Deutschen in den Kriegsjahren fast doppelt so viele Sterbefälle wie Geburten gab, was für extrem harte Lebensbedingungen spricht.

 

Verhärtung des Regimes. Diskriminierung der Deutschen

Nach den Nöten der Vorkriegszeit und den beispiellosen Leiden des Krieges hofften die Bürger der Sowjetunion, dass der unter solch großen Opfern errungene Sieg ihr Leben von Grund auf zum Besseren wenden werde.

Dabei waren die Erwartungen der Menschen nicht nur eine spürbare Besserung ihrer materiellen Lage gerichtet, was zweifelsohne im Vordergrund stand, sondern auch auf eine Lockerung der politischen und ideologischen Beschränkungen. Aber Stalin dachte gar nicht daran, Zugeständnisse zu machen, und beantwortete die Hoffnungen des Volkes und dessen Streben nach Freiheit und Demokratie mit immer neuen Repressionen.

Mit der Rückkehr zur Friedensordnung stellten die Behörden alle Bereiche des öffentlichen Lebens unter immer strengere Kontrolle. Eine ideologische und politische Kampagne folgte auf die andere und sie alle gingen mit massenhaften Repressionen einher. Die Bauern wurden für „Verstöße gegen die Kolchosordnung“, die Arbeiter für „Verstöße gegen die Arbeitsdisziplin“ und die Angehörigen der Intelligenz für „bourgeoise Entartung und Kriecherei vor dem Ausland“ repressiert. In den Jahren 1945-48 kamen zudem Hunderttausende frühere Kriegsgefangene und „Kollaborateure“ in die Gefängnisse, Lager und Sondersiedlungen, die in den Dokumenten des NKWD/MWD pauschal als „Wlassow-Leute“ firmierten.

Besonders große Ausmaße nahmen die Repressionen im Jahr 1948 an. So fasste die Sowjetführung am 21. Februar 1948 den geheimen Beschluss, alle Personen, die ihre im Zuge des Großen Terrors der 1930er Jahre verhängten Freiheitsstrafen bereits verbüßt hatten, erneut zu verurteilen oder „auf ewig“ in die Sondersiedlung zu schicken. In diese Kategorie fielen auch die zu diesem Zeitpunkt bereits volljährigen Kinder der Opfer. Am 2. Juni 1948 ordnete das Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR per Dekret an, alle in den Kolchosen ansässigen Personen, die „keiner gesellschaftlich nützlichen Arbeit nachgingen und ein gesellschaftsfeindliches parasitäres Leben“ führten, in entfernte Regionen des Landes auszusiedeln, woraufhin über 33.000 Kolchosbauern, die die festgelegte Zahl an Arbeitstagen nicht erfüllt hatten, in die Sondersiedlung kamen. Zugleich kamen immer weitere „Mitglieder der Organisation Ukrainischer Nationalisten“, „Kulaken“ und „konterrevolutionäre Elemente“ aus der Westukraine, Westweißrussland und dem Baltikum, so dass die Zahl der Sondersiedler schnell anstieg.

Natürlich waren sowohl die alten als auch die neu hinzugekommenen Sondersiedler mit ihrer Lage unzufrieden, da sie sich für unschuldig hielten – zumal der Krieg vorbei war und das Land zum friedlichen Leben überging. Diese Unzufriedenheit schlug sich in zahlreichen Fluchtversuchen sowie einem allgemeinen Anstieg der Zahl „antisowjetisch“ motivierter Straftaten nieder, worauf die Behörden ihrerseits mit immer neuen Strafmaßnahmen reagierten.

Am 26. November 1948 erließ das Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR das als „streng geheim“ deklarierte Dekret „Über die strafrechtliche Verantwortung für die Flucht aus den verpflichtenden und ständigen Siedlungsorten von während des Vaterländischen Kriegs in entfernte Regionen der Sowjetunion ausgesiedelten Personen“, das keinen Zweifel daran ließ, dass die Deutschen wie auch alle anderen in den Kriegsjahren in die Sondersiedlung geschickten Volksgruppen „auf ewig“ und ohne das Recht auf Rückkehr an die früheren Wohnorte an ihren Verbannungsorten bleiben sollten. Was die strafrechtliche Behandlung von Fluchtversuchen betraf, ging das Dekret vom 26. November 1948 noch über die Beschlussfassung des Rats der Volkskommissare vom 8. Januar 1945 hinaus, indem es das eigenmächtige Verlassen der Orte der verpflichtenden Siedlung nicht nur zu einem strafrechtlich zu verfolgenden Tatbestand erklärte, sondern darüber hinaus auch ein für alle Fälle geltendes drakonisches Strafmaß von zwanzig Jahren Arbeitslager festlegte. Noch darüber hinaus sollten alle die Flucht von Sondersiedlern betreffenden Fälle nicht mehr vor einem gewöhnlichen Gericht, sondern vor der Sondersitzung beim Ministerium für Innere Angelegenheiten der UdSSR verhandelt werden, die für ihre ungewöhnliche Härte bekannt war. Für Personen, die Flüchtenden halfen, diese versteckten oder ihnen halfen, sich wieder am früheren Wohnort niederzulassen, waren fünf Jahre Freiheitsentzug vorgesehen.

Für die Sondersiedler war das Dekret des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR ein schwerer Schlag, hatten sie doch nach dem Krieg mehrheitlich auf eine allmähliche Abschaffung oder wenigstens Lockerung des Sondersiedlungssystems gehofft. Nun aber war diese Hoffnung zerschlagen. Für die Sondersiedler hatte die Anwendung des Dekrets vom 26. November 1948 weitreichende Folgen, lag doch ihr Schicksal jetzt mehr als jemals zuvor in den Händen der Sonderkommandanten, in deren Ermessen es stand, welches Verhalten als Flucht zu werten war. So stieg die Zahl der Verhaftungen und Verurteilungen steil an und viele Sondersiedler, unter denen auch zahlreiche Frauen und alte Männer waren, wurden zu zwanzig Jahren Arbeitslager verurteilt, obwohl sie ihre Ortschaft vielleicht nur verlassen hatten, um im Nachbardorf lebende Verwandte zu besuchen oder im Wald nach Pilzen und Beeren zu suchen. So begannen die schwersten Jahre der Sondersiedlung, die bis zum Tod Stalins bzw. bis zum Beginn des „Tauwetters“ anhalten sollten.

In den Jahren 1949-53 stieg die Zahl der Sondersiedler weiter an, da immer neue Gruppen von Sowjetbürgern hinzukamen. 1949 wurden über 100.000 im Ural, in Sibirien, im Fernen Osten, in Mittelasien und in einigen weiteren Regionen ansässige Deutsche in das Sondersiedlungssystem überführt, die das Subkontingent der sogenannten „Ortsansässigen“ bildeten. Im gleichen Jahr wurden im Zuge einer als „Säuberung der Schwarzmeerküste“ betitelten Sonderoperation insgesamt 57.700 Personen aus Georgien, Armenien und Aserbaidschan, aus dem Nordkaukasus, von der Krim und aus der Südukraine in die Sondersiedlung überführt. 1950 wurden etwa 5.000 ortsansässige Iraner aus Georgien und etwa 3.000 „frühere Basmatschi“ mit ihren Familien aus Mittelasien in die Sondersiedlung gebracht.

1951 kamen insgesamt 4.000 frühere Angehörige der polnischen Armee von General Anders aus der Westukraine und Westweißrussland in die Sondersiedlung, die nach dem Krieg aus Großbritannien in die UdSSR repatriiert worden waren. Am 23. Juli 1951 ordnete das Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR per Dekret „Maßnahmen zur Bekämpfung eines parasitären Lebensstils“ an, mit denen die Sowjetführung gegen Vagabundentum, Bettelei und Prostitution vorgehen wollte, für die in der sozialistischen Gesellschaft angeblich kein Platz war. Auch die von der Umsetzung dieses Dekrets betroffenen Personen kamen in die Sondersiedlung.

Nach Stand zum 1. Januar 1953 waren in der Sowjetunion insgesamt 2.753.400 Personen als Sondersiedler erfasst. Unter diesen stellten die Deutschen mit insgesamt 1.224.900 Menschen bzw. 44,5% das mit Abstand größte Kontingent, gefolgt von „Nordkaukasiern“ (Tschetschenen, Inguschen, Balkaren, Karatschaiern u.a.), deren Anteil mit 498.400 Menschen oder gerade einmal 18% bereits deutlich kleiner war.

Das „deutsche“ Kontingent war seinerseits noch einmal in 855.800 Ausgesiedelte, 208.400 Repatriierte, 111.300 ursprünglich Ortsansässige, 48.500 Mobilisierte und 900 Sonstige unterteilt. Darüber hinaus wurden einzelne Deutsche auch in anderen Kategorien von Sondersiedlern und Repressierten geführt. So waren in der Kategorie „Zwangssiedler“ 160, im Kontingent „von der Krim“ 427, im Kontingent „Wlassow-Leute“ über 2.000, und im Kontingent „Polen“ 38 Personen aufgelistet, bei denen es sich um Deutsche handelte. Hinzu kamen noch etwa 1.000 als „Volksdeutsche“ oder „deutsche Helfershelfer“ geführte Personen. Außerdem befanden sich zu diesem Zeitpunkt insgesamt 13.900 Sowjetdeutsche im Gefängnis oder in Lagerhaft, die nach der Entlassung zu ihren an den Orten der Sondersiedlung lebenden Verwandten und Freunden kamen.

Deutsche Sondersiedlungen gab es fast über das gesamte Gebiet der Sowjetunion verstreut. In der RSFSR lebten insgesamt 707.200 Deutsche, die sich sehr ungleichmäßig über die Republik verteilten. Die meisten waren in Westsibirien (338.100) und im Ural (198.600) ansässig, deutlich weniger in anderen Regionen. Nichtsdestotrotz gab es selbst in jenen Regionen deutsche Sondersiedlungen, aus denen die Deutschen 1941 deportiert worden waren. Im europäischen Teil der RSFSR lebten 83.300 deutsche Sondersiedler. Was die anderen Sowjetrepubliken betrifft, gab es mit 448.600 Personen die meisten Deutschen in Kasachstan, die sich mehr oder weniger gleichmäßig über das Gebiet der Republik verteilten. Relativ viele Deutsche lebten in Tadschikistan (28.200) und Kirgistan (15.700).

Wie sich Tabelle 1 entnehmen lässt, arbeiteten die Deutschen in den verschiedensten Bereichen der Volkswirtschaft.

 

Tabelle 1.

Verteilung der arbeitsfähigen deutschen Bevölkerung nach Zweigen der Volkswirtschaft der UdSSR in den Jahren 1953-55 (in Prozent aller Arbeitenden)

 

Zweig der Volkswirtschaft

In den entsprechenden Zweigen der Volkswirtschaft tätige Deutsche (in Prozent)

Landwirtschaft

Kohlebergbau

Bauwirtschaft

Waldgewerbe

lokale Industrie

Hüttenwirtschaft

Ölindustrie

Eisenbahntransport

Papier- und holzverarbeitende Industrie

Andere Bereiche

51,5

11,2

6,9

6,0

5,0

3,6

2,6

1,5

1,4

10,3

 

Waren vor dem Krieg noch über 90% der in der Sowjetunion lebenden Deutschen in der Landwirtschaft tätig gewesen und hatten im Dorf gelebt, hatte sich die Situation nach dem Krieg grundlegend geändert. Fast die Hälfte der arbeitsfähigen deutschen Bevölkerung war in verschiedenen Bereichen der Industrie, im Transportwesen oder im Bauwesen tätig, was eine direkte Folge der Mobilisierung zur Arbeitsarmee darstellte. In der Praxis arbeiteten viele frühere Arbeitsarmisten auch nach der Auflösung der Arbeitsbataillone und Arbeitskolonnen noch viele Jahre in den gleichen Objekten weiter, in denen sie ihren Arbeitsdienst geleistet hatten.

Während der gesamten fünfzehn Jahre ihres Lebens unter den Bedingungen der Sondersiedlung (1941-55) war die über das gesamte Gebiet der Sowjetunion verstreut lebende deutsche Bevölkerung vollständig der Möglichkeit beraubt, ihre nationale Identität zu pflegen und zu bewahren. Angesichts der in der Gesellschaft herrschenden Stimmung sahen sich die Deutschen gezwungen, im öffentlichen Raum und auf der Arbeit ausschließlich Russisch zu sprechen, und unterhielten sich allenfalls im engsten Kreis der Familie auf Deutsch. Es gab keine Möglichkeit, in der Muttersprache zu lesen oder zu schreiben oder die traditionellen Sitten und Gebräuche und die Volkskultur (Rituale, Lieder, Tänze usw.) zu pflegen. Alles, was in irgendeiner Weise mit Religion zu tun hatte, war de facto verboten. All dies hatte vor allem für die jüngere Generation verheerende Folgen. So wurden die kurz vor dem Krieg, während des Kriegs oder in den Nachkriegsjahren geborenen jungen Deutschen jeglicher Möglichkeit beraubt, in ihrer Muttersprache zu lernen bzw. diese überhaupt zu erlernen.

Die überaus harten Lebens- und Arbeitsbedingungen und der ständige Überlebenskampf ließen den Eltern keine Gelegenheit, ihren Kindern die nötige Aufmerksamkeit zukommen zu lassen oder ihnen gar die Traditionen der nationalen Kultur zu vermitteln. Und auch die Erwachsenen selbst standen unter massivem Anpassungsdruck und verloren allmählich ihre nationale Identität, bildeten neue Gewohnheiten aus und übernahmen Sitten und Gebräuche sowie Elemente der Alltagskultur ihrer Umwelt. In ländlichen Regionen und insbesondere in den in Sibirien, Kasachstan und Mittelasien gelegenen traditionellen Siedlungsgebieten der Deutschen vollzogen sich diese Prozesse langsamer, in den Städten und Arbeitersiedlungen, in denen nur wenige Deutsche lebten, schneller.

In der Sondersiedlung wurden die Deutschen nicht nur aufgrund ihrer Volkszugehörigkeit diskriminiert,  sondern auch vieler allgemeiner bürgerlicher Rechte beraubt. Ihr gesamtes Leben war von Beschränkungen und Verboten geprägt, die oft schlicht absurd waren. Das musste 1953 sogar der Minister für Innere Angelegenheiten der UdSSR Sergei Kruglow zugeben: „Vor Ort werden die Rechte der Sondersiedler oft verletzt. Ohne Not wird ein übermäßig hartes Regime eingerichtet. Die Sondersiedler dürfen sich im Alltag nicht frei bewegen und unterliegen bei der Kommandantur strengen Meldepflichten. Wenn sie auf Dienstreisen gehen oder zur medizinischen Behandlung oder zu Lehre und Studium den Ort verlassen müssen, sind sie mit zahlreichen Hindernissen konfrontiert, weswegen sie viele Beschwerden einreichen.“

Die Sondersiedler hatten keine Pässe, was sie de facto zu Ausgestoßenen machte, für die schon die Aufnahme einer Arbeit oder auch nur die Annahme einer Postsendung ein großes Problem darstellte. Sie wurden nicht zum Wehrdienst einberufen und durften weder bei der Miliz oder anderen Sicherheitsbehörden arbeiten noch einer irgendwie wichtigen Tätigkeit im Staatsdienst, in Unternehmen sowie im Gesundheits-, Bildungs- oder Kulturbereich nachgehen. Ihre Kinder waren bis zur Vollendung des 16. Lebensjahres mit der Familie registriert und wurden dann selbst „vollwertige“ Sondersiedler. Auch wenn die jungen Sondersiedler auf dem Papier berechtigt waren, ein Studium oder eine qualifizierte Ausbildung zu absolvieren, war dies in der Praxis meist nicht möglich, da sich die meisten Hochschulen, Fachoberschulen und sonstigen Lehranstalten außerhalb der Sondersiedlungszone befanden, die sie nicht verlassen durften.

Je länger die Sondersiedlung nach dem Krieg fortbestand, desto deutlicher trat zutage, wie unnötig, absurd und sogar schädlich sie war, da sie die Bürger der UdSSR künstlich in zwei Klassen teilte und dadurch der Stabilisierung der sowjetischen Gesellschaft im Wege stand. Bei den zentralen Partei- und Staatsorganen gingen unzählige von Sondersiedlern verfasste Briefe ein, in denen diese die Machthaber von ihrer Loyalität zu überzeugen versuchten und darum baten, die Sondersiedlung oder wenigstens einige ihrer besonders erniedrigenden Beschränkungen aufzuheben.

So schrieb z.B. die junge Deutsche Katharina Haag in einem Gesuch, in dem sie um Aufhebung der Beschränkungen der Sondersiedlung bat, dass ihre deutsche Volkszugehörigkeit nicht Grundlage für eine Einschränkung ihrer Rechte sein dürfe: „Ich habe keinerlei Verbrechen begangen. Mein ganzes Leben lang habe ich aufrichtig und gewissenhaft für das Wohl meiner geliebten Heimat gearbeitet. Meine Lage ist moralisch niederschmetternd.“

In einem an die Regierung gerichteten Schreiben begründete N. Diehl seine Bitte um Entlassung aus der Sondersiedlung damit, dass er von Beginn des Vaterländischen Kriegs bis zum 1. September 1941 für seine sozialistische Heimat gekämpft habe und schwer verwundet und ins Lazarett gebracht worden sei. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt sei er Invalide des Großen Vaterländischen Kriegs und mit einer Medaille ausgezeichnet worden.

M. Litawer wandte sich mit der Erklärung an den Vorsitzenden des Ministerrats der UdSSR, dass er den gesamten Krieg über in der Arbeitsarmee gewesen sei und nun in einer Kohlegrube in Workuta arbeite. Sein Brief endete mit den folgenden Worten: „1954 wurde ich für vorbildliche und langjährige Arbeit in der Kohleindustrie durch Erlass des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR mit dem Leninorden ausgezeichnet. Ich bitte den Ministerrat der UdSSR […] mich aus der Sondersiedlung zu nehmen“.

Nichtsdestotrotz konnte zu Lebzeiten Stalins, als die Sondersiedlung stetig wuchs und immer neue Kontingente hinzukamen, von deren Abschaffung oder auch nur Abmilderung keine Rede sein.

 

Die Auflösung der deutschen Sondersiedlung

Nach Stalins Tod kam es innerhalb der höchsten Führung des Landes über mehrere Monate zu einem Kampf um seine Nachfolge. Einige Zeit sah es so aus, als könne sich Lawrenti Berija, der zu diesem Zeitpunkt Stellvertretender Vorsitzender des Ministerrats der UdSSR und Minister für Innere Angelegenheiten und Staatssicherheit war, in diesem Kampf durchsetzen. In seiner Eigenschaft als Chef der Geheimdienste war Berija über alle Vorgänge und Stimmungen in der Gesellschaft bestens informiert und kannte alle „neuralgischen Punkte“ des Sowjetsystems. Zusammen mit Georgi Malenkow, der zu dieser Zeit Chef des Ministerrats war, begann er im Frühjahr 1953, einige weitgehende Reformen voranzutreiben, unter denen auch eine gewisse Lockerung des Repressionssystems war. So gab es Pläne, die Zahl der Sondersiedler deutlich zu reduzieren und einige die rechtliche Stellung der Sondersiedler betreffende Beschränkungen aufzuheben. Während die meisten von Berija angestoßenen Reformen nach dessen Verhaftung (26. Juni 1953) und Ausschaltung gestoppt wurden, hielt Berijas Nachfolger auf dem Posten des Innenministers Sergei Kruglow nicht nur an dessen die Sondersiedler betreffenden Plänen fest, sondern trieb diese sogar noch weiter voran. So legte er dem ZK der KPdSU, dem Ministerrat der UdSSR und dem Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR im September 1953 eine leicht überarbeitete Fassung der die Sondersiedlung betreffenden Pläne vor, der zufolge es nicht mehr zweckmäßig sein sollte, drei Millionen Menschen in der Sondersiedlung zu halten, da die Sondersiedler in ihrer großen Mehrheit keine Gefahr für die Sowjetordnung und die sozialistische Rechtsordnung darstellten, den Maßnahmen der Sowjetmacht positiv gegenüberstünden, ehrlich arbeiteten, an den Siedlungsorten sesshaft geworden seien und sich aktiv am gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben des Landes beteiligen würden.

Insgesamt sollten etwa zwei Millionen Menschen aus der Sondersiedlung genommen werden, unter denen die 1941 aus dem europäischen Teil der UdSSR ausgesiedelten und dauerhaft in anderen Regionen des Landes lebenden Sowjetdeutschen die größte einzelne Gruppe stellten. Hinzu kamen einige weitere bereits vor dem Krieg oder in den Kriegsjahren ausgesiedelte Völker (Kalmücken, Polen, Griechen, Türken, Kurden, Hemşinli u.a.), alle bereits in den Jahren 1929-31 aus den Regionen der flächendeckenden Kollektivierung ausgesiedelten „Kulaken“ sowie all jene, die bereits nach dem Krieg im Zuge der „Bekämpfung eines parasitären Lebensstils“ in die Sondersiedlung gekommen waren.

Als weitere aus der Sondersiedlung zu nehmende Gruppen wurden Kinder, die zum Zeitpunkt ihrer Deportation das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hatten, Kommunisten, Komsomolzen, Ordensträger mit ihren Familien, Familienmitglieder von Personen, die bei der Verteidigung der Heimat gefallen waren, Alte (Frauen im Alter von über 55 und Männer im Alter von über 60 Jahren) sowie Invaliden genannt.

Außerdem sollten zahlreiche Regelungen zurückgenommen werden, auf deren Grundlage all diese Leute in die Sondersiedlung gekommen waren.

Die Neuerungen standen unter dem Vorbehalt, dass die früheren Sondersiedler nach ihrer Entlassung keinen Anspruch auf Rückgabe ihres bei der Deportation zurückgelassenen Besitzes haben sollten. Auch wenn an keiner Stelle gesagt wurde, dass den früheren Sondersiedlern eine Rückkehr an ihre früheren Wohnorte verboten sein sollte, wurden doch zahlreiche Maßnahmen genannt, die darauf abzielten, die aus der Sondersiedlung entlassenen Personen an ihren aktuellen Wohnorten zu halten. So sollten sie z.B. für den Bau eigener Häuser bestimmte langfristige Darlehen in Höhe von bis zu 10.000 Rubeln erhalten (bei einer Laufzeit von zehn Jahren) und in den Genuss der für den Hohen Norden und Sibirien vorgesehenen Privilegien kommen.

Rund 800.000 Personen sollten – zwar nicht mehr auf unbestimmte Zeit, aber doch für die folgenden fünf Jahre – in der Sondersiedlung bleiben. Zu diesem Personenkreis zählten neben den nordkaukasischen Völkern, den Krimtataren, den nach dem Krieg aus der Ukraine, Weißrussland, dem Baltikum und Bessarabien deportierten „Mitgliedern der Organisation Ukrainischer Nationalisten“ und „antisowjetischen Elementen“ sowie einigen weiteren Gruppen auch die sowjetdeutschen Repatrianten, deren Zahl in dem Dokument mit 138.700 Personen angegeben wurde. Begründet wurden diese Ausnahmen damit, dass die genannten Bevölkerungsgruppen besonders sowjetfeindlich eingestellt seien.

Auch das Regime der Sondersiedlung selbst sollte weitgehend gelockert werden. So sollten die Sondersiedler innerhalb ihres Rayons Freizügigkeit genießen, sofern sie die Sonderkommandantur über einen Wohnortwechsel in Kenntnis setzten, und mit einer entsprechenden Erlaubnis der zuständigen Verwaltung des NKWD sogar über die Grenzen des Rayons hinaus innerhalb ihres Gebiets, ihrer Region oder ihrer Republik den Wohnort wechseln oder den Siedlungsort zeitlich befristet verlassen dürfen. Außerdem sollten sie nur noch alle drei Monate persönlich bei der Sonderkommandantur vorsprechen müssen, um ihren Meldepflichten nachzukommen. Zudem sollten die besonders repressiven Bestimmungen des Dekrets des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 26. November 1948 außer Kraft gesetzt, alle auf deren Grundlage Verurteilten freigelassen und die entsprechenden Vorstrafen gestrichen werden. Verstöße gegen die Regeln der Sondersiedlung sollten nach geltendem Strafrecht vor ordentlichen Gerichten verhandelt werden. Arreststrafen wurden als Maßnahmen zur Bestrafung der Sondersiedler abgeschafft.

Neben diesem im Ministerium für Innere Angelegenheiten der UdSSR ausgearbeiteten Dokument wurden auch die Entwürfe einer Beschlussfassung des Ministerrats der UdSSR und eines Dekrets des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR ausgearbeitet und an die entsprechenden Instanzen übergeben, in denen es ebenfalls um eine mögliche Änderung des Systems der Sondersiedlung ging.

Wären die Vorschläge des Ministeriums für Innere Angelegenheiten umgesetzt worden, hätte die überwältigende Mehrheit der Sowjetdeutschen (mit Ausnahme der Repatrianten) bereits Ende 1953 aus der Sondersiedlung befreit werden können. Aber die Sowjetführung scheute sich letztlich, einen solch radikalen Weg einzuschlagen. Auch wenn dabei in einem gewissen Maße ein „Anti-Berija-Reflex“ eine Rolle gespielt haben dürfte (schließlich hatte das von diesem geführte Ministerium die Vorschläge ausgearbeitet), war die Entscheidung letztlich wohl vor allem von der Sorge getragen, dass es die gesellschaftliche Lage destabilisiert hätte, wenn eine so große Zahl aus der Sondersiedlung entlassener Leute zeitgleich an ihre früheren Wohnorte zurückgekehrt wäre und dort womöglich auf eine Rückgabe ihrer Wohnungen und ihres bei den Deportionen verlorenen Besitzes gedrängt hätte. Darüber hinaus spielte sicherlich auch eine Rolle, dass gerade erst etwa 1.200.000 Kriminelle amnestiert und aus der Haft entlassen worden waren (aufgrund eines auf die Initiative Berijas zurückgehenden Dekrets des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 27. Mai 1953), unter denen auch zahlreiche notorische Verbrecher und Wiederholungstäter waren, wodurch die öffentliche Ordnung massiv gestört wurde. Sicherlich wirkte sich dies auch auf andere Entscheidungen aus, die wie die Aufhebung des Sondersiedlungssystems das Potential hatten, die Lage weiter zu destabilisieren.

Die oberste Führung des Landes teilte grundsätzlich die Auffassung des Innenministeriums, dass die Sondersiedlung nach und nach abgeschafft werden müsse, sorgte aber durch zahlreiche Korrekturen dafür, dass sich die Umsetzung der Pläne über gut drei Jahre hinzog.

So dauerte es ein ganzes Jahr, bis das ZK der KPdSU und der Ministerrat der UdSSR am 5. Juli 1954 die gemeinsame Beschlussfassung „Über die Aufhebung einiger Einschränkungen der rechtlichen Stellung der Sondersiedler“ verabschiedeten, die eine stufenweise und vergleichsweise langsame Reduzierung der Zahl und der Kategorien der Sondersiedler sowie eine gewisse Liberalisierung der für diese geltenden Regeln vorsah.

Gemäß dieser Beschlussfassung erhielten die Sondersiedler das Recht, sich innerhalb der Grenzen ihrer Republik, ihrer Region oder ihres Gebiets frei zu bewegen, ungehindert Dienstreisen zu unternehmen sowie zur ärztlichen Behandlung, zu Verwandtenbesuchen oder aus anderen triftigen Gründen entsprechend den für alle Sowjetbürger geltenden Regeln jeden Ort der UdSSR aufzusuchen. Eine persönliche Meldepflicht bestand nur noch einmal im Jahr.

Durch die gleiche Beschlussfassung wurden auch alle Kinder im Alter von unter 16 Jahren sowie ältere Kinder, die eine Hochschule oder mittlere Lehranstalt besuchten (unter diese Kategorie fielen gerade einmal 2.800 Personen), vom Regime der Sondersiedlung ausgenommen. Für die Deutschen bedeutete dies die Befreiung von etwa 400.000 Menschen.

Am 13. August 1954 erschien eine weitere Beschlussfassung des ZK der KPdSU und des Ministerrats der UdSSR, der zufolge das Sondersiedlungsregime für „frühere Kulaken“ (für die es schon seit der Kollektivierung galt) sowie für die in Sibirien, im Fernen Osten, in Kasachstan, in Mittelasien und an anderen Orten, aus denen nicht deportiert worden war, lebenden Deutschen einschließlich früherer Arbeitsarmisten dieser Kategorie aufgehoben wurde. Auf diese Weise wurden weitere 105.800 deutschstämmige Sowjetbürger aus der Sondersiedlung befreit.

Am 10. März 1955 verpflichtete der Ministerrat der UdSSR die zuständigen Stellen, den Sondersiedlern sowjetische Pässe auszustellen und setzte so diesem moralisch höchst fragwürdigen Aspekt ihrer Diskriminierung ein Ende.

Am 23. März 1955 erlaubte das ZK der KPdSU auf Vorschlag der Ministerien für Verteidigung und für Innere Angelegenheiten, die meisten Kategorien von Sondersiedlern einschließlich der Deutschen beginnend mit den Geburtsjahrgängen 1936/37 zum regulären Wehrdienst einzuberufen. Am gleichen Tag folgte eine entsprechende Anordnung des Ministerrats der UdSSR, der zufolge die zum Wehrdienst einberufenen 19-jährigen jungen Männer nicht mehr als Sondersiedler geführt werden sollten.

Am 9. Mai 1955 wurde das Sondersiedlungsregime für Mitglieder und Kandidaten der KPdSU und deren Familien aufgehoben, wovon etwa 5.000 Deutsche betroffen waren.

Auch wenn auf diese Weise bis zum Frühjahr 1955 über 500.000 Sowjetdeutsche aus der Sondersiedlung entlassen wurden, blieben immer noch über 700.000 Deutsche, für die die Beschränkungen weiterhin galten.

Während die beschriebenen Schritte im allgemeinen Kontext der von der neuen sowjetischen Führung betriebenen Politik standen, die Sondersiedlungen als Bestandteil des aufgeblähten Repressionsapparats der Stalinzeit nach und nach abzuschaffen, kamen schon bald außenpolitische Überlegungen als ein neuer Faktor hinzu, der das Schicksal der Sowjetdeutschen beeinflussen sollte. Diese standen im Zusammenhang mit der Aufnahme und Entwicklung der Beziehungen der UdSSR zur Bundesrepublik Deutschland nach 1954.

Zu dieser Zeit war die UdSSR bestrebt, den Beitritt der Bundesrepublik zur NATO und deren Integration in die sozio-ökonomischen und militärisch-politischen Strukturen des Westens zu verhindern, und trat deshalb für die Gründung eines vereinten neutralen Deutschlands ein. Am 25. Januar 1955 verabschiedete das Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR den Erlass „Über die Beendigung des Kriegszustands zwischen der Sowjetunion und Deutschland“, der dem Kampf der Sowjetdeutschen für die Abschüttelung des Jochs der Sondersiedlung einen entscheidenden Anstoß gab und den Strom entsprechender an verschiedene Partei- und Staatsinstanzen adressierter Briefe merklich anschwellen ließ. So gingen allein beim Vorsitzenden des Ministerrats der UdSSR Nikolai Bulganin im Zeitraum zwischen Februar und Juni 1955 etwa 2.000 von deutschen Sondersiedlern verfasste Briefe ein. Die Gesamtzahl solcher Briefe lag im ersten Halbjahr 1955 bei mehreren zehntausend. Die bei den meisten Sowjetdeutschen zu dieser Zeit vorherrschende Stimmung kommt wohl am deutlichsten in dem folgenden Brief zum Ausdruck, mit dem sich N. Kielgast an Bulganin wandte: „Der Krieg ist bereits seit zehn Jahren vorbei. Durch den Erlass des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 25. Januar 1955 sind alle Rechte unserer Feinde – der 'echten' Deutschen – wiederhergestellt. Ich aber befinde mich ausschließlich aufgrund der Tatsache, dass meine fernen Vorfahren aus Deutschland stammten, bis zum heutigen Tag in der Lage eines Bürgers, der aus unerfindlichen Gründen und auf unabsehbare Zeit in seinen Rechten beschnitten ist. Irgendwie passt das nicht mit der von unserer Partei und Regierung verfolgten Nationalitätenpolitik zusammen.“

Im Juli 1955 kamen die Regierungsbeamten nach Sichtung der bis zu diesem Zeitpunkt beim Ministerrat der UdSSR eingegangenen Berge von Briefen zu dem folgenden Schluss: „Die Beschwerden der Sondersiedler über die dauerhafte Einschränkung ihrer Rechte und ihre fortdauernde Aufsicht durch die Sonderkommandanturen des Ministeriums für Innere Angelegenheiten allein aufgrund ihrer Volkszugehörigkeit verdienen Beachtung. Die Zeit ist offenbar reif, einige die Sondersiedlung betreffende Beschlüsse zu überprüfen.“ Es folgte aber sogleich der Vorbehalt, dass es kaum sinnvoll sei, alle Sondersiedler auf einen Schlag aus der Sonderaufsicht zu entlassen, da diese in einigen Regionen (Workuta, Karaganda, Uchta u.a.) einen erheblichen Teil der in Industrie und Landwirtschaft beschäftigten Arbeitskräfte stellten, von denen viele im Falle einer Aufhebung der Sondersiedlung in andere Regionen des Landes ziehen könnten, was entsprechende volkswirtschaftliche Schäden nach sich ziehen würde. Des Weiteren wurde empfohlen, die betreffenden Bürger allmählich und über mehrere Jahre gestreckt aus der Aufsicht der Sonderkommandanturen zu entlassen und entsprechende Maßnahmen zu ergreifen, um die früheren Sondersiedler an ihren Siedlungsorten in Arbeit zu bringen und am Wohnort zu halten. Genau so ging die Sowjetführung fortan mit Blick auf die Sondersiedler vor.

Derweil begannen die UdSSR und Westdeutschland die Vorbereitungen für die Aufnahme diplomatischer Beziehungen. Eine der grundlegenden von der bundesdeutschen Regierung in diesem Kontext gegenüber dem Verhandlungspartner vorbrachten Fragen war die Freilassung und Heimkehr der noch in der Sowjetunion befindlichen Kriegsgefangenen und der bei Kriegsende bzw. in den ersten Nachkriegsmonaten in die UdSSR verschleppten Zivilisten. Zur Kategorie der „Zivilisten“ wurden dabei auch jene sowjetdeutschen Repatrianten gezählt, die sich in den Jahren 1943-45 auf deutschem Gebiet befunden und die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten hatten, die die Bundesregierung per Gesetz vom 22. Februar 1955 anerkannt hatte.

Bei den Moskauer Verhandlungen nannte Konrad Adenauer gegenüber Bulganin im September 1955 eine Zahl von über 130.000 Deutschen, die in den Kriegsjahren die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten und in der Zeit seit Stalins Tod ihren Wunsch auf Ausreise aus der UdSSR erklärt hätten.

Die von Ansprüchen solchen Ausmaßes kalt erwischte Sowjetführung sah sich gezwungen, die Ausreise dieser Deutschen aus der UdSSR zu versprechen, machte jedoch den Vorbehalt, dass die reale Existenz dieser 130.000 ausreisewilligen Personen noch zu verifizieren sei.

Auch nach der Aufnahme diplomatischer Beziehungen konnte die Sowjetführung aus ideologischen und politischen Erwägungen nicht zulassen, dass eine so große Zahl ihrer Bürger das sowjetische „Paradies“ freiwillig gegen die „kapitalistische Versklavung“ eintauschte, und legte den Ausreisewilligen deshalb alle erdenklichen Steine in den Weg. Gleichzeitig wurde – wie dies schon mehrfach der Fall gewesen war – unter der deutschen Bevölkerung der UdSSR eine Propagandakampagne im Geiste des „sowjetischen sozialistischen Patriotismus“ organisiert. Sollte diese Kampagne Aussicht auf Erfolg haben, war es nötig, erstens die deutschen Repatrianten in der großen Masse der dem Sowjetregime gegenüber weit loyaleren übrigen deutschen Bevölkerung der UdSSR aufgehen zu lassen und zweitens die Lebensbedingungen der Deutschen spürbar zu bessern.

Aus eben diesem Grund wurden die Sowjetdeutschen als erste nationale Gruppe aus dem Regime der Sondersiedlung entlassen. Per Dekret des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 13. Dezember 1955 wurden für ausnahmslos alle zu diesem Zeitpunkt noch in Sondersiedlungen lebenden Deutschen die entsprechenden Beschränkungen aufgehoben. Ungeachtet der Befreiung aus der Sondersiedlung bestanden eine Reihe diskriminierender Maßnahmen allerdings auch weiterhin fort. So wurde eine Rückgabe des bei der Aussiedlung konfiszierten Besitzes ebenso explizit ausgeschlossen wie die Rückkehr an jene Orte, aus denen sie ausgesiedelt worden waren. Außerdem wurden in dem Erlass alle nationalen Minderheitenrechte der Deutschen auf Bewahrung von Sprache, Kultur, Traditionen usw. vollständig ignoriert. Nichtsdestotrotz ist die Aufhebung der deutschen Sondersiedlung als wichtiger Schritt auf dem Weg zur rechtlichen Gleichstellung der Deutschen mit anderen Sowjetbürgern anzusehen. Sie wurde zum Ausgangspunkt der äußerst langsamen, äußerst inkonsequenten und widersprüchlichen staatlichen Rehabilitation der Deutschen, die bis zum heutigen Tag anhält.

Literatur

Autoren: German A.

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