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KEHRER, Rudolf Richardowitsch

Rubrik: Biographische Beiträge (Personalien)

KEHRER, Rudolf Richardowitsch, *10. Juli 1923 in Tiflis, † 29. Oktober 2013 in Berlin. Pianist und Musikpädagoge, Verdienter Künstler der RSFSR, Volkskünstler der RSFSR (1983).

Kehrer entstammte einer Musikerfamilie. Vor der Revolution hatten sein Vater und Großvater eine Reparaturwerkstatt für Musikinstrumente. Nach 1917 war sein Vater als Klavierstimmer am Tifliser Konservatorium tätig. Seine ersten Klavierstunden erhielt der junge Rudolf Kehrer bei Erna Krause, die in Deutschland am Konservatorium studiert hatte. Schon im Alter von acht Jahren konnte er regelmäßig Gastspiele international bekannter Musiker besuchen, die auch im Haus seiner Eltern verkehrten. Unter diesen war unter anderem Egon Petri, ein Schüler und Nachfolger Ferruccio Busonis, dessen Ratschläge Kehrer sein Leben lang in Erinnerung blieben.

1935 kam der zu diesem Zeitpunkt gerade einmal zwölfjährige Rudolf Kehrer zusammen mit einigen anderen hochbegabten Kindern an das Tifliser Konservatorium, wo er von Anna Tulaschwili, einer Schülerin des französischen Pianisten Lazare Lévy, unterrichtet wurde, die die Manier seines Klavierspiels prägte und ihm  ein Vorspiel bei Heinrich Neuhaus vermittelte, der zu diesem Zeitpunkt am Moskauer Konservatorium lehrte. Diese Pläne wurden durch den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs durchkreuzt.

Bereits 1939 war Kehrers Vater als „Volksfeind“ verhaftet worden. 1943 erhielt die Familie ohne jede Auskunft zu den näheren Umständen die Nachricht von seinem Tod. 1941 teilte Kehrer das Schicksal der allermeisten russlanddeutschen Familien und wurde nach Mittelasien deportiert, wo er mit seiner Mutter in der Siedlung Slawjanka lebte, während sein als Arzt tätiger Bruder zur Arbeitsarmee eingezogen wurde. An eine wie auch immer geartete Beschäftigung mit Musik war in diesen Jahren nicht zu denken.

Nach dem Krieg wechselte die Familie mehrfach den Wohnort. 1949 erhielt Rudolf Kehrer die Erlaubnis, am Pädagogischen Institut der Stadt Schimkent ein Fernstudium aufzunehmen. Wenn er in die Stadt fuhr, um Prüfungen abzulegen, was zweimal im Jahr für zehn Tage der Fall war, unterlag er strengen Meldepflichten. Nach Abschluss seines Studiums arbeitete Kehrer als Mathematiklehrer an einer allgemeinbildenden Schule.

1953 erhielt die Familie die Erlaubnis, sich in der Stadt niederzulassen. 1954 wurde Kehrer am Taschkenter Konservatorium aufgenommen, wo er direkt mit dem dritten Studienjahr anfangen durfte und bei Wissarion Slonim und Selma Tamarkina studierte, die vor ihrer Evakuierung am Leningrader Konservatorium gelehrt hatten. Zu dieser Zeit lernte der Musiker alle Nuancen der musikalischen Darbietung und erhielt nach Abschluss seines Studiums im Jahr 1957 das Angebot, am Konservatorium zu bleiben. Zu dieser Zeit hatte Kehrer bereits zwei Söhne. Seine Frau war eine Polin, deren Familie ebenfalls deportiert worden war. Die ganze Familie einschließlich von Kehrers Mutter und Bruder folgte ihm nach Taschkent.

1961 nahm Kehrer mit einer Sondergenehmigung am Allunionswettbewerb der Musikinterpreten teil (eigentlich hatte der zu diesem Zeitpunkt 37 Jahre alte Kehrer die offizielle Altersgrenze von 32 Jahren bereits überschritten). Nach Gewinn des 1. Preises wurde er noch im selben Jahr auf einen Lehrstuhl am Moskauer Konservatorium berufen.

Der russische Musikwissenschaftler und Musikpsychologe Gennadi Zypin erklärte Kehrers Erfolg beim verwöhnten hauptstädtischen Publikum mit dem Umstand, dass dieser keiner der beiden bekannten Pianistenschulen (weder der Moskauer noch der Leningrader Schule) angehörte und seinen ganz eigenen Stil entwickelt hatte. Kehrer begeisterte mit seinen Interpretationen so schwieriger Werke wie des „Mephisto-Walzers“ und der f-Moll Etüde (Études d’exécution transcendante) von Franz Liszt, des „Themas mit Variationen“ von Alexander Glasunow und des Ersten Klavierkonzerts von Sergej Prokofjew und insbesondere der Ouverture des Tannhäuser von Wagner und Liszt, von deren Interpretation sich die Moskauer Kritik ganz besonders beeindruckt zeigte.

In den Jahren 1961-90 lebte Kehrer mit seiner Familie in Moskau, widmete sich der Arbeit mit seinen Schülern und gab zahlreiche Gastspiele in der gesamten Sowjetunion. In späteren Jahren durfte er ins sozialistische Ausland und einmal sogar nach Westdeutschland reisen.

Die meisten Kritiker sind sich einig, dass Kehrer seine größten Erfolge als Interpret Beethovens feierte, dessen Werke er immer wieder zur Aufführung brachte. Der kühne und freie Charakter von Beethovens Werken, ihr gebieterischer Ton und die starken emotionalen Kontraste – all dies harmonierte perfekt mit Kehrer ausdrucksstarker Persönlichkeit. Als Kehrer 1963 in Juri Wyschinskis Fernsehfilm „Appasionata“ die Rolle des Pianisten Issay Dobrowen spielte, fand seine Interpretation der Sonate Beethovens ein Millionenpublikum.

Unter Kehrers Schülern waren der berühmte brasilianische Pianist und Preisträger des IV. Tschaikowski-Wettbewerbs Arthur Moreira-Lima, die tschechische Pianistin und Preisträgerin des VII. Tschaikowski-Wettberwerbs Božena Steinerová, die Preisträgerin des VIII. Tschaikowski-Wettbewerbs Irina Plotnikowa sowie zahlreiche weitere sowjetische und ausländische Pianisten.

1990 reiste Kehrer nach Österreich, wo er als Jurymitglied eingeladen war. Wenig später wurde er als Gastprofessor an die Wiener Musikhochschule berufen, wo er mehrere Jahre blieb.

Kehrer war ein leidenschaftlicher Pädagoge und nannte die Lehrtätigkeit einen „ehrlichen Dienst an der Musik“, der zudem auch für die eigene Kunst überaus hilfreich sei: „Wenn du mit Studenten arbeitest, siehst du alles viel klarer als wenn du es selbst machst.“ Seine letzten Lebensjahre verbrachte Kehrer in Berlin, wo er auf dem Friedhof Schöneberg III begraben ist.

Kehrer selbst fiel es nicht leicht zu bestimmen, wo seine Heimat war. „Ich habe achtzehn Jahre in Tiflis (Georgien), dreizehn Jahre in Kasachstan, sieben Jahre in Taschkent (wo ich gelernt und unterrichtet habe), 29 Jahre in Moskau und acht Jahre in Wien gelebt. Gut fühle ich mich unter guten Leuten und gute Leute finden sich überall.“

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