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WEHRPFLICHTWEHRPFLICHT IM RUSSISCHEN REICH (1874-1917), historisch gewachsene und später durch entsprechende Gesetzesakte bekräftigte Verpflichtung der Bürger, in den Streitkräften ihres Landes Wehrdienst zu leisten

Rubrik: Politische Geschichte

WEHRPFLICHT IM RUSSISCHEN REICH (1874-1917),historisch gewachsene und später durch entsprechende Gesetzesakte bekräftigte Verpflichtung der Bürger, in den Streitkräften ihres Landes Wehrdienst zu leisten.  Die seit Mitte des 18. Jahrhunderts in großer Zahl in Russland siedelnden deutschen Kolonisten waren aufgrund des Manifests Katharinas II. vom 22. Juli 1763 vom Kriegsdienst und entsprechend auch von der Wehrpflicht befreit. Dieses Privileg bestand bis Anfang der 1870er Jahre über hundert Jahre lang fort.

Am 1. Januar 1874 wurde in Russland die Wehrpflicht nach dem Prinzip eines individuellen Pflichtdienstes aller Staatsbürger, d.h. die allgemeine Wehrpflicht eingeführt. Nachdem sie drei Jahre zuvor ihren Sonderstatus und die mit diesem verbundenen Privilegien verloren hatten und allen anderen im Russischen Reich lebenden „Siedler-Eigentümern“ gleichgestellt worden waren, unterlagen nun auch die Kolonisten der Einberufung zum Wehrdienst.

Das Gesetz über die Wehrpflicht von 1874 übernahm das bereits zuvor praktizierte System des „Losverfahrens“, das Anwendung fand, wenn die Zahl der Wehrpflichtigen die Zahl der tatsächlich zum Wehrdienst Eingezogenen überstieg, schaffte aber die Möglichkeit ab, sich vom Wehrdienst freizukaufen oder einen Stellvertreter zu schicken (die einzige Ausnahme stellte die Möglichkeit dar, den Wehrdienst von einem Bruder oder Cousin ableisten zu lassen). Das Einberufungsalter lag bei 21 Jahren. Die Gesamtdauer des Dienstes betrug bei den Landstreitkräften 15 Jahre, die sich in eine sechsjährige aktive Dienstzeit und neun Jahre in der Reserve unterteilten. Bei der Marine betrug die Gesamtdauer des Dienstes zehn Jahre, davon sieben Jahre im aktiven Dienst und drei Jahre in der Reserve. In späteren Jahren wurde die Dauer des aktiven Dienstes auf fünf (1876), vier (1878) und nach dem Russisch-Japanischen Krieg von 1904/05 auf drei Jahre abgesenkt, um die Zahl der Reservisten zu erhöhen, die eine militärische Grundausbildung durchlaufen hatten.

Nach dem Gesetz von 1874 (bzw. späteren Neufassungen des Gesetzes) wurden die jungen Männer nur dann zum Wehrdienst eingezogen, wenn ihre Familien über mehrere Arbeitskräfte verfügten. Jedes Jahr wurden fast 54% der jungen Männer von der Ableistung des aktiven Dienstes befreit, in den meisten Fällen aus familiären Gründen. Bis zu 6% der Rekruten wurden wegen „Untauglichkeit“ oder aus gesundheitlichen Gründen zurückgestellt.

Die Einführung der Wehrpflicht weckte bei der deutschen Bevölkerung Russlands Besorgnis und Zukunftsängste und zog einen Anstieg der Emigrationszahlen nach sich. So reisten in den Jahren 1874-1881 allein aus dem Gouvernement Saratow etwa 500 Familien aus, was etwa 2% der in dem Gouvernement ansässigen deutschen Bevölkerung entsprach. Recht bald legte sich allerdings die Besorgnis, da die Zahl der tatsächlich zum Militärdienst einberufenen Kolonisten vergleichsweise gering blieb. So schickten die Wolgadeutschen jedes Jahr nur gerade einmal 800 bis 1.500 Rekruten zur Armee. Der Verlust einer solchen vergleichsweise geringen Zahl an Arbeitskräften war für die Wirtschaften der Kolonisten ohne größere Schäden zu verkraften.

Entschieden ablehnend standen dem Wehrdienst die Mennoniten gegenüber, deren Glaubenslehre den Dienst an der Waffe grundsätzlich verbot. Gerade die Mennoniten stellten das Gros der Emigranten, die Russland nach 1874 den Rücken kehrten. Aber recht bald konnte die russische Regierung das Problem lösen, indem sie den Mennoniten gestattete, den Militärdienst durch einen alternativen Zivildienst zu ersetzen, den diese vor allem in sogenannten Waldkommandos ableisteten (Aufforstungsarbeiten in den Steppenregionen des Schwarzmeergebiets, des Wolgagebiets und in anderen Regionen).

Angesichts der vergleichsweise geringen Einberufungszahlen fanden sich die Kolonisten recht schnell mit der Wehrpflicht ab: “Mit der Zeit wurde der Wehrdienst für die Kolonisten zu einer  gewöhnlichen Sache, und beim Lesen der Briefe, in denen die Emigranten die schwierigen Lebensumstände in der Neuen Welt beschrieben, erschien der Militärdienst als das kleinere Übel“, bemerkte einer der deutschen Rekruten jener Jahre.

Die Einberufung zum Militärdienst fand jeweils im Herbst nach Abschluss der Erntekampagne statt. Zunächst wurden die Deutschen in gemischten Einberufungszentren gemustert, aber mit steigenden Rekrutenzahlen wurden immer mehr eigene, ausschließlich für die Einberufung der Deutschen zuständige Musterungsstützpunkte eingerichtet, was das Einberufungsverfahren dank des Einsatzes deutschsprachiger Spezialisten erheblich vereinfachte.

Allmählich bildete sich ein eigenes Einberufungsritual heraus, an dem auch Vertreter der katholischen und der lutherischen Kirche aktiv mitwirkten, die sich in eigens abgehaltenen Gottesdiensten mit „sehr energischen Reden“ an die Rekruten wandten, in ihren Predigten die Heiligkeit des militärischen Eides und die Notwendigkeit der Existenz von Truppen unterstrichen und zur gewissenhaften Erfüllung der Wehrpflicht aufriefen. Die Predigt schloss mit dem Ausruf „Hoch dem Herrn Imperator und dem ganzen Zarenhaus“. Nach Beendigung des religiösen Rituals prüften und verlasen die für die Einberufung zuständigen Amtspersonen die Liste der Rekruten und gaben diesen Gelegenheit, Fragen zu stellen und Einwände gegen die Einberufung vorzubringen. Nach einer 15-minütigen Pause wurde das Losverfahren durchgeführt, in dessen Verlauf jeder Rekrut eine Nummer ziehen musste. Am nächsten Morgen riefen die für die Einberufung zuständigen Amtspersonen die Namen der durch Los bestimmten Rekruten aus, die zu einem bestimmten Datum an den Einberufungspunkten erscheinen mussten, um zur Truppe geschickt zu werden.

Soweit sich den Berichten der verantwortlichen Amtspersonen entnehmen lässt, kam es in allen Jahren der Einberufung deutscher Rekruten in keinem der Aushebungsbezirke jemals zu Unruhen. Die gleichen Personen wiesen allerdings mehrfach darauf hin, dass die deutschen Kolonisten ihrem Unmut gegenüber der Einberufung in Form von „unwilliger Zustimmung“ Ausdruck verliehen, was sich zum Teil durch den vorübergehenden Verlust von Arbeitskraft, in größerem Maße aber durch die Sorge um die eigenen Söhne erklären ließ.

Bis zum Russisch-Japanischen Krieg von 1904–05 wurden deutsche Reservisten nie zum tatsächlichen Kriegsdienst eingezogen. Während des Russisch-Türkischen Kriegs von 1877/78 hatte es noch keine deutschen Reservisten gegeben, da zu diesem Zeitpunkt noch kein einziger Kolonist vollständig seine Dienstzeit abgeleistet hatte. In den folgenden Jahren (bis 1904) hatten die den Reihen der Kolonisten entstammenden Reservisten keine besonderen Verpflichtungen zu erfüllen, da sie ausgesprochen selten zu militärischen Übungen einberufen wurden, die zudem nicht lange dauerten.

Nach ihrer Demobilisierung kehrten die Soldaten mit allen Ehren in ihre Dörfer zurück. Durch den Dienst in der Armee und den damit verbundenen Kontakt zu Angehörigen anderer Völker Russlands konnten sie in der Regel ihren Horizont erweitern und hoben sich positiv von ihren Dorfnachbarn ab. So berichteten Kolonisten beispielsweise, dass die von der Armee zurückgekehrten Männer „in den Versammlungen die Alten und jene, die nicht in der Armee gedient hatten, in den Hintergrund drängten“. Dank des Dienstes in der Armee lernten die Deutschen die russische Sprache, lebten nicht mehr abgeschottet von anderen Völkern in ihren angestammten Siedlungsgebieten und konnten Verbindungen zu ihren russischen und sonstigen Nachbarn aufbauen und festigen.

In den ersten dreißig Jahren ihres Bestehens hatte die allgemeine Wehrpflicht für die deutsche Bevölkerung vergleichsweise glimpfliche Folgen und wirkte sich kaum negativ auf ihre Lebensweise aus. Das sollte sich allerdings mit Ausbruch des Russisch-Japanischen Krieges schlagartig ändern, als erstmals in größerem Umfang Reservisten mobilisiert wurden, wovon auch Zehntausende Kolonisten betroffen waren. Die Mobilisierung von bis zu 25% der männlichen Dorfbevölkerung versetzte sowohl der Wirtschaft als auch allen anderen Lebensbereichen der deutschen Kolonien einen schweren Schlag. Berichten der örtlichen Beamten zufolge „waren einige Familien nicht einmal in der Lage auszusäen und mussten ihr Land verpachten“. Die Semstwo-Verwaltungen berichteten, dass der Krieg die Kolonisten in Aufruhr versetzte, die nicht nur Angst um ihre Söhne, Brüder und Väter hatten, sondern angesichts des Mangels an männlicher Arbeitskraft auch erhebliche ökonomische Schwierigkeiten fürchteten.

Für eine entschieden ablehnende Haltung zum Krieg sorgten unter den Deutschen die von der Front eingehenden Briefe deutscher Soldaten, in denen diese berichteten, dass sie schlecht ausgerüstet und schlecht ernährt würden, hungern und Gras fressen müssten, unter freiem Himmel schliefen und an zahlreichen Erkrankungen litten. Für Unmut sorgte zudem auch der Umstand, dass die auf dem Schlachtfeld Gefallenen ohne entsprechende religiöse Rituale beerdigt wurden.

Die traditionell abgeschottet von ihrer Umgebung lebenden Kolonisten, die vor allem ihrem Grund und Boden und der friedfertigen landwirtschaftlichen Arbeit verbunden waren, konnten nicht verstehen, warum der Zar ihren Söhnen und Brüdern ungekannte Schwierigkeiten und Entbehrungen abverlangte. Die zunehmende Ablehnung dieser vom Staat verfolgten Politik verschaffte sich in unterschiedlichen Formen Ausdruck. So führte die Angst vor dem Krieg, mit dem sie nach eigener Einschätzung nicht das geringste zu tun hatten, zu einem Anwachsen des Emigrantenstroms, wobei viele der betroffenen Personen illegal ausreisten.

Viele Kolonisten, die sich in der Vergangenheit nie für die Frage ihrer Staatsangehörigkeit interessiert hatten, begannen nun, auf ihre deutsche Staatsangehörigkeit zu verweisen und sich für ihre Rückkehr in die „historische Heimat“ einzusetzen, um dem Krieg zu entgehen. Dass dieser bei den Kolonisten plötzlich aufflammende „reichsdeutsche Patriotismus“ letztlich nur vorgeschoben war, zeigt die „Geographie“ der Emigration: Sobald sie die Grenzen des Russischen Reiches verlassen hatten, führte die Suche nach besseren Lebensumständen die überwiegende Mehrheit der Russlanddeutschen nicht etwa nach Deutschland, sondern nach Amerika.

Nach dem Russisch-Japanischen Krieg wurden infolge der erheblichen Vergrößerung der Streitkräfte deutlich mehr Deutsche mobilisiert, was ihrer Wirtschaft und ihrer traditionellen Lebensweise einen immer größeren Schaden zufügte. Das galt für ganz Russland. Die undurchdachte Politik in militärischen Fragen führte zu einem Autoritätsverlust der Armee und des Wehrdienstes und zu einer Zunahme der Versuche russischer Bürger unterschiedlicher Nationalität, sich der Einberufung zu entziehen. Nichtsdestotrotz schrieb die Zeitschrift „Wojennyj Sbornik“ im Jahr 1915: „Mit der Vergrößerung der Streitkräfte und der allmählichen Verkürzung der Dauer des aktiven Wehrdienstes stieg auch die Zahl der Rekruten, aber längst nicht proportional zum Bevölkerungswachstum. Der Anstieg der Zahl des Kontingents lag anderthalb Mal über dem natürlichen Bevölkerungswachstum“.

Nach 1905 nahmen unter den Deutschen die Fälle von Wehrdienstverweigerung zu. 1912 erreichte diese in einzelnen Bezirken des Wolgagebiets und des Südens 30% und lag damit deutlich über den entsprechenden Werten der russischen Bevölkerung (4%). Nichtsdestotrotz erschien die überwältigende Mehrheit der Deutschen im Einberufungsalter in den Musterungsstützpunkten und trat ihren Dienst in der Armee an. Viele von ihnen beteiligten sich an den Kriegen und kriegerischen Konflikten, die Russland Anfang des 20. Jahrhunderts führte.

Der Erste Weltkrieg führte zu einer hinsichtlich ihres Ausmaßes beispiellosen Mobilisierung der Deutschen zum Militärdienst nicht nur in den regulären Streitkräften, sondern auch in der Staatlichen Volkswehr. Zugleich schlug den Russlanddeutschen von Seiten der russischen Führung und des Militärkommandos vor dem Hintergrund unaufhörlicher antideutscher Kampagnen immer größeres Misstrauen entgegen und praktisch alle deutschen Rekruten wurden erniedrigender Diskriminierung ausgesetzt. Bereits von Herbst 1914 an wurden sie nicht mehr an der russisch-deutschen oder russisch-österreichischen Front eingesetzt. Deutsche, die dort bereits dienten, wurden abberufen und systematisch an die Kaukasus-Front versetzt. Insgesamt wurden in den Jahren 1914–15 über 17.000 deutsche Kriegsdienstleistende von den westlichen Fronten in den Kaukasus abkommandiert.

Nachdem die in den westlichen Gouvernements Russlands lebende deutsche Bevölkerung zu „Feinden“ erklärt worden war und ihre Deportation in die östlichen Landesteile begonnen hatte, wurden dieser Kategorie angehörige Deutsche praktisch nicht mehr zum Kriegsdienst einberufen. Im weiteren Verlauf wurden Deutsche vor allem aus dem Wolgagebiet und aus dem Militärbezirk Kasan einberufen. Insgesamt wurden vom Zeitpunkt des Kriegsbeginns bis Februar 1917 über 50.000 Deutsche aus dem Wolgagebiet zum Kriegsdienst einberufen. Sie alle kamen von wenigen Ausnahmen abgesehen ebenfalls an die Kaukasusfront.

Insgesamt wurden während des Krieges etwa 4.000 Deutsche in kämpfende Einheiten kommandiert (in die Infanterie), wobei jeweils zehn Mann in ein Regiment kamen, die wiederum auf verschiedene Züge und Abteilungen verteilt wurden. Bitten einiger Kommandeure, die Zahl der Deutschen pro Regiment auf 15 zu erhöhen, wurden „kategorisch abgelehnt“. Ein Teil der deutschen Kriegsdienstleistenden wurde zu Kosakentruppen abkommandiert. Zu Kavalleriehundertschaften kamen jeweils 15, zu Aufklärungs- und Infanteriehundertschaften jeweils 25 Mann, die von den Kosaken größtenteils als Arbeitskräfte bei der Errichtung von Biwaks und Stellungen eingesetzt wurden. Angesichts der feindseligen Einstellung der Kosaken gegenüber den deutschen Kolonisten äußerten deren Atamane allerdings aus Furcht vor eigenmächtigen Racheakten mehrfach Zweifel an der Praxis, deutsche Kolonisten in ihren Einheiten als Hilfskräfte einzusetzen. Die große Masse der Deutschen diente an der Kaukasusfront in Reserve- und Hinterlandbrigaden sowie in Arbeitskompanien, die dem Chef des militärischen Transportwesens und dem Bezirksintendanten unterstellt waren.

Je weiter die russischen Truppen auf türkisches Territorium vorstießen, desto dringender stellte sich dem Kommando der Kaukasusarmee das Problem, die im Zuge der Kampfhandlungen zerstörte Infrastruktur (Straßen, Brücken, Häfen, Eisenbahnstationen, Befestigungsanlagen, Festungen usw.) wiederaufzubauen. Die Hauptlast der mit dieser Aufgabe verbundenen Arbeiten trugen die zu einem großen Teil aus Deutschen bestehenden Reservebataillone und Arbeitskommandos. Konkret wurden die Deutschen zusammen mit türkischen Kriegsgefangenen als Arbeitskräfte für Schanzarbeiten bei der Verstärkung der Festung Erzurum, des Hafens von Trabzon, der Straße von Sarıkamış usw. eingesetzt.

Die Diskriminierung der deutschen Rekruten und deren faktische Verwandlung in Kriegsgefangene blieben nicht ohne Gegenreaktion. Die zuvor immer um Gesetzestreue bemühten Deutschen wurden schnell revolutioniert. Die Zahl der Deserteure nahm zu. Nach der Februar- und Oktoberrevolution nahm der unter den deutschen Kriegsdienstleistenden zu verzeichnende Zersetzungsprozess drastische Züge an. Gerade die in ihre Kolonien zurückkehrenden Frontkämpfer wurden dort zu einer Stütze der neuen Macht, gründeten Sowjets, bauten die Rote Garde auf und brachen mit der traditionellen Lebensweise der Kolonisten. Nach der Errichtung der Sowjetmacht wurde die Wehrpflicht neu geregelt. 

Literatur

Шульга И.И. Немцы Поволжья в российских вооруженных силах: воинская служба как фактор формирования патриотического сознания. М.: МСНК-пресс, 2008; Герман А.А. Подвиг ефрейтора Эрентраута: Российские немцы в годы Первой мировой войны // Родина. 2014. № 8. Специальный выпуск «Великая война 1914-1918». С. 118-120;

Autoren: German A., Schulga I.

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