POLITIK DER „EINWURZELUNG“ IN DER ASSR DER WOLGADEUTSCHEN, in den 1920er Jahren betriebene politisch-administrative Kampagne, die die Rolle der deutschen Sprache als Sprache der Titularnation der Republik der Wolgadeutschen in allen Bereichen des öffentlichen Lebens stärken solte und zugleich den Gebrauch aller drei Amtssprachen der ASSR der Wolgadeutschen (Russisch, Deutsch, Ukrainisch) regelte. Die Politik der „Einwurzelung“ wurde wenige Monate nach der Umwandlung des Autonomen Gebiets der Wolgadeutschen in die Deutsche Republik eingeleitet. Am 19. Mai 1924 verabschiedete das Zentralexekutivkomitee der ASSR der Wolgadeutschen in seiner 2. Sitzungsperiode die „Instruktion zur Einführung der Nationalsprache in der ASSR der Wolgadeutschen“, deren Zielsetzung darin bestand, den Apparat der Republik der Lebenswelt der Bevölkerung anzupassen, letztere aktiv in den Aufbau einzubeziehen und die Akzeptanz und Verständlichkeit der von der Sowjetmacht herausgegeben Dekrete und Kodexe zu erhöhen. Aufgrund dieser Instruktion sollten alle Dörfer und Kantone mit zweisprachigen (Russisch und Deutsch) Ortsnamen bis zum 1. August 1924 zu einer rein „nationalen Namensgebung“ übergehen oder eine „revolutionäre Umbenennung“ beantragen. Alle Siegel, Stempel und Schilder sollten in den deutschen und deutsch-russisch gemischten Kantonen und Dörfern zweisprachig (deutsch und russisch), in den ukrainischen Dörfern ukrainisch und russisch und in den russischen Kantonen und Dörfern russisch sein. Alle Bescheinigungen, Vollmachten, Diplome, Zeugnisse und sonstigen Dokumente von republikweiter Bedeutung sollten zweisprachig ausgefertigt werden. Alle von den staalichen Organen der Republik ausgehenden offiziellen Befehle, Verordnungen, Anweisungen usw. sollten sowohl mündlich als auch schriftlich in der Presse zweisprachig verkündet werden. In den Kantonen und Dörfern sollte der offizielle Schriftverkehr in der Sprache des Volkes erfolgen, das in der entsprechenden Ortschaft die Mehrheit stellte, sofern es sich um eine der drei Amtssprachen handelte. In den Dörfern, deren Bewohner eine andere Sprache sprachen (Tatarisch, Kasachisch, Estnisch usw) durfte die Ortssprache nur im „inneren Schriftverkehr“ genutzt werden, während die Korrespondenz solcher Dörfer mit den Kantons- und Republiksbehörden sowie mit anderen Dörfern in einer der drei Amtssprachen erfolgen sollte. Verschiedensprachige Kantone und Dörfer kommunizierten untereinander auf Russisch. Kantonseinrichtungen waren befugt, die Korrespondenz mit den Republiksbehörden in der in ihrem Kanton gebräuchlichen Sprache zu führen. Die zentralen Einrichtungen der ASSR der Wolgadeutschen durften ihren internen Schriftverkehr in russischer Sprache führen, mussten Anfragen lokaler Stellen oder von Privatpersonen aber in der Sprache der Anfrage beantworten. Die Korrespondenz mit deutschen Kantonen sollte ausschließlich in deutscher Sprache erfolgen. Dokumente und Akten des Zentralexekutivkomitees und des Rats der Volkskommissare der UdSSR sollten in deutscher und russischer Sprache ausgefertigt werden. Die staatlichen Organe der ASSR der Wolgadeutschen waren angehalten, möglichst solche Personen zu beschäftigen, die der deutschen und (im Bedarfsfall) der ukrainischen Sprache mächtig waren. Um dieses Ziel zu erreichen, sollten junge deutsche und ukrainische Werktätige zum Studium abkommandiert werden und bei allen Republiks- und Kantonsorganen Deutsch- und Ukrainischkurse organisiert werden. In allen Schulen der Deutschen Republik sollte die Sprache der „entsprechenden Nationalität“ Unterrichtssprache sein, wobei in den deutschen und ukrainischen Schulen Russisch und in den höheren russischen und ukrainischen Schulen Deutsch Pflichtfach war. Alle staatlichen Institutionen der Republik der Wolgadeutschen waren angehalten, unverzüglich dafür zu sorgen, dass die breiten Massen der Bevölkerung mit ihnen in der örtlichen Sprache (Deutsch, Ukrainisch, Russisch) kommunizieren konnten.
In der Gebietshauptstadt Pokrowsk und in den Verwaltungszentren der Kantone sollten Kommissionen, denen der Vorsitzende des Zentralexekutivkomitees bzw. der Kantonsexekutivkomitees, der Volkskommissar für Bildung bzw. der Leiter der für Volksbildung zuständigen Kantonsabteilung sowie Vertreter der Partei- und Gewerkschaftsorgane der Republik bzw. der Kantone angehörten, die Umsetzung der „Instruktion über die Einführung der Nationalsprache in der ASSR der Wolgadeutschen“ kontrollieren. Außerdem waren alle staatlichen Organe verpflichtet, den ihnen übergeordneten Stellen regelmäßig Rechenschaft über die zur Umsetzung der „Einwurzelungspolitik“ geleisteten Maßnahmen abzulegen. Bei Bedarf sollten die staatlichen Organe der Republik von Elementen gesäubert werden, die die Umsetzung der Instruktion behinderten oder chauvinistisch eingestellt waren (ohne Ansicht der Nationalität). Als Stichtag für den Abschluss aller der „Einwurzelung“ dienenden Maßnahmen wurde der 1. Januar 1926 festgesetzt.
Die „Einwurzelungspolitik“ verfolgte das Ziel, in allen Partei-, Sowjet- und Wirtschaftseinrichtungen aus Deutschen bzw. der deutschen Sprache mächtigen Angehörigen anderer Nationalitäten bestehende Kader aufzubauen. Allerdings sollte sich in der Praxis schnell zeigen, dass sich eine den Vorgaben der Instruktion entsprechende „Einwurzelungspolitik“ in der Deutschen Republik nur schwer umsetzen ließ und in manchen Fällen auch gänzlich unrealistisch war, wobei die Widerstände gerade an der Spitze des Verwaltungsapparats am größten waren.
Sechs Monate nach dem ursprünglich für den Abschluss der „Einwurzelung“ anvisierten Stichtag fand am 13. Juli 1926 eine den „Resultaten der Nationalisierung des Sowjetapparats“ gewidmete Sitzung des Büros des Gebietsparteikomitees der WKP(b) der ASSR der Wolgadeutschen statt, die äußerst bescheidene Ergebnisse der „Einwurzelung“ konstatierte: Nur in vier Kantonen, in der Organisationsabteilung des Zentralexekutivkomitees und teilweise im Justizressort wurde der offizielle Schriftverkehr in deutscher Sprache geführt. Die meisten zentralen Behörden hatten nur unzureichende Anstrengungen zur Förderung der deutschen Sprache unternommen, was das Tempo der „Einwurzelung“ auch in den untergeordneten Organen bremste. Unter Verweis auf die große Bedeutung der „Einwurzelungspolitik“ für die Mobilisierung der breiten Massen forderte das Büro des Gebietskomitees, energische Maßnahmen zur Erfüllung der zuvor aufgestellten Pläne zu ergreifen. Allerdings war es nicht zuletzt der Parteiapparat selbst (wie das Büro des Gebietsparteikomitees der WKP(b) auf einer seiner Sitzungen im November 1926 feststellte), der einer konsequenteren Umsetzung der „Einwurzelungspolitik“ im Wege stand, da zahlreiche Parteifunktionäre aller Ebenen keine Deutschen waren, kein Deutsch sprachen und aufgrund ihres niedrigen Bildungsniveaus, wegen mangelnder Fähigkeiten und zuweilen auch schlicht aus Unlust nicht in der Lage waren, innerhalb der genannten Fristen die deutsche Sprache zu lernen.
Im Jahr 1927 musste das Gebietsparteikomitee der WKP(b) der ASSR der Wolgadeutschen auf seinem Maiplenum, auch wenn es die Dinge nicht direkt beim Namen nannte, de facto das Scheitern der „Einwurzelungspolitik“ eingestehen: In über drei Jahren war nicht einmal die Hälfte dessen erreicht, was in zwei Jahren hatte umgesetzt werden sollen. In allen Grundschulen der deutschen Dörfer, in neun Sieben- und Neunklassenschulen sowie an einigen Fachoberschulen war Deutsch als Unterrichtssprache eingeführt worden. Im offiziellen Schriftverkehr wurden Vordrucke, Stempel und Siegel mit deutschen und russischen Aufschriften eingesetzt. Einige Beschlussfassungen des Zentralexekutivkomitees und der Sowjetkongresse sowie einige weitere von den Führungsorganen verfasste Dokumente waren seit 1926 in deutscher Sprache erschienen, die deutschen Ortschaften waren vollständig umbenannt. Zugleich hatte praktisch keiner der Kantone, in denen dies vorgesehen war, den offiziellen Schriftverkehr seiner Partei-, Sowjet-, Gewerkschafts-, Komsomol-, Wirtschafts- und sonstigen Einrichtungen auf die deutsche Sprache umstellen können. In den Kantonen Seelman, Balzer, Pallasowka, Fjodorowka und Krasnyj Kut war der Übergang zur deutschen Sprache im Schriftverkehr nahezu vollständig ausgeblieben. Scharfer Kritik sah sich auch das Volkskommissariat für Bildung der ASSR der Wolgadeutschen ausgesetzt, das keine Kurse organisiert hatte, in denen die Mitarbeiter deutsche Aktenführung oder überhaupt Deutsch lernen konnten. Darüber hinaus wurde ein großer Mangel an deutscher Literatur sowie die „Lebensferne“ der mit der Einführung der Nationalsprache befassten Kommissionen beklagt. Als Gründe für das Scheitern der „Einwurzelungspolitik“ führte das Gebietsparteikomitee der WKP(b) der Deutschen Republik einige objektive Schwierigkeiten an: die Missernte von 1924 und deren Folgen, die viele Kräfte gebunden hatte, sowie eine unzureichende Finanzierung infolge der Tatsache, dass das Zentrum den für die Durchführung der „Einwurzelung“ eingereichten Haushaltsplan nicht bestätigt hatte. Zugleich räumte das Gebietskomitee aber auch eigene Fehler ein: Man habe die Arbeit nicht systematisch und entschlossen genug umgesetzt, zu einseitig auf den Staatsapparat gesetzt, den Wirtschafts-, Kooperativ- und Gesellschaftsorganisationen zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt und keine Maßmahmen ergriffen, um die Passivität bzw. den „offenen Unwillen und Widerstand“ des Apparats und der Führung der ein oder anderen Institution zu überwinden. Letzteres stellte neben den objektiven Schwierigkeiten tatsächlich einen der Hauptgründe für das Scheitern der „Einwurzelungspolitik“ dar: Der Ende der 1920er Jahre in den Partei-, Sowjet- und sonstigen Organen, Ministerien und Ämtern tätige internationalistisch orientierte bürokratische Apparat war mit dem Status quo vollauf zufrieden und sah keinerlei Veranlassung, den Forderungen nach „Einwurzelung“ nachzukommen, die ihm Anstrengungen abverlangten, die keinerlei konkrete Vorteile versprachen. Vor diesem Hintergund leisteten sowohl die russischsprachigen als auch die deutschen Bürokraten verdeckten Widerstand gegen die „Einwurzelung“.
Das Gebietsparteikomitee der WKP(b) der ASSR der Wolgadeutschen forderte auf seinem Maiplenum, die „Einwurzelung“ der Ämter und Organisationen der Republik künftig entschlossener durchzuführen und dabei vor allem darauf zu achten, die Rückständigen mitzuziehen. In seiner Beschlussfassung präzisierte und verschärfte das Plenum einige in der Instruktion von 1924 enthaltene Forderungen: Die Kenntnis der deutschen Sprache sollte für alle in den Ämtern beschäftigten Kader verpflichtend sein, die in den zentralen Behörden und in den deutschen bzw. gemischten Kantonen tätigen Parteiaktivisten russischer Nationalität sollten innerhalb von anderthalb Jahren Deutsch lernen usw.
Im Gefolge des Plenums wurde die „Einwurzelungspolitik“ zunehmend mit Zwangsmaßnahmen durchgesetzt, was nicht ohne „Exzesse“ blieb, die wiederum sowohl in den Kantonen als auch in einigen zentralen Behörden eine spürbare Verschlechterung des Verhältnisses zwischen Deutschen und Russen nach sich zogen. So kam es z.B. in der Parteiorganisation des Kantons Staraja Poltawka zu Konfllikten zwischen Deutschen und Russen, weil man versucht hatte, die russischsprachigen Kader in diesem praktisch durchgängig russischen Kanton zum Erlernen der deutschen Sprache zu zwingen. Und auch im Volkskommissariat für Landwirtschaft sorgte die Erhöhung des Zwangs bei der Umsetzung der „Einwurzelung“ für ernsthafte Konflikte.
Abgesehen von zunehmenden Spannungen zwischen den Nationalitäten brachte die Verschärfung der „Einwurzelungspolitik“ allerdings kaum spürbare Resultate. 1927 verabschiedete das Zentralexekutivkomitee der ASSR der Wolgadeutschen gleich zwei Beschlussfassungen (27. Mai und 10. Oktober), die alle staatlichen Ämter nachdrücklich aufforderten, Kalenderpläne für die Erfüllung der Einwurzelungsmaßnahmen aufzustellen, aber auch das trug kaum Früchte: Als das Büro des Gebietskomitees im März 1928 die Umsetzung der die „Einwurzelung“ betreffenden Direktiven in den Volkskommissariaten der ASSR der Wolgadeutschen ein weiteres Mal prüfte, zog es ein wenig tröstliches Fazit: Trotz einiger kleinerer Fortschritte wurde das „Einwurzelungsprogramm“ im Großen und Ganzen noch immer nur zögerlich und äußerst unorganisiert umgesetzt. Die Mitarbeiter der Volkskommissariate legten Gleichgültigkeit und Passivität an den Tag und besuchten keine Sprachkurse, um Deutschkenntnisse zu erwerben oder zu verbessern, weder die Parteizellen und Gewerkschaftsorgane noch die Führung der Volkskommissariate selbst versuchten mit der nötigen Ernsthaftigkeit, das Problem zu lösen. Das Büro des Gebietskomitees forderte, die Beschlussfassungen des Zentralexekutivkomitees der ASSR der Wolgadeutschen von 1927 konsequent umzusetzen, und beschloss, des Deutschen nicht mächtige Inspekteure in Zukunft durch Mitarbeiter zu ersetzen, die sowohl Deutsch als auch Russisch sprachen, um die Bevölkerung besser in ihrer Nationalsprache betreuen zu können. Allerdings war dieser Beschluss angesichts des extremen Mangels an qualifizierten Kadern praktisch nicht umzusetzen.
Neben wirtschaftspolitischen Maßnahmen wie der Getreidebeschaffung und der in allen Bereichen des öffentlichen Lebens zu verzeichnenden Zunahme des von den Behörden ausgeübten Drucks war es vor allem die „Einwurzelungspolitik“, die Ende der 1920er zu einer spürbaren Verschlechterung des Verhältnisses zwischen den in der Deutschen Republik lebenden Nationalitäten führte. Im Alltag kam es zu einer spürbaren Zunahme des russischen Nationalismus, der eine Reaktion der russischen Bevölkerung auf die in der Deutschen Republik durchgeführten Kampagnen darstellte.
Mit der Abkehr von der Neuen Ökonomischen Politik und dem Beginn des „Großen Umbruchs“ klang die ohnehin nur halbherzig geführte „Einwurzelungskampagne“ schnell ab und wurde von Ende 1934 an durch die in die entgegengesetzte Richtung laufende Kampagne des „Kampfes gegen den deutschen Nationalismus abgelöst.
Герман А.А. Немецкая автономия на Волге. 1918–1941. Саратов, 1994. Ч. 2. Автономная республика. 1924–1941.