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Narkomnaz , Volkskommissariat für Nationalitätenfragen, RSFSR (1917–23)

Rubrik: Politische Geschichte

VOLKSKOMMISSARIAT FÜR NATIONALITÄTENFRAGEN, auf dem Zweiten Allrussischen Sowjetkongress im Zuge der Bildung des Rats der Volkskommissare (Provisorische Arbeiter- und Bauernregierung) eingerichtetes Volkskommissariat, das vom 26. Oktober (8. November) 1917 bis zum 29. Juni 1923 für alle die in Sowjetrussland lebenden nationalen Minderheiten betreffenden Fragen verantwortlich war.

An der Spitze des Volkskommissariat stand Josif Stalin, dem zunächst Friedrich Rosin (Fricis Roziņš-Āzis) und von September 1918 an Stanislaw Pestkowski als Stellvertreter zur Seite standen. Als Sekretäre fungierten Nadeschda Allilujewa und von 1918 an Iwan Towstucha. Im März 1918 zog das Volkskommissariat für Nationalitätenfragen wie die gesamte Sowjetregierung nach Moskau. Am 30. September 1918 bestätigte der Rat der Volkskommissare die personelle Zusammensetzung des Kollegiums des Volkskommissariats, dem Vertreter der zu diesem Zeitpunkt bestehenden Nationalen Kommissariate angehörten (Litauisches, Lettisches, Polnisches, Jüdisches, Estnisches, Armenisches, Ukrainisches, Tschechoslowakisches und Muslimisches Kommissariat). Die Organisationsstrukturen des Volkskommissariats folgten der allgemeinen politischen Entwicklung im Land. So wurden neben den bereits genannten nationalen Kommissariaten auch für zahlreiche weitere nationale Minderheiten (Deutsche, Kirgisen bzw. Kasachen, Tschuwaschen, Esten, Kalmücken sowie die Bergvölker des Kaukasus) eigene nationale Abteilungen eingerichtet. An der Spitze der Deutschen Abteilung stand Gustav Klinger. Die einzelnen Abteilungen betrieben Agitation und Propaganda unter den jeweiligen nationalen Einheiten der Armee und waren auch für Tausende aus den westlichen Landesteilen geflohene Menschen zuständig, in deren Heimatregionen angesichts des entstandenen Machtvakuums zahlreiche Banden ihr Unwesen trieben.

Die Deklaration der Gleichheit der Nationen und des Selbstbestimmungsrechts der Völker wurde von den unter dem Zaren unterdrückten nationalen Minderheiten enthusiastisch aufgenommen. Im ganzen Land fanden nationale Konferenzen und Kongresse statt, auf denen Vertreter von Politik und Gesellschaft über die neue politische Ordnung diskutierten und Delegationen in die Hauptstadt entsandten, die dort mit der Regierung der RSFSR über Fragen der Selbstbestimmung verhandeln sollten. So kam im April 1918 auch eine russlanddeutsche Delegation nach Moskau, um dort mit Stalin über das Recht der deutschen Kolonisten auf Selbstverwaltung zu verhandeln. Im Verlauf der Gespräche signalisierte Stalin seine Bereitschaft, den Deutschen nicht nur das Recht auf Selbstverwaltung im Rahmen der sowjetischen Ordnung, sondern auch die Gründung einer autonomen Gebietskörperschaft an der Wolga zuzugestehen.

Die Delegation kehrte mit der von der Regierung ausgestellten Vollmacht nach Saratow zurück, das sogenannte Wolgakommissariat (Kommissariat für Deutsche Angelegenheiten im Wolgagebiet) zu gründen, dem neben dem bereits erwähnten Gustav Klinger auch die dem von Karl Liebknecht geführten linken Flügel der deutschen Sozialdemokratie nahestehenden früheren Kriegsgefangenen Karl Petin und Ernst Reuter sowie Georg Dinges angehörten. Innerhalb des Kommissariats für Deutsche Angelegenheiten im Wolgagebiet, dessen Gründung am 30. April 1918 offiziell verkündet wurde, wurden Abteilungen für Wirtschaft, Justiz, Kultur und Bildung eingerichtet. Laut Gründungsdokument sollte das Kommissariat vor allem dem Ziel dienen, die Selbstverwaltung der deutschen Kolonien auf sowjetischer Grundlage zu organisieren und einen Kongress der in den Kolonien lebenden Arbeiter und Armbauern vorzubereiten.

Das Gouvernementsexekutivkomitee in Saratow stand der Gründung eines eigenen wolgadeutschen Kommissariats ablehnend gegenüber, da man dort aufgrund der Erfahrung der fast 150 Jahre währenden Abschottung der deutschen Kolonien von der Außenwelt eine Vertiefung separatistischer Tendenzen und eine weitere Entfremdung zwischen Deutschen und Russen befürchtete. Auf den Sitzungen des Gouvernementsexekutivkomitees versuchte Reuter, die Saratower Führung davon zu überzeugen, dass es den deutschen Kolonisten nicht um die Errichtung einer „Autonomie im bourgeoisen Sinne“ gehe, es aber im unmittelbaren Interesse der deutschsprachigen Proletarier liege, ihre inneren Angelegenheiten im Rahmen der allgemeinen sowjetischen Ordnung in der Muttersprache zu regeln.

Im Volkskommissariat für Nationalitätenfragen weckten die Versuche der Saratower Führung, die Gründung einer deutschen Autonomie zu hintertreiben, angesichts der darin zum Ausdruck kommenden nationalistischen Untertöne altbekannte Befürchtungen. Zur Stärkung der Position des Wolgakommissariats unterzeichneten Stalin und Petrowski in ihrer Eigenschaft als Volkskommissare für Nationalitätenfragen bzw. Innere Angelegenheiten am 29. Mai 1918 das Allgemeine Statut des Kommissariats für Deutsche Angelegenheiten im Wolgagebiet, aufgrund dessen dieses die deutschen Kolonisten „im Einvernehmen mit den in den entsprechenden Gouvernements bestehenden Sowjets“ und „unter Berücksichtigung der Sprache sowie der Sitten und Gebräuche“ in Bezirkssowjets zusammenzuschließen sollte. Anordnungen der Gouvernements- und Bezirkssowjets, die die Interessen der deutschen Kolonien berührten, bedurften der Zustimmung des Kommissariats für Deutsche Angelegenheiten im Wolgagebiet.

Auf dem Ersten Sowjetkongress der deutschen Kolonien wurde das Führungspersonal des Kommissariats neu gewählt. In einer an Stalin adressierten Meldung unterstrichen Reuter und Klinger, dass das Wolgakommissariat durch diese Wahl zusätzliche Legitimität erhalten habe, weil es nun die Interessen des Volkskommissariats in den deutschen Siedlungsgebieten der Gouvernements Saratow und Samara vertreten könne, ohne als von der Zentralmacht installiertes Organ wahrgenommen zu werden. Nach dem Ersten Sowjetkongress der deutschen Kolonien ging die Zuständigkeit für die Verwaltung der deutschen Siedlungen auf das Wolgakommissariat und dessen Exekutivkomitee über, was die Saratower Gouvernements- und Bezirksbehörden allerdings nicht davon abhielt, die dem Kommissariat verliehenen Vollmachten demonstrativ zu ignorieren und die Umsetzung der staatlichen Nationalitätenpolitik sowohl offen als auch verdeckt zu hintertreiben. So zogen die Exekutivkomitees der Bezirke und Amtsbezirke z.B. auch in den deutschen Kolonien Getreideabgaben ein. Das Kommissariat für Deutsche Angelegenheiten im Wolgagebiet setzte das Volkskommissariat für Nationalitätenfragen über das willkürliche Vorgehen der örtlichen Behörden in Kenntnis, das seinerseits das Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten über die Beschneidung der Souveränitätsrechte der Wolgadeutschen informierte. Da beide Volkskommissariate dem Prinzip des Selbstbestimmungsrechts der Völker verpflichtet waren, forderte der zuständige Volkskommissar für Innere Angelegenheiten Grigori Petrowski die Exekutivkomitees des Gouvernements Saratow und der Bezirke Kamyschin, Atkarsk und Nowousensk ultimativ dazu auf, dem destruktiven Vorgehen der Bezirksexekutivkomitees ein Ende zu setzen und die im Allgemeinen Statut des Kommissariats für Deutsche Angelegenheiten im Wolgagebiet festgelegten Prinzipien bedingungslos einzuhalten. Im weiteren Verlauf seines Schreibens wies der Volkskommissar noch einmal explizit darauf hin, dass die in den Gouvernements Saratow und Samara bestehenden Sowjets der Bezirke und Amtsbezirke verpflichtet seien, „in enger Abstimmung mit dem Deutschen Kommissariat zu agieren und kein eigenmächtiges Vorgehen zu tolerieren“. Sollten sich die örtlichen Behörden den Anordnungen auch weiterhin widersetzen, werde das Volkskommissariat streng dagegen vorgehen und die Angelegenheit an das Revolutionsgericht weiterleiten.

Derweil trieb das Kommissariat für Deutsche Angelegenheiten im Wolgagebiet den Aufbau örtlicher Machtstrukturen voran und führte zu diesem Zweck zahlreiche Versammlungen durch, auf denen die Prinzipien der sowjetischen Nationalitätenpolitik sowie die Ziele und Aufgaben des Wolgakommissariats erklärt und die Exekutivkomitees der örtlichen Sowjets gewählt wurden.

Gestützt auf die am 10. Juli 1918 verabschiedete Verfassung der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik beschloss das Kommissariat für Deutsche Angelegenheiten im Wolgagebiet, die Gründung einer nationalstaatlichen deutschen Autonomie konkret in Angriff zu nehmen. Ende Juli 1918 fuhren Klinger und Petin nach Moskau, um die Details des Autonomieprojekt mit dem Volkskommissariat für Nationalitätenfragen auszuhandeln. Auch wenn die Abstimmung zahlreicher prinzipieller Fragen mit den Volkskommissariaten für Innere Angelegenheiten, Landwirtschaft und Bildung sowie einigen weiteren Ressorts viel Zeit in Anspruch nahm, wurde nach heftigen Diskussionen schließlich ein die Gründung des Gebiets der Wolgadeutschen betreffendes Dekret ausgearbeitet. Das am 19. Oktober 1918 von Lenin unterzeichnete Dokument legte Territorium und Zuständigkeiten der einzelnen Machtorgane der neuen Autonomie fest. Im Falle von Meinungsverschiedenheiten zwischen den Exekutivkomitees des Autonomen Gebiets und der Gouvernements sollten diese durch den Rat der Volkskommissare der RSFSR und das Allrussische Zentralexekutivkomitee entschieden werden. Auf Grundlage des Dekrets löste der am 20.-24. Oktober stattfindende Zweite Sowjetkongress der deutschen Kolonien das Kommissariat für Deutsche Angelegenheiten im Wolgagebiet offiziell auf und wählte ein Exekutivkomitee, dem die gesamte Macht in der Arbeitskommune des Gebiets der Wolgadeutschen übertragen wurde.

Neben dem Kommissariat für Deutsche Angelegenheiten im Wolgagebiet bestand innerhalb des Volkskommissariats für Nationalitätenfragen auch eine Deutsche Abteilung, für deren Gründung Stalin auf einer der ersten Sitzungen des Kollegiums des Volkskommissariats eintrat (Protokoll Nr. 6 vom 21. April 1918). Das Kollegium nahm Stalins Vorschlag an und übertrug Klinger die Leitung der Abteilung, in deren Zuständigkeit zahlreiche die politische, sozioökonomische und kulturelle Entwicklung der Arbeitskommune betreffende Fragen fielen. Die Abteilung stellte ein Arbeitsorgan dar, das für das Volkskommissariat für Nationalitätenfragen alle die Gründung der Deutschen Autonomie betreffenden Fragen ausarbeitete. Im Einzelnen bereitete insbesondere die Festlegung der territorialen Grenzen der geplanten Autonomie erhebliche Schwierigkeiten. Auch die konkreten Zuständigkeiten und Befugnisse des Rats der Volkskommissare der Arbeitskommune der Wolgadeutschen ließen sich erst nach heftigen Diskussionen mit den Saratower Behörden konkret bestimmen. Ganz auf der Linie seiner Deutschen Abteilung wandte sich das Volkskommissariat entschieden gegen alle Versuche, den Autonomiebehörden nur eingeschränkte Entscheidungsbefugnisse in ökonomischen Fragen zuzugestehen. So sollte der Volkswirtschaftsrat der Arbeitskommune der Wolgadeutschen auf Betreiben der Führung des Volkskommissariats nicht dem Volkswirtschaftsrat in Saratow (wie es den Vorstellungen der Gouvernementsbehörden in Saratow entsprochen hätte), sondern unmittelbar dem Volkswirtschaftsrat der RSFSR unterstellt sein. Für eine solche Regelung gab es gute Gründe, da es kaum vorstellbar war, dass die Arbeitskommune als autonomes Subjekt der Föderation einem einfachen Gouvernement unterstellt sein konnte.

Während das Volkskommissariat für Nationalitätenfragen zeitgleich mit dem Aufbau der deutschen Wolga-Autonomie auch die Gründung zahlreicher weiterer national-territorialer Autonomiegebiete vorantrieb, war vielen Funktionären der höchsten Regierungsebene auf dem Höhepunkt des Bürgerkriegs die Bedeutung der nationalen Frage nicht wirklich bewusst, was sich auch auf den Stellenwert des Volkskommissariats für Nationalitätenfragen innerhalb der Staatsführung niederschlug. So wurde Ende 1919 - Anfang 1920 in den Partei- und Sowjetorganen offen über eine Abschaffung des Volkskommissariats für Nationalitätenfragen diskutiert, dessen Kompetenzen sich angeblich mit den Zuständigkeiten anderer Organe der Staatsmacht überschnitten. Derartige Bestrebungen erhielten neue Nahrung, als die Zuständigkeit für die unter den nationalen Minderheiten betriebene Kultur- und Bildungsarbeit sowie die unter diesen zu leistende politische Arbeit im Zuge der Neustrukturierung der Kommissariate an das Volkskommissariat für Bildungswesen bzw. die Abteilung für Nationale Minderheiten beim ZK der RKP(b) übertragen wurde. Im Volkskommissariat für Nationalitätenfragen war man dagegen überzeugt, dass die genannten Organe nicht in der Lage seien, die mit der nationalen Frage einhergehenden Probleme in ihrer ganzen Komplexität zu erfassen, und versuchte der drohenden Schließung des eigenen Amtes entgegenzuwirken. In einem an den Rat der Volkskommissare gerichteten Bericht hieß es 1920, dass die von einigen hochrangigen Partei- und Sowjetvertretern in der Nationalitätenpolitik vertretenen Positionen das Volkskommissariat zu einem „Stiefkind in der Familie der sowjetischen Ämter“ gemacht hätten, woran auch die vom Zentralexekutivkomitee und dem Rat der Volkskommissare gegenüber dem Volkskommissariat eingenommene „achtlose und oft herablassende Haltung“ ihren Anteil habe. Der 7. Sowjetkongress habe kein einziges Wort über das Volkskommissariat für Nationalitätenfragen verloren und auch die bei den Exekutivkomitees der Gouvernements bestehenden Abteilungen nicht erwähnt, was vor Ort oft als stillschweigendes Einverständnis verstanden werde, gegen die entsprechenden Abteilungen vorzugehen und diese ohne vorherige Abstimmung mit dem Volkskommissariat für Nationalitätenfragen eigenmächtig zu schließen. Vor Ort werde die nationale Frage am Volkskommissariat für Nationalitätenfragen vorbei entschieden. Jeder betreibe ohne jede Abstimmung seine eigene Politik. Das Zentralexekutivkomitee und das ZK der RKP(b) würden das Volkskommissariat für Nationalitätenfragen selbst bei einer für die Belange der nationalen Minderheiten so zentralen Frage wie der Ausrufung und Einrichtung Autonomer Republiken und Gebiete ignorieren.

Um die Autorität des Volkskommissariats zu steigern, erließ das Präsidium des Zentralexekutivkomitees am 19. Mai 1920 das Dekret „Über die Neustrukturierung des Volkskommissariats für Nationalitätenfragen“, in dem dessen Ziele und Aufgaben noch einmal explizit definiert wurden: -) Sicherstellung des friedlichen Zusammenlebens und der brüderlichen Zusammenarbeit aller in der RSFSR und in den Sowjetrepubliken lebenden Völker und nationalen Minderheiten; -) Förderung der materiellen und geistigen Entwicklung der Völker unter Berücksichtigung ihrer Lebensbedingungen, ihrer Kultur und ihrer wirtschaftlichen Bedingungen; -) Aufsicht über die Umsetzung der von der Sowjetmacht betriebenen Nationalitätenpolitik.

Konkret sollte das Volkskommissariat für Nationalitätenfragen für die folgenden Aufgabenbereiche zuständig sein: -) Ausarbeitung der die Nationalitätenpolitik betreffenden Dokumente, die anschließend dem Allrussischen Zentralexekutivkomitee und dem Rat der Volkskommissare zur Bestätigung vorgelegt werden sollten; -) Anpassung der von den einzelnen Volkskommissariaten ausgearbeiteten unionsweit geltenden Gesetze und Verordnungen an die spezifischen Bedürfnisse und kulturellen und ökonomischen Besonderheiten der einzelnen nationalen Gruppen und Gebietskörperschaften; -) Vertretung der Interessen der Autonomen Republiken und Gebiete bei der Erörterung von Haushaltsfragen in den zentralen Machtorganen; -) Erstellung von Gutachten zu Finanz- und Haushaltsplänen; -) Beteiligung an der Klärung landesweit geltende Steuern betreffender Fragen und Erstellung entsprechender Gutachten, sofern diese die wirtschaftlichen Interessen der Autonomen Republiken und Gebiete betreffen; -) Vertretung der Interessen der autonomen Gebietskörperschaften und Koordinierung des Austauschs mit den zentralen Machtorganen der RSFSR; -) Schutz der den nationalen Minderheiten garantierten Rechte und Kontrolle über die Einhaltung der entsprechenden Verfassungsartikel, Dekrete und Beschlussfassungen. In dem Dokument hieß es weiter, das Volkskommissariat solle bei den Zentralexekutivkomitees und Räten der Volkskommissare der Autonomen Republiken und den Exekutivkomitees der Autonomen Gebieten Vertretungen einrichten, Vertreter der einzelnen Völker und nationalen Minderheiten anhören, gegenüber dem Allrussischen Zentralexekutivkomitee und dem Rat der Volkskommissare die Einrichtung neuer autonomer Gebiete betreffende Vorschläge einbringen, das Leben der einzelnen Völker und nationalen Minderheiten betreffende Informationen zusammentragen und prüfen, deren Geschichte gewidmete wissenschaftliche Arbeiten publizieren, mit der Erforschung des Lebens der einzelnen Völker und nationalen Minderheiten befasste wissenschaftliche Gesellschaften aufbauen sowie spezielle Ausbildungsstätten für nichtrussische Partei- und Sowjetkader einrichten.

Beim Volkskommissariats für Nationalitätenfragen wurde der (aus einem Großen und einem Kleinen Kollegium bestehende) Nationalitätensowjet eingerichtet, dem Vertreter aller autonomen Gebietskörperschaften angehörten. Darüber hinaus gab es innerhalb des Volkskommissariats für Nationalitätenfragen die folgenden Organisationseinheiten: -) Nationale Abteilungen jener in der RSFSR lebenden nationalen Minderheiten, deren Territorialstaaten außerhalb der Sowjetischen Föderation lagen (Letten, Litauer, Esten, Finnen usw.); -) eine Abteilung, die die Arbeit jener auf Ebene der Gouvernements und Bezirke bestehenden nationalen Abteilungen koordinierte, die nicht der jeweiligen Titularnation angehörten; -) Föderale Komitees, die die Zusammenarbeit zwischen den zentralen Volkskommissariaten und den entsprechenden Stellen in den Autonomen Republiken und Gebieten koordinierten (z.B. das Föderale Komitee für Landfragen). Den Komitees gehörten Mitarbeiter der involvierten Volkskommissariate sowie Vertreter der Autonomen Republiken und Gebiete an, die auf den örtlichen Kongressen gewählt oder von den Regierungen der Autonomen Republiken empfohlen wurden; -) Regionale Organe des Volkskommissariats für Nationalitätenfragen wie z.B. die bei den Exekutivkomitees der Gouvernements bestehenden Nationalen Abteilungen.

In den Jahren 1920-23 kam es innerhalb des Volkskommissariats für Nationalitätenfragen zu einigen Änderungen: Die Abteilungen der über eigene Gebietskörperschaften verfügenden Nationalitäten wurden zu Vertretungen der entsprechenden Autonomen Republiken und Gebiete umstrukturiert, so dass z.B. aus der Deutschen Abteilung die Vertretung der Arbeitskommune des Gebiets der Wolgadeutschen wurde (die in den offiziellen Dokumenten in der Regel als Deutsche Vertretung beim Volkskommissariat für Nationalitätenfragen firmierte).

Am 16. Dezember 1920 fassten das Allrussische Zentralexekutivkomitee und der Rat der Volkskommissare den Beschluss, bei den Zentralen Exekutivkomitees der Autonomen Republiken bzw. den Exekutivkomitees der Autonomen Gebiete Vertretungen des Volkskommissariats für Nationalitätenfragen einzurichten, deren Aufgabe darin bestehen sollte, die praktische Umsetzung der Nationalitätenpolitik zu analysieren und die Einhaltung der die Rechte und Interessen der nationalen Minderheiten schützenden Beschlüsse zu überwachen. Die Leiter der Vertretungen erhielten beratendes Stimmrecht auf den Sitzungen der Exekutivkomitees der Republiken und Gebiete und sollten im Fall von Verstößen gegen die Grundprinzipien der staatlichen Nationalitätenpolitik bei den entsprechenden Organen vor Ort intervenieren und das Volkskommissariat für Nationalitätenfragen in Kenntnis setzen. Darüber hinaus erhielt das Volkskommissariat das Recht, in den mit der RSFSR verbundenen Sowjetrepubliken Vertretungen einzurichten, die aus dem Haushalt des Volkskommissariats finanziert wurden und nach eigens für sie ausgearbeiteten Instruktionen agierten.

Im März 1921 arbeitete das Volkskommissariat für Nationalitätenfragen in Abstimmung mit dem ZK der RKP(b) die Satzung des Nationalitätensowjets aus, der ein Organ mit beratender Funktion darstellte und seine Vertreter in das Kollegium des Volkskommissariats für Nationalitätenfragen entsenden durfte. Neben den Chefs der Vertretungen der Autonomen Republiken und Gebiete gehörten dem Nationalitätensowjet auch Vertreter der Finnischen, der Estnischen, der Lettischen, der Litauischen, der Polnischen und der Jüdischen Nationalen Abteilung an. Für alle weiteren nationalen Minderheiten waren die nationalen Abteilungen der entsprechenden Gouvernements zuständig. Von 1921 an gehörte dem Nationalitätensowjet auch der Vorsitzende der Deutschen Vertretung beim Volkskommissariat für Nationalitätenfragen Alexander Schneider an.

Die Vertretungen der Autonomen Republiken und Gebiete waren für die folgenden Aufgabenbereiche zuständig: -) Förderung des Aufbaus vollwertiger volkswirtschaftlicher Strukturen in den von ihnen vertretenen Regionen; -) Aufbau einer industriellen Infrastruktur; -) Planung von Bewässerungssystemen und des Eisenbahnbaus; -) Erfüllung der die Versorgung mit Lebensmitteln, Baumaterial, Produktions- und Konsumgütern betreffenden Pläne; -) Organisation des Warentransports zum Bestimmungsort; -) Bereitstellung der in den Autonomie-Behörden einzusetzenden Kader durch Mobilisierung aus dem Zentrum abgestellter Spezialisten sowie Entsendung nationaler Nachwuchskader an die zentralen Hoch- und Fachschulen; -) Organisation wissenschaftlicher Expeditionen zur Exploration der in den von ihnen vertretenen Regionen vorhandenen Bodenschätze; -) Entsendung medizinischer Fachkräfte, um die Bevölkerung im Interesse der Bekämpfung von Tuberkulose, Trachomen und Hautkrankheiten zu untersuchen und Mutter-Kind-Hilfe zu leisten.

Während der Hungersnot der Jahre 1921/22 unternahm die von Alexander Schneider und seinem Stellvertreter Walentin Hartwig geleitete Deutsche Vertretung erhebliche Anstrengungen, um die Hilfsmaßnahmen für die hungernde Bevölkerung des Wolgagebiets zu organisieren, setzte sich bei den zentralen Volkskommissariaten dafür ein, Hilfs- und Lebensmittel für das vom Hunger betroffene Gebiet bereitzustellen, entsandte Instruktoren in Regionen, in denen sich landwirtschaftliche Güter gegen Getreide tauschen ließen, und sorgte dafür, dass das Gebiet der Wolgadeutschen als „Notstandsgebiet mit allen daraus folgenden Konsequenzen“ eingestuft wurde, was in der Praxis bedeutete, das das Gebiet die besondere Aufmerksamkeit der zentralen Staatsorgane erfuhr, zusätzliche Geld- und Sachmittel erhielt und einem über Lebensmittelreserven verfügenden „Paten-Gouvernement“ zugeteilt wurde. Darüber hinaus organisierte die Vertretung auch die Evakuierung hungernder Kinder und Erwachsener in bessergestellte Gouvernements und entsandte Schneider nach Deutschland, wo dieser mit Vertretern der Raiffeisengenossenschaft über mögliche Hilfsmaßnahmen verhandelte. Nicht zuletzt dank diesen Gesprächen wurde eine Vereinbarung zwischen der Sowjetrussischen Handelsvertretung in Deutschland und der Genossenschaft abgeschlossen, der zufolge über eine gemeinsame russisch-deutsche Gesellschaft für das Gebiet der Wolgadeutschen bestimmte landwirtschaftliche Technik angekauft werden sollte. Die Gesellschaft erhielt von der Genossenschaft einen für den Ankauf von Landmaschinen bestimmten Kredit in Höhe von 10 Mio. Reichsmark, für den der russische Botschafter in Berlin Nikolai Krestinski eine Bürgschaft ausstellte. Als die Lieferung der Maschinen infolge der anfallenden hohen Zollgebühren zu scheitern drohte, beschloss der Rat der Volkskommissare auf Intervention des Kollegiums des Volkskommissariats für Nationalitätenfragen am 4. Oktober 1922, die bei der Einfuhr der für das Gebiet der Wolgadeutschen bestimmten Maschinen anfallenden Zollgebühren zu halbieren. Die Deutsche Vertretung stellte auch den Kontakt zu aus dem Wolgagebiet nach Amerika ausgewanderten Deutschen her, mit denen die Lieferung von Landmaschinen in das Wolgagebiet vereinbart wurde, woraufhin im Jahr 1922 tatsächlich Traktoren, Pflüge und Sämaschinen geliefert wurden.

Auf Betreiben der Deutschen Vertretung bewilligten die zentralen Organe der RSFSR die Lieferung von Kraftfahrzeugen und Saatgut an das Gebiet der Wolgadeutschen. Über das Volkskommissariat für Lebensmittelversorgung wurde der Warenaustausch mit den Nachbarregionen wieder in Gang gebracht, woraufhin Hunderte Waggons Getreide und Saatgut aus den Gouvernements Omsk, Altai und Tambow in die deutschen Kolonien brachten.

Am 25. Juni 1922 beauftragte das Kollegium des Volkskommissariats für Nationalitätenfragen die Deutsche Vertretung, Vorschläge für den Wiederaufbau der Wirtschaft des Gebiets der Wolgadeutschen auszuarbeiten. In dem daraufhin von Hartwig eingereichten Dokument war vorgesehen, die Gesundung der Wirtschaft durch vermehrten Einsatz von Land- und Erntemaschinen sowie Bewässerungsmaßnahmen zu beschleunigen und die Folgen der alle 10-15 Jahre wiederkehrenden Dürren durch Aufforstungen und verstärkten Einsatz dürreresistenter Getreidesorten abzumildern. Das Dokument wies ausdrücklich darauf hin, dass sich die anfallenden Investitionen mittelfristig rentieren würden, da sich die Bevölkerung der Kolonien immer durch „äußerste Sorgfalt bei der Begleichung von Steuer- und Kreditzahlungen“ ausgezeichnet habe. Der von der Deutschen Vertretung ausgearbeitete Plan zum Wiederaufbau der Landwirtschaft fand die Unterstützung des Volkswirtschaftsrats der Arbeitskommune der Wolgadeutschen und wurde von der Zentralen Kommission zur Bekämpfung der Folgen der Hungersnot, vom Volkskommissariat für Landwirtschaft, der Staatlichen Planungsbehörde der RSFSR und dem Allrussischen Zentralen Exekutivkomitee bestätigt. Per Sonderbeschluss wurde der Wiederaufbau der Produktionskräfte der Arbeitskommune der Wolgadeutschen zu einer „Aufgabe gesamtstaatlicher Bedeutung im Zusammenhang mit dem Wiederaufbau der Wirtschaft des gesamten Südostens“ erklärt.

Während die Deutsche Vertretung ausschließlich die Interessen des Autonomen Gebiets der Wolgadeutschen vertrat, war für die kompakt oder verstreut in anderen Regionen der RSFSR siedelnden Deutschen die Deutsche Unterabteilung der Abteilung für Nationale Minderheiten zuständig, die innerhalb des Volkskommissariats für Nationalitätenfragen die Tätigkeit jener in den Gouvernements und Bezirken bestehenden Nationalen Abteilungen koordinierte, die nicht der jeweiligen Titularnation angehörten. Zu den Aufgaben der Abteilung für Nationale Minderheiten gehörte es, politische Literatur und Lehrbücher in der jeweiligen Muttersprache bereitzustellen, nationale Schulen sowie Kultur- und Bildungseinrichtungen aufzubauen, sich für die Rechte der entsprechenden Minderheiten einzusetzen sowie Fragen der Landnutzung zu klären. 1921 gab es in insgesamt dreißig Gouvernements (darunter Petersburg, Samara, Astrachan, Omsk, Simbirsk und Ufa) Abteilungen für Nationale Minderheiten, deren Vertreter in ihren beim Volkskommissariat für Nationalitätenfragen eingereichten Berichten nicht selten eine herablassende Haltung der Exekutivkomitees oder einzelner Beamter gegenüber den Interessen der nationalen Minderheiten beklagten. 1921 überprüften Instruktoren des Volkskommissariats für Nationalitätenfragen in achtzehn Gouvernements die von den Nationalen Abteilungen geleistete Arbeit und verschafften sich in weiteren elf Gouvernements, in denen keine Nationalen Abteilungen bestanden, einen Überblick über den Stand der Umsetzung der Nationalitätenpolitik. Die Überprüfung ergab, dass die Nationalen Abteilungen von Seiten des Volkskommissariats für Nationalitätenfragen nur unzureichend geführt wurden, während die vor Ort zuständigen Funktionäre die Prinzipien der Nationalitätenpolitik oft ignorierten und keinerlei Interesse zeigten, nationale Kader auszubilden bzw. den Reihen der nationalen Minderheiten entstammende Mitarbeiter gezielt zu fördern. Gestützt auf diese Erkenntnisse reduzierte das Kollegium des Volkskommissariats für Nationalitätenfragen die Zahl der in den Gouvernements bestehenden Nationalen Abteilungen auf zwölf und führte bei den Gouvernementsexekutivkomitees den Posten eines Bevollmächtigten für die Angelegenheiten der nationalen Minderheiten ein.

Die Abteilung für Nationale Minderheiten des Volkskommissariats für Nationalitätenfragen trug umfangreiches statistisches Material zu den in verschiedenen Regionen kompakt siedelnden nationalen Minderheiten, den entsprechenden nationalen Schulen, den an diesen tätigen Lehrern und Schülern sowie der Zahl der zur Verfügung stehenden Schulbücher zusammen und förderte den Aufbau der für die Aus- und Weiterbildung der Lehrer angebotenen Kurse. Zur Klärung der in den kompakten Siedlungsgebieten der nationalen Minderheiten bestehenden sozioökonomischen Lage führte die Abteilung für Nationale Minderheiten 1922 in den Gouvernements Astrachan, Saratow, Perm, Simbirsk, Wjatka und Jeniseisk Konferenzen durch.

Die gesamte Tätigkeit des Volkskommissariats für Nationalitätenfragen stand unter der Führung des Nationalitätensowjets und seines Kollegiums, die die nationalen Minderheiten betreffende Gesetzesprojekte vor das Allrussische Zentralexekutivkomitee und den Rat der Volkskommissare brachten. Betraf ein Gesetz die Belange einzelner nationaler Gruppen, musste dieses zunächst vom Nationalitätensowjet geprüft werden, der auch Gutachten zu allen die Autonomen Republiken und Gebiete sowie einzelne nationale Minderheiten betreffenden Akten der Volkskommissariate verfasste und an der Klärung aller die nationalen Minderheiten betreffenden Fragen beteiligt war.

Sehr aktiv war das Kollegium des Volkskommissariats für Nationalitätenfragen, das vor allem für die folgenden zentralen Aufgabenbereiche zuständig war: -) Gründung national-staatlicher autonomer Gebietskörperschaften; -) Bestimmung der territorialen Grenzen der Autonomen Republiken und Gebiete; -) Mitwirkung an der Ausarbeitung von Dekreten und Verordnungen, die die ökonomischen und kulturellen Interessen der Autonomen Republiken und Gebiete oder das Verhältnis zwischen den Autonomen Republiken und den zentralen Volkskommissariaten betrafen; -) Bekämpfung des Hungers.

Das Volkskommissariat für Nationalitätenfragen spielte eine entscheidende Rolle für den von den Völkern Russlands betriebenen Aufbau staatlicher Strukturen und die Gründung autonomer Gebietskörperschaften. In den Jahren 1918-22 wurden innerhalb der Russischen Sozialistischen Föderalen Sowjetrepublik unter unmittelbarer Beteiligung des Kollegiums des Volkskommissariats acht Autonome Republiken und elf Autonome Gebiete eingerichtet. Der Prozess der Ausweisung einer neuen Autonomie wies dabei in den einzelnen konkreten Fällen große Unterschiede auf: In einigen Fällen ging die Initiative zur Gründung einer Autonomie von den sogenannten Parteilosen-Konferenzen oder nationalen Kongressen, in anderen Fällen von den Partei- und Sowjetorganen oder auch von den Nationalen Abteilungen des Volkskommissariats für Nationalitätenfragen aus. In jedem Fall spielte das Volkskommissariat für Nationalitätenfragen im langwierigen Prozess der Abstimmung zwischen den einzelnen Instanzen und der Ausarbeitung der entsprechenden Dokumente eine entscheidende Rolle, zumal in nicht wenigen Fällen zunächst der Widerstand einzelner chauvinistisch gesinnter Funktionäre gebrochen werden musste, deren Engstirnigkeit ihnen nicht zu verstehen erlaubte, welch wichtige Rolle die nationale Frage für die Staatspolitik spielte. In diesem Prozess war das Volkskommissariat für Nationalitätenfragen ein konsequenter Verfechter der Interessen der Völker.

Das Volkskommissariat für Nationalitätenfragen spielte auch für die Geschichte der deutschen Wolga-Autonomie eine bedeutende Rolle, bei deren Gründung zunächst der schwerwiegende Fehler gemacht worden war, die territorialen Grenzen unter Vernachlässigung ökonomischer Gesichtspunkte ausschließlich nach nationalen Kriterien zu bestimmen, was eine erhebliche territoriale Zersplitterung und zahlreiche die Verteilung des Landes betreffende Konflikte zwischen deutschen und russischen Bauern nach sich zog. Gestützt auf Dokumente, die ihm die Führung der Arbeitskommune der Wolgadeutschen zur Verfügung gestellt hatte, hielt der Chef der Deutschen Vertretung Alexander Schneider auf der Sitzung des Kollegiums einen Vortrag, in dem er die Notwendigkeit einer „Abrundung“ des Autonomen Gebiets durch Einbeziehung mehrerer größtenteils von Russen und Ukrainern bewohnter Amtsbezirke des Gouvernements Saratow herausstellte. Das Kollegium richtete eine mit dieser Frage befasste Sonderkommission ein, die nach Sichtung des die Wirtschaft betreffenden statistischen Materials empfahl, dem Vorschlag der Deutschen Vertretung zu folgen. Ein entsprechendes Gesuch des Volkskommissariats für Nationalitätenfragen wurde vom Präsidium des Allrussischen Zentralexekutivkomitees gebilligt, das die „Abrundung“ des Gebiets der Arbeitskommune der Wolgadeutschen auf seiner Sitzung vom 20. April 1922 absegnete.

Die Umsetzung dieses Beschlusses wurde allerdings von den im Gouvernement Saratow tätigen Funktionären hintertrieben, die auch in der Verwaltungskommission des Allrussischen Zentralexekutivkomitees Unterstützer fanden. Die Deutsche Vertretung wandte sich ihrerseits hilfesuchend an den Stellvertretenden Volkskommissar für Nationalitätenfragen Otto Karklin, der die ökonomischen Interessen der Arbeitskommune der Wolgadeutschen in einem an das Präsidium des Zentralexekutivkomitees gerichteten Schreiben verteidigte und den für die Gebietseinteilung zuständigen Stellen der Staatlichen Planungsbehörde eine böswillig-bürokratische Vorgehensweise zum Vorwurf machte: „Unter Verweis auf den im Zusammenhang mit der Frage der Abrundung des Gebiets der Wolgadeutschen zu verzeichnenden sträflichen bürokratischen Schlendrian bittet das Volkskommissariat für Nationalitätenfragen das Präsidium des Allrussischen Zentralexekutivkomitees zu beachten, dass eine solche Einstellung bei der Prüfung solch wichtiger Angelegenheiten nicht zu tolerieren ist, und schlägt der Verwaltungskommission vor, [...] die Beschlussfassung des Präsidiums des Allrussischen Zentralexekutivkomitees vom 20. April 1922 schnellstmöglich umzusetzen.“ Am 22. Juni 1922 verabschiedete das Zentralexekutivkomitee schließlich das Dekret über die Änderung des territorialen Zuschnitts der Arbeitskommune der Wolgadeutschen, dem zufolge mehrere in den Bezirken Pokrowsk, Dergatschi und Kamyschin (Gouvernement Saratow) gelegene Amtsbezirke an das Gebiet der Wolgadeutschen angeschlossen wurden.

Durch das Dekret wurde der den ökonomischen Interessen der Arbeitskommune der Wolgadeutschen zuwiderlaufende territoriale Flickenteppich überwunden und der von Stalin und Petrowski bei der Unterzeichnung des Statuts des Kommissariats für Deutsche Angelegenheiten im Wolgagebiet begangene historische Fehler korrigiert, dem zufolge sich die deutschen Kolonisten „unter Berücksichtigung von Sprache, Sitten und Gebräuchen“ in Bezirkssowjets zusammenschließen sollten. Beide Volkskommissare betrachteten die Wolgadeutschen als eine autarke, nicht in die Wolgaregion integrierte Gemeinschaft. Von der gleichen, aufgrund der historischen Erfahrung durchaus nachvollziehbaren „isolationistischen“ Sichtweise ließen sich auch die Führer des Kommissariats für Deutsche Angelegenheiten im Wolgagebiet Klinger, Reuter, Petin und Moor leiten, als sie das die Gründung des Gebiets der Wolgadeutschen betreffende Dekret des Rats der Volkskommissare ausarbeiteten. Gleiches galt auch für die Delegierten des Ersten Sowjetkongresses der deutschen Kolonien, die für die „staatliche territoriale Vereinigung der von Deutschen bewohnten Orte“ stimmten, und den Rat der Volkskommissare, der die von deutschen Kolonisten bewohnten Orte des Wolgagebiets in seinem die Gründung des Gebiets der Wolgadeutschen betreffenden Dekret als „Gebietszusammenschluss mit dem Charakter einer Arbeitskommune“ beschrieb. So fanden bei der Gründung des Gebiets der Wolgadeutschen unter völliger Ausblendung der ebenfalls in der Region lebenden anderen nationalen Gruppen ausschließlich die mehrheitlich von Deutschen besiedelten Orte Berücksichtigung.

Nach dem Ende des Bürgerkriegs trat der national-staatliche Aufbau in der RSFSR in ein neues Stadium, in dessen Verlauf zahlreiche ursprünglich als Autonome Gebiete gegründete Gebietskörperschaften den Status von Autonomen Republiken erhielten. Der Übergang zum friedlichen Aufbau schuf ebenso wie die Neue Ökonomischen Politik und die Stärkung der ökonomischen Grundlagen der Nationen die nötigen Voraussetzungen für die Änderung des Status der Arbeitskommune der Wolgadeutschen, die aufgrund eines entsprechenden, am 20. Februar 1924 verabschiedeten Dekrets des Allrussischen Zentralexekutivkomitee und des Rats der Volkskommissare der RSFSR zur Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik der Wolgadeutschen wurde.

Einer der wichtigsten Aufgabenbereiche des Volkskommissariats für Nationalitätenfragen war die Förderung des Aufbaus eines Netzes nationalsprachlicher Bildungseinrichtungen. So wurden auf Initiative des Volkskommissariats unter anderem die Kommunistische Universität der Völker des Ostens, das Zentrale Institut für Orientalische Sprachen in Moskau und dessen Filiale in Petrograd sowie die Praktischen Institute für Volksbildung der Deutschen, der Letten und anderer Nationalitäten gegründet. An der Petrograder Filiale des Instituts für Orientalische Sprachen unterrichteten so herausragende Wissenschaftler wie Sergei Oldenburg, Nikolai Marr und Wassili Bartold.

Einen weiteren Arbeitsschwerpunkt des Volkskommissariats für Nationalitätenfragen bildete die Publikationstätigkeit. Von 1918 an gab die Redaktions- und Verlagsabteilung des Kommissariats die Zeitung „Das Leben der Nationalitäten“ (die von 1921 an unter gleichem Titel im Zeitschriftenformat erschien) sowie Zeitungen in den einzelnen Nationalsprachen heraus. Regelmäßig wurden die Tätigkeit des Volkskommissariats für Nationalitätenfragen und seiner Abteilungen und Vertretungen betreffendes Informationsmaterial, Beschlussfassungen des Kollegiums, Ausschnitte aus den stenographischen Protokollen der nationalen Parteilosenkonferenzen, deren Resolutionen sowie ethnographische Reportagen veröffentlicht.

Mitte 1923 hatte das Volkskommissariat für Nationalitätenfragen nach Ansicht des Allrussischen Zentralexekutivkomitees durch die Gründung der Unionsrepubliken, Autonomen Republiken und Autonomen Gebiete sowie deren Zusammenschluss zur UdSSR seine wichtigste Mission erfüllt und wurde per Beschlussfassung vom 29. Juni 1923 aufgelöst.

Als Organ der Exekutive spielte das Volkskommissariat für Nationalitätenfragen bei der Umsetzung der staatlichen Nationalitätenpolitik eine führende Rolle und stellte zugleich (neben anderen Staats- und Parteistrukturen) ein ideologisches Zentrum dar, das dazu berufen war, die nationalen Gegensätze zu überwinden. Das Volkskommissariat für Nationalitätenfragen trat als Schiedsrichter auf, dessen Stimme bei der Lösung von territoriale oder ökonomische Fragen betreffenden Konflikten zwischen den einzelnen Subjekten der Föderation Gewicht hatte.

Das Volkskommissariat für Nationalitätenfragen bestand zu einem historisch überaus schwierigen Zeitpunkt, als die Suche nach angemessenen Formen des national-staatlichen Aufbaus in vollem Gange war. Auf den Sitzungen des Kollegiums kam es immer wieder zu heftigen Diskussionen und persönlichen Konflikten. Die Stimmung wurde zusätzlich aufgeheizt, als der Generalsekretär des ZK der RKP(b) und Volkskommissar für Nationalitätenfragen Stalin das Projekt „Über die Beziehungen der RSFSR zu den unabhängigen Republiken“ vorbrachte, dem zufolge die sogenannten Vertragsrepubliken der RSFSR mit den Rechten Autonomer Republiken beitreten sollten. Diese Idee fand allein bei den Zentralkomitees der Kommunistischen Parteien Aserbaidschans und Armeniens Unterstützung, während das ZK der Kommunistischen Partei Weißrusslands für die Beibehaltung des Status quo eintrat und das ZK der Kommunistischen Partei Georgiens Stalins Plan sogar rundheraus ablehnte. Im Verlauf der Diskussion sahen sich mehrere Teilnehmer mit dem Vorwurf konfrontiert, nationalistische Abweichler zu sein. Stalin, der immer wieder betonte, dass „die Hydra des Nationalismus zertreten“ und die „nationalen Vorurteile“ ausgerottet werden müssten, versuchte mehrfach, das Volkskommissariat für Nationalitätenfragen aufzulösen, wurde in diesem Bestreben aber von Lenin und seinen Anhängern gebremst.

Die weitere Entwicklung der interethnischen Beziehungen sollte zeigen, dass das Volkskommissariat für Nationalitätenfragen zu früh aufgelöst worden war, da die Aufteilung der nationalen Regionen und die genaue Grenzziehung zwischen den einzelnen autonomen Gebietskörperschaften zu diesem Zeitpunkt noch nicht abgeschlossen war. In den Unionsrepubliken und Autonomen Republiken gab es zahlreiche nationale Minderheiten (einschließlich der dort ansässigen Russen), die durch die Bevorzugung der Angehörigen der jeweiligen Titularnation benachteiligt wurden. Der Nationalitätensowjet des Zentralexekutivkomitees sowie die zahlreichen nach der Gründung der UdSSR eingerichteten Nationalen Komitees erwiesen sich als unfähig, auch nur die drängendsten Probleme der im Land lebenden nationalen Minderheiten zu lösen. Auch wenn es offensichtlich war, dass die Sowjetunion angesichts der multinationalen Zusammensetzung ihrer Bevölkerung eines für die Nationalitätenpolitik zuständigen Organs bedurfte und entsprechende Projekte im Zusammenhang der Gründung der Sowjetunion diskutiert wurden, ließ die Idee eines Unionsstaats die Interessen der nationalen Minderheiten in der ersten Zeit vollständig in den Hintergrund treten.

Organe der staatlichen Nationalitätenpolitik waren zu dieser Zeit der Nationalitätensowjet des Zentralexekutivkomitees der UdSSR sowie die Abteilung für Nationalitätenfragen des Allrussischen Zentralexekutivkomitees, die diese Aufgabe aber deutlich weniger effektiv erfüllten als zuvor das Volkskommissariat für Nationalitätenfragen.

Zu der Idee, ein eigenes für die Umsetzung der Nationalitätenpolitik zuständiges Regierungsorgan zu schaffen, kehrte man erst Anfang der 1970er Jahre zurück, nachdem man eine ganze Epoche der rigiden Zentralisierung und Einebnung der nationalen Besonderheiten bis hin zum Genozid an ganzen Völkern durchschritten hatte. Viele nationale Probleme, die das Volkskommissariat für Nationalitätenfragen zu lösen versucht hatte, wurden in den folgenden Jahrzehnten an den Rand des gesellschaftlichen und politischen Lebens gedrängt und traten erst Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre wieder an die Oberfläche, als es im gesellschaftlichen und politischen Aufbau der UdSSR und der Russischen Föderation zu massiven Verschiebungen kam.

Literatur

Народный комиссариат по делам национальностей: Отчет о деятельности. 1 ноября 1917 – 20 июня 1918 гг., М., 1918; Политика Советского государства по национальным делам за три года (1917–1920), М., 1920; Национальный вопрос и Советская Россия, М., 1921; Шесть лет национальной политики Советской власти и Наркомнац (вместо отчета), М., 1924; Песикина Е.И., Народный комиссариат по делам национальностей и его деятельность в 1917–1918 гг., М., 1950; Макарова Г.П., Народный комиссариат по делам национальностей РСФСР. 1917–1923 гг. Исторический очерк, ответственный ред. Л.У. Юсупов, М., 1987; Чеботарева В.Г., Государственная национальная политика в Республике немцев Поволжья. 1918–1941 гг., М., 1999.

Autoren: W. Tschebotarewa (Moskau).

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