REPATRIIERUNG - Rückführung von Kriegsgefangenen und kriegsbedingt ins Ausland gelangten Zivilisten in die Heimat; Rückkehr und Wiedereinbürgerung von Emigranten.
Die Zahl der ursprünglich aus der Sowjetunion stammenden Menschen, die sich infolge des Zweiten Weltkriegs in Deutschland oder in anderen europäischen Ländern wiederfanden, war gewaltig. Nach Schätzungen P. Poljans lag die Gesamtzahl der Personen, die vor dem 22. Juni 1941 auf dem Gebiet der Sowjetunion gelebt hatten und von dort verschleppt worden waren, bei etwa 8,5-8,7 Millionen. Dabei handelte es sich größtenteils um Kriegsgefangene (etwa 3,3 Millionen), auf dem Gebiet der UdSSR angeworbene oder zur Zwangsarbeit verschleppte sogenannte „Ostarbeiter“ (etwa 3,8 Millionen) sowie Flüchtlinge und Evakuierte (etwa eine Million). Zu diesem Personenkreis gehörten auch zahlreiche deutschstämmige Sowjetbürger (die von deutscher Seite als „Volksdeutsche“ bezeichnet wurden).
Mit dem Vormarsch der Sowjetarmee auf das Gebiet der angrenzenden Staaten wurde die Frage der Repatriierung der dorthin verschleppten Sowjetbürger für die Sowjetführung aktuell. Am 18. August 1944 verabschiedete das Staatliche Verteidigungskomitee der UdSSR die Beschlussfassung „Über die Organisation der Rückkehr und Aufnahme der von den Deutschen gewaltsam verschleppten oder aus anderen Gründen hinter die sowjetisch-polnische Grenzlinie gelangten Sowjetbürger“, der zufolge alle im Zuge des Krieges ins Ausland gelangten früheren Sowjetbürger zur Rückkehr verpflichtet, sorgfältig überprüft und - sofern es sich um „Verräter“ handelte - Repressionsmaßnahmen unterzogen werden sollten.
Im Oktober 1944 (23.10.) ordnete die Sowjetführung die Einrichtung einer von Generaloberst Filipp Iwanowitsch Golikow geführten Repatriierungsbehörde an, die mit Unterstützung des NKWD innerhalb kürzester Zeit einen mächtigen Apparat aufbauen konnte, in dessen Zuständigkeit alle mit der Rückführung zusammenhängenden Aufgaben von der weltweiten Aufspürung rückkehrpflichtiger Sowjetbürger bis hin zur Organisation von deren Aufnahme in den einzelnen Rayonen fielen. Zentraler Bestandteil dieses Apparats waren die mehr als 200 Prüfstellen und Filtrationslager, die sowohl auf dem Gebiet der von der Roten Armee und den Alliierten Truppen besetzten Länder als auch in der Sowjetunion selbst eingerichtet wurden.
Den Sowjetbehörden war bestens bewusst, dass längst nicht alle früheren Sowjetbürger freiwillig in die UdSSR zurückkehren wollten, weshalb die Sowjetführung sowohl bei der Vorbereitung als auch im Verlauf der Konferenz von Jalta (4.-11. Februar 1945) beispiellosen Druck auf die Verbündeten der Anti-Hitler-Koalition ausübte, um diesen die Verpflichtung abzuringen, ausnahmslos alle ursprünglich aus der Sowjetunion stammenden Displaced Persons an die Sowjetbehörden zu übergeben. Auf dieser Grundlage schloss die Sowjetunion konkrete bilaterale Vereinbarungen mit Großbritannien, den USA, Frankreich, Belgien und einigen weiteren Staaten der alliierten Koalition, die sich im Detail z.T. stark voneinander unterschieden, jedoch alle darin übereinstimmten, dass „die sowjetischen DPs (displaced people) nach ihrer Identifizierung durch die sowjetischen Repatriierungsverantwortlichen unabhängig von ihrem persönlichen Wunsch zurückgeführt werden“ sollten. Dieses den Westallierten abgerungene Zugeständnis sollte für die sowjetdeutschen DPs schicksalhaft werden.
Bis heute bleibt es schwierig, die Zahl der infolge des Krieges nach Europa gelangten Sowjetdeutschen exakt zu bestimmen. Grob geschätzt gerieten etwa 304.000 Sowjetdeutsche unter deutsche Besatzung, die zum Zeitpunkt des deutschen Überfalls größtenteils in der Ukraine (281.000), aber auch im Nordkaukasus, im Rayon Taganrog, in Weißrussland und in den westlichen Gebieten der RSFSR gelebt hatten.
Die deutschen Besatzungsbehörden waren bekanntlich daran interessiert, die sogenannten „Volksdeutschen“ zur Kollaboration heranzuziehen, weswegen alle vor Ort lebenden Deutschen erfasst wurden. Sie wurden bei der Arbeitsaufnahme, Wohnungsvergabe und Lebensmittelversorgung bevorzugt, erhielten unmittelbare materielle Unterstützung und wurden zur Arbeit in der lokalen Selbstverwaltung, in den reichsdeutschen Besatzungsbehörden und in Polizeieinheiten herangezogen. Infolge der deutschen Besatzungspolitik, die die Deutschstämmigen gezielt gegen deren nichtdeutsche Nachbarn ausspielte, sahen sich die Nachkommen der deutschen Kolonisten vor schwere moralische Konflikte gestellt.
Mit Beginn der sowjetischen Gegenoffensive fasste die Führung des Deutschen Reichs den Beschluss, die in den besetzten Gebieten der UdSSR lebenden Deutschstämmigen in den Westen zu evakuieren, um einige vom Großdeutschen Reich annektierte Gebiete zu germanisieren. Im Zuge dieser sogenannten „administrativen Umsiedlung“ kamen Sowjetdeutsche vor allem in den Warthegau (jener Teil des im Jahr 1939 besetzten Polens, der von Deutschland annektiert worden war, Hauptstadt Lodz). Ein erheblicher Teil der infolge des Krieges und der deutschen Besatzungspolitik in den Herrschaftsbereich des Dritten Reichs geratenen Sowjetdeutschen erhielt die deutsche Staatsbürgerschaft. Mit dem Vormarsch der Roten Armee und der Befreiung der von den Deutschen besetzten Gebiete schlossen sich viele vor Ort lebende Deutschstämmige aus Furcht vor Rachemaßnahmen der Sowjetbehörden freiwillig dem Rückzug der deutschen Truppen an.
Den Aktenbeständen der Abteilung für Sonderumsiedlung des NKWD lässt sich entnehmen, dass in den von der deutschen Besatzung befreiten sowjetischen Gebieten von wenigen Ausnahmen abgesehen praktisch keine Deutschstämmigen mehr anzutreffen waren. So fanden die Organe des NKWD Ende 1944 in der früheren deutschen Kolonie Ossipowo (Rayon Byschew, Gebiet Kiew) gerade einmal 18 deutsche Familien (61 Personen) vor, die sich ihren Dorfnachbarn auf dem Weg nach Westen nicht hatten anschließen wollen. Auf dem gesamten Gebiet der Moldawischen SSR wurden nach der Befreiung gerade einmal 170 Sowjetdeutsche aufgefunden. Nach der Befreiung des Baltikums spürten die Organe des NKWD dort etwa 2.000 Deutsche auf, bei denen es sich um frühere Sowjetbürger handelte. All diese und andere in den befreiten sowjetischen Gebieten aufgefundene deutsche Bürger der UdSSR, wurden ins Landesinnere (ASSR Komi, Tadschikistan und andere Regionen) deportiert und später als „Repatrianten“ geführt, obwohl sie die Sowjetunion niemals verlassen hatten.
Auf diese Weise fanden sich mindestens 300.000 deutschstämmige Sowjetbürger in Mitteleuropa wieder, was gemessen an der Gesamtzahl der sowjetischen Displaced Persons eine eher geringe Zahl war. Just dieser Umstand erleichterte in der ersten Zeit ihre Lage.
Am 18. Januar 1945 erschienen die gemeinsamen Direktiven des Chefs der Rückwärtigen Dienste der Roten Armee General Chruljow und des Bevollmächtigten des Rats der Volkskommissare der UdSSR für Rückführungsfragen F. Golikow Nr. 1/1240645s und Nr. 1/1240646s, denen zufolge die Repatrianten in die folgenden Kategorien unterteilt werden sollten:
-) frühere Kriegsgefangene (Unteroffiziere und Mannschaftsgrade), die zunächst in Zwischensammelstellen der Armee und nach Überprüfung durch die Organe des Militärgeheimdienstes SMERSch in die Reserveeinheiten der Armeen und Heeresverbände gebracht werden sollten;
-) frühere Kriegsgefangene (Offiziere), die in Sonderlager des NKWD gebracht werden sollten;
-) Kriegsgefangene und Zivilisten, die in deutschen Sondereinheiten gedient hatten, Angehörige der Wlassow-Armee, Polizisten und weitere verdächtige Personen, die ebenfalls in Sonderlager des NKWD gebracht werden sollten;
-) internierte Zivilisten (Ostarbeiter und andere aus der Sowjetunion verschleppte Zivilisten), die in den Zwischensammelstellen der Armee und den Grenz-Filtrationslagern des NKWD überprüft werden sollten. Anschließend sollten die Männer im wehrfähigen Alter zu den Reserveeinheiten der Heeresverbände und Militärbezirke kommen und alle anderen an ihre Wohnorte (mit Ausnahme der Städte Moskau, Leningrad und Kiew) zurückkehren dürfen;
-) Bewohner der Grenzgebiete, die in den Grenz-Filtrationslagern überprüft und anschließend nach Hause geschickt werden sollten;
-) Waisenkinder, die in Kinderheime der Volkskommissariate für Bildungswesen der Unionsrepubliken gebracht werden sollten.
Da diese Einteilung grundsätzlich für alle ins Ausland geratenen Sowjetbürger galt und es keine eigene Kategorie für Sowjetdeutsche gab, ist davon auszugehen, dass nach diesen nicht gezielt gesucht wurde. Die in Europa aufgespürten Sowjetdeutschen fielen bei der Rückführung in die UdSSR meist unter Kategorie 4 (internierte Zivilisten) und in selteneren Fälle in eine der ersten drei Kategorien (sowjetdeutsche Kriegsgefangene und Personen, denen nachgewiesen werden konnte, dass sie für die deutschen Besatzungsbehörden gearbeitet hatten).
Für die Annahme, dass sich für die sowjetdeutschen Repatrianten zunächst kaum jemand interessierte, sprechen auch einige weitere Indizien. So ist in den Rahmenrichtlinien des Bevollmächtigten für Rückführungsfragen beim Rat der Volkskommissare, an der sich alle in Deutschland oder anderen europäischen Ländern eingesetzten Mitarbeiter der Repatriierungssbehörden orientierten, an keiner Stelle explizit von Sowjetdeutschen die Rede und es gab auch keine speziellen Sammellager für diese. Auch die in den Zwischensammelstellen und Prüf- und Filtrationslagern verfassten Dokumente enthalten keinerlei Hinweise auf ein besonderes Interesse an deutschen Repatrianten. Für alle Bürger der Sowjetunion wurden unabhängig von ihrer Volkszugehörigkeit die gleichen Registrationskarten ausgefüllt, in denen der Familienname, Vor- und Vatersname, die Volkszugehörigkeit, Alter und Wohnort in der UdSSR, das Datum der „Befreiung aus deutscher Gefangenschaft“, der Name des Lagers sowie das Datum des Abtransports in die UdSSR vermerkt wurden. In den von den Lagerleitungen an die übergeordneten Stellen gesandten Rechenschaftberichten wurden die Deutschen nicht von Angehörigen anderer Volksgruppen unterschieden. Und auch in den (insgesamt etwa 50) Berichten, die General F. Golikow im Namen seiner Behörde regelmäßig an Berija schickte, ist von den Deutschen an keiner einzigen Stelle die Rede. Nicht einmal in der Übersicht über die nationale Zugehörigkeit der Repatrianten wurden die Deutschen gesondert aufgeführt und fielen unter die Rubrik „sonstige Völker, die nicht zur UdSSR gehören“.
Vor diesem Hintergrund konnten die ersten deutschen Repatrianten, die die frontnahen Filtrationslager durchliefen, noch an ihre in der Ukraine, auf der Krim, am Asowschen Meer oder in einigen weiteren Regionen gelegenen Vorkriegswohnorte zurückkehren, von wo aus sie allerdings schon bald an die Orte der Sondersiedlung deportiert wurden, kaum dass die Organe des NKWD „aufgewacht“ waren.
Dass mit Blick auf die deutschen Repatrianten auch innerhalb des NKWD zunächst Unklarheit herrschte, wird auch dadurch belegt, dass der Chef der 1. Sonderabteilung des NKWD der Ukrainischen SSR Oberstleutnant der Staatssicherheit Smirnow noch am 5. Juli 1945 beim Chef der 1. Sonderabteilung des NKWD der UdSSR Oberst der Staatssicherheit Kusnezow anfragte, wie mit den nach der Filtration an ihre in der Ukraine gelegenen früheren Wohnorte zurückkehrenden deutschen Repatrianten zu verfahren sei. Da sich Smirnow an gleicher Stelle erkundigte, ob und in welcher Form die Anmeldung der an ihren früheren Wohnort in Kiew zurückkehrenden Deutschen erfolgen sollte und wohin sie gegebenenfalls umzusiedeln seien, ist davon auszugehen, dass ihm selbst die bereits zitierten, die Rückführung betreffenden Direktiven vom 18. Januar 1945 nicht bekannt waren.
Auf Smirnows Schreiben hin ordnete der Stellvertretende Volkskommissar für Innere Angelegenheiten W. Tschernyschow persönlich an, alle in die Ukraine kommenden Deutschen in die Sondersiedlung zu schicken, und wies zugleich noch einmal explizit darauf hin, dass Personen deutscher Volkszugehörigkeit grundsätzlich nicht in Kiew gemeldet sein durften.
Nachdem sich auch Tschekisten aus Weißrussland, dem Baltikum und einigen weiteren mit dem Problem konfrontierten Gebieten der RSFSR mit ähnlichen Fragen an den zentralen Apparat des NKWD gewandt hatten, erging schließlich die an die Leiter der Zwischensammelstellen gerichtete Anweisung, die deutschen Repatrianten von den übrigen Sowjetbürgern zu trennen und in eigenen Transporten an die ihnen zugewiesenen Orte der Sondersiedlung zu bringen.
An der Tatsache, dass die deutschen Repatrianten an höchst unterschiedliche Orte geschickt wurden, lässt sich ablesen, dass auch die zentrale Führung des NKWD in der unmittelbaren Nachkriegszeit (allem Anschein nach bis Mitte August 1945) keine genaue Vorstellung hatte, wohin die deutschen Rückkehrer gebracht werden sollten, zumal sie deren Entsendung an den einen oder anderen Ort der Sondersiedlung oft nicht einmal mit ihren eigenen Vertretungen vor Ort abstimmte. Davon zeugt auch die Tatsache, dass die vom Zustrom deutscher Repatrianten völlig überraschte Führung des NKWD der Kasachischen SSR angesichts der zu bewältigenden Massen fast schon in Panik verfiel.
So teilte die kasachische NKWD-Führung Anfang August 1945 in einem an Tschernyschow adressierten Telegramm mit, dass in jüngster Zeit insbesondere aus dem Brester Grenz-Filtrationslager ohne jede Vorwarnung ganze Transportzüge deutschstämmiger Personen in die Kasachische SSR gekommen seien. So seien z.B. an der Bahnstation Aktjubinsk am 24. Juli 528 Familien (1.134 Personen), am 28. Juli 750 Familien (1.079 Personen) und am 29. Juli 347 Familien (750 Personen) angekommen. In das Gebiet Akmolinsk seien bereits 3.900 und in das Gebiet Karaganda 7.908 Personen gekommen. Ein solcher Zustrom von Repatrianten ziehe katastrophale Folgen nach sich, da es für die betreffenden Personen weder Wohnraum noch ausreichend Lebensmittel gebe.
Dem gleichen Telegramm war zu entnehmen, dass die für die Prüf- und Filtrationslager zuständige Abteilung des NKWD und insbesondere deren Chef Generalmajor Nikita Schitikow die bereits am 1. Juli 1945 ergangene Anweisung Tschernyschows nicht umsetzten, arbeitsfähige Einzelpersonen und Kleinfamilien, in denen es mehr Arbeitsfähige als Kinder gab, in das im Gebiet Swerdlowsk gelegene NKWD-Lager Bogoslaw bzw. das in der ASSR Komi gelegene NKWD-Kombinat Uchtinsk und kinderreiche Familien zur weiteren Verfügung des NKWD der Tadschikischen SSR zur Bahnstation Stalinobad zu schicken. So sah sich die Moskauer Führung am 14. August offensichtlich gezwungen, alle Prüfstellen und Filtrationslager des NKWD in einem äußerst scharf formulierten Telegramm noch einmal explizit darauf hinzuweisen, die deutschen Sowjetbürger unter Beibehaltung der genannten Sortierungskriterien nicht mehr in die Kasachische SSR, sondern an die bereits im Telegramm vom 1. Juli genannten Orte zu schicken, d.h. in das Lager Bogoslaw, in das Kombinat Uchtinsk und in die Tadschikische SSR.
Die Dokumente zeugen davon, dass die Repatriierung der Deutschen im Juli-August 1945 ihren Höhepunkt erreichte. Just in diesem Zeitraum erreichte auch die Zahl der in den grenznahen Prüf- und Filtrationslagern zusammengezogenen sowjetdeutschen Repatrianten ihren Höchststand, wobei die in diesen Lagern herrschenden Lebensbedingungen höchst problematisch waren. Zur Illustration sei an dieser Stelle ein Telegramm angeführt, das der Chef des Brester Prüf- und Filtrationslagers Oberstleutnant Smurow am 19. August 1945 an Berija persönlich sandte. Allein schon der Umstand, dass sich ein Beamter mittleren Ranges unter Umgehung aller Instanzen direkt an seinen obersten Vorgesetzten, also den Volkskommissar selbst wandte, bei dem es sich zudem noch um eine Figur wie Berija handelte, zeugt davon, dass die Lage in diesem Lager wirklich katastrophale Züge angenommen haben musste.
Smurow teilte Berija mit, dass im Brester Prüf- und Filtrationslager bis zu 7.000 Russlanddeutsche zusammengezogen seien (797 Männer, 2.420 Frauen und 3.037 Kinder): „Sie waren zuvor alle in den frontnahen Zwischensammellagern. Sie legen Dokumente vor, denen zufolge sie in verschiedene Regionen der Sowjetunion verschickt werden sollen. Vor Brest stehen bis zu 30 Transporte mit Russlanddeutschen. Waggons, in denen sie weitertransportiert werden können, stellt die Bahn nicht zur Verfügung. Ich bitte um Ihre Hilfe, damit uns täglich 50 Waggons zur Verfügung gestellt werden“.
Das angeführte Telegramm ist auch aus anderen Gründen höchst interessant: Es enthält die Bestätigung, dass die Leute vor ihrer Ankunft im Brester Prüf- und Filtrationslager des NKWD bereits eine Überprüfung in den Zwischensammellagern durchlaufen hatten, wo sie von Sonderkommissionen unter Hinzuziehung von Mitarbeitern des Militärgeheimdienstes SMERSch kontrolliert wurden. Noch darüber hinaus verfügten sie offensichtlich über Zuweisungspapiere für konkrete Siedlungen. Heißt das, dass sie in Brest ein zweites Mal von den Organen des NKWD kontrolliert wurden? Wahrscheinlicher ist, dass das Brester Prüf- und Filtrationslager als Umschlagstelle und Verladestation diente, da die Spurweite der Eisenbahn in Europa bekanntlich kleiner war als in der Sowjetunion und die Umspurung ebendort stattfand. Davon zeugt indirekt auch die in einem Schreiben Tschernyschows vom 21. August 1945 enthaltene Anweisung an die Chefs der für die Filtrationslager und die Sondersiedlungen zuständigen Abteilungen des NKWD, mehrere Tausend deutsche Repatrianten, die sich in dem im Gebiet Grodno (Weißrussische SSR) gelegenen Prüf- und Filtrationslager Wolkowysk angestaut hatten, (ohne weitere Überprüfung) unverzüglich in die Sondersiedlung zu schaffen, und zugleich etwa 1.100 im gleichen Prüf- und Filtrationslager angekommene frühere SS-Männer zu überprüfen.
Ende 1945 war die Repatriierung der Sowjetdeutschen weitgehend abgeschlossen. Nach Stand zum 20. November 1945 wurden 140.000 frühere Sowjetbürger deutscher Volkszugehörigkeit in die UdSSR repatriiert. Der im Sommer noch reißende Strom wurde zu einem schwachen Rinnsal, sollte aber nichtsdestotrotz noch über mehrere Monate nicht versiegen. So wurden z.B. noch im Januar 1946 310 Repatrianten aus Lettland in das Gebiet Tjumen gebracht, wohin im Februar weitere 800 Personen aus dem Prüf- und Filtrationslager Transkarpatien folgten. Im März wurden 681 Deutsche aus dem Prüf- und Filtrationslager Wladimir-Wolynski (Ukrainische SSR) nach Stalinobad gebracht. Im April wurden 1.250 Repatrianten, die sich im Prüf- und Filtrationslager Frankfurt an der Oder angestaut hatten, zur Bahnstation Kotlas (Gebiet Archangelsk) gebracht.
Den genauen Zeitpunkt des Abschlusses der Repatriierung der Sowjetdeutschen zu bestimmen, ist ebenso wie die Nennung einer konkreten Zahl der repatriierten Personen recht schwierig. Insgesamt wurden nach unseren auf den oben genannten Zahlen basierenden Berechnungen in den Jahren 1945-48 etwa 150.000 deutsche Repatrianten in die UdSSR zurückgeführt - in den allermeisten Fällen gegen ihren erklärten Willen. W. Semskow nennt für den gleichen Zeitraum eine Zahl von 120.200 Personen. Auch wenn diese Zahlen nicht unerheblich voneinander abweichen, liegt in beiden Fällen die Annahme nahe, dass nicht alle Deutschen, die die UdSSR in den Kriegsjahren verlassen hatten, von den sowjetischen Repatriierungsorganen zurückgeführt werden konnten, und etwa die Hälfte von ihnen im Westen blieb.
Zugleich wurden mehrere Hundert Deutsche von den sowjetischen Repatriierungsorganen aufgegriffen und in die Sowjetunion gebracht, die – wie sich später herausstellen sollte - nie Bürger der Sowjetunion gewesen waren. In den meisten Fällen handelte es sich dabei um Leute, die bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs (1914-18) in Bessarabien, in der Bukowina, in Polen, in Wolhynien oder im Baltikum gelebt hatten. Gar nicht so klein war aber auch die Zahl der betroffenen Personen, die immer in Deutschland selbst gelebt und das Land nie verlassen hatten.
Als Beispiel sei an dieser Stelle das tragische Schicksal der 1913 in Ostpreußen geborenen Martha Nuth angeführt, die bis 1944 in Marienburg gelebt hatte (wo sie 1939 auch geheiratet hatte) und 1944 auf der Flucht vor dem Vormarsch der sowjetischen Truppen mit ihrem dreijährigen Sohn tief nach Deutschland gekommen war. Nach Kriegsende erhielt sie von der örtlichen Polizei in Wandlitz einen Passierschein für die Rückkehr nach Marienburg, wo sie von Mitarbeitern der sowjetischen Repatriierungsorgane aufgegriffen und in ein in Brandenburg gelegenes Prüf- und Filtrationslager gebracht wurde, von wo aus sie zur Sondersiedlung in die Stadt Asbest (Gebiet Swerdlowsk) gebracht wurde. In der Situation half es ihr nicht, dass sie ihren Passierschein sowie die Taufurkunde ihres 1942 im Dom von Marienburg getauften Sohnes Willi vorzeigen konnte.
Ohne den Ereignissen vorgreifen zu wollen, sei an dieser Stelle angemerkt, dass es just Schicksale wie das der Martha Nuth waren, die die Bundesregierung 1955 im Zuge der Verhandlungen zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit der UdSSR beschäftigten. Damals erklärte Konrad Adenauer, dass in der UdSSR 130.000 rückkehrwillige Bürger der Bundesrepublik Deutschland lebten. In den allermeisten Fällen ging es dabei um sowjetdeutsche Repatrianten, deren in den Kriegsjahren erworbene deutsche Staatsangehörigkeit die Bundesrepublik Deutschland per Gesetz vom 22. Februar 1955 anerkannt hatte. Die Sowjetbehörden erklärten zwar ihr Einverständnis, die Fälle prüfen und Bürger der BRD ausreisen lassen zu wollen, legten diesen aber in der Praxis alle erdenklichen Steine in den Weg, da sie aus ideologischen und politischen Gründen nicht an einer Ausreise dieser Personen aus der Sowjetunion interessiert sein konnten.
Was die in den Kriegsjahren nach Deutschland gekommenen Sowjetdeutschen betraf, hatte die Sowjetführung einen vergleichsweise leichten Stand, da sich die Forderung nach deren Rückkehr in die BRD durch den Verweis auf deren ursprüngliche sowjetische Staatsangehörigkeit relativ einfach zurückweisen ließ. Deutlich komplizierter war es mit Blick auf Deutsche wie Martha Nuth, die nie Sowjetbürger gewesen waren und nie in der Sowjetunion gelebt hatten. Um der Forderung nach deren Rückkehr in die Bundesrepublik Deutschland den Wind aus den Segeln zu nehmen, fasste die Sowjetführung im Sommer 1955 den Beschluss, diese in die DDR zu „evakuieren“, woraufhin in der Zeit von Dezember 1955 bis Januar 1956 tatsächlich 1.297 Personen dorthin ausreisten. Dabei handelte es sich allerdings ausschließlich um solche Personen, die durch Vorlage entsprechender Dokumente beweisen konnten, dass sie deutsche Staatsangehörige waren und die sowjetische Staatsbürgerschaft nie gehabt hatten. Viele, unter denen auch die erwähnte Martha Nuth war, konnten diesen Beweis nicht erbringen. Ihr Antrag wurde abgelehnt, weil sie keine Dokumente vorlegen konnte, durch die sich ihre Staatsbürgerschaft und Volkszugehörigkeit (!) belegen ließ.
Nach den von W. Semskow angeführten Zahlen lebten nach Stand zum 1. Januar 1953 208.388 deutsche Repatrianten unter den Bedingungen der Sondersiedlung in der UdSSR. Von diesen waren 203.796 am Siedlungsort registriert, 147 zur Fahndung ausgeschrieben und 4.445 im Gefängnis. Hinzu kamen weitere 540 Repatrianten, die in den Besserungs-Arbeitslagern oder auf den Baustellen des Innenministeriums arbeiteten. Nach unseren eigenen Berechnungen lag die Zahl der deutschen Repatrianten zu diesem Zeitpunkt bei 138.669 Personen Die Differenz zwischen den beiden Zahlen könnte dadurch zu erklären sein, dass in unseren Berechnungen weder Kinder im Alter von unter 16 Jahren noch all jene berücksichtigt wurden, die zum Zeitpunkt der Repatriierung jünger als 18 waren. So könnte die Abweichung von insgesamt 70.000 Personen der Zahl der Personen unter 26 Jahren entsprechen, die in der von uns genannten Zahl nicht enthalten sind.
Von den in der Sondersiedlung befindlichen Personen lebten 145.858 (70%) in der RSFSR, 42.850 (20%) in der Kasachischen SSR und 18.023 (8,7%) in der Tadschikischen SSR. Die übrigen 2,3% der deutschen Repatrianten lebten in den anderen Unionsrepubliken (Usbekistan, Kirgistan, Turkmenistan). Die in der RSFSR lebenden deutschen Repatrianten verteilten sich auf neun Autonome Republiken, vier Regionen und 29 Gebiete. Innerhalb der RSFSR erstreckte sich die deutsche Sondersiedlung über ein gewaltiges Territorium, das sich von den Gebieten Moskau und Tula im Westen bis zur Region Primorje, Sachalin und dem Hohen Norden (d.h. Kolyma, Kamtschatka, Tschukotka) im Osten sowie vom äußersten Norden bis an die Südgrenze der UdSSR zur Mongolei erstreckte. Die meisten repatriierten Deutschen lebten im Ural (17.831 Menschen im Gebiet Molotow, 12.076 im Gebiet Swerdlowsk, 7.580 in der Udmurtischen ASSR, 4.264 im Gebiet Tscheljabinsk usw.), im Norden des europäischen Teils der RSFSR (10.976 im Gebiet Archangelsk, 10.131 in der ASSR Komi, 9.462 im Gebiet Wologda usw.) und in Westsibirien (13.841 in der Region Altai, 13.262 im Gebiet Nowosibirsk, 5.830 im Gebiet Tomsk, 4.888 im Gebiet Kemerowo usw.).
Unerwartet viele deutsche Repatrianten wurden in Zentralrussland und in der Wolga-Wjatka-Region angesiedelt (6.342 Personen im Gebiet Kostroma, 5.735 im Gebiet Kirow, 2.594 in der ASSR Mari, 1.779 im Gebiet Iwanowo, 1.174 im Gebiet Gorki usw.). Recht große Gruppen repatriierter Deutscher gab es in den Republiken, Regionen und Gebieten Ostsibiriens (4.418 Personen im Gebiet Irkutsk, 3.200 in der Region Krasnojarsk, 977 in der Jakutischen ASSR, 867 in der Burjatisch-Mongolischen ASSR usw.).
In einer ganzen Reihe von Republiken, Regionen und Gebieten waren die Repatrianten in verschwindend kleinen Gruppen vertreten (z.B. eine Person auf Sachalin, zwei Personen im Gebiet Wladimir, acht im Gebiet Rjasan usw.) Aller Wahrscheinlichkeit nach waren diese Personen schon auf eigenen Wunsch dorthin gekommen und hatten von den Organen des MWD eine Erlaubnis zur Familienzusammenführung bekommen. Eine solche Praxis kam in den Nachkriegsjahren bekanntlich durchaus vor.
In den die repatriierten Deutschen betreffenden Dokumenten der für die Sondersiedlungen zuständigen Abteilung des Innenministeriums der UdSSR und der 9. Verwaltung des Ministerums für Staatssicherheit der UdSSR wurde unter der Rubrik „Dauer der Aussiedlung“ in der Regel „unbefristet“ eingetragen, was exakt der für alle sowjetdeutschen Sondersiedler geltenden Praxis entsprach. An den Orten der Sondersiedlung fielen die deutschen Repatrianten in den Geltungsbereich der gleichen Gesetze, die auch für alle anderen Deutschen galten (einschließlich des Dekrets des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 26. November 1948), und unterstanden der Zuständigkeit der Abteilung für Sondersiedlungen. Ungeachtet dieser faktischen Gleichstellung wurden sie allerdings in allen einschlägigen Dokumenten in einer eigenen Rubrik geführt.
Auch später sollte das Schicksal der deutschen Repatrianten eng mit dem Schicksal der übrigen Sowjetdeutschen verbunden bleiben. So wurden sie zwar, als das von Berija geführte Innenministerium 1953 Pläne für eine drastische Reduzierung der Zahl der Sondersiedler ausarbeitete, in einer eigenen Rubrik ausgesondert und sollten aufgrund ihrer „ausgeprägt antisowjetischen Haltung“ in der Sondersiedlung bleiben, aber diese Pläne wurden infolge der Entmachtung Berijas nicht umgesetzt. Ihre antisowjetische Haltung sollten sie allerdings lange bewahren. So waren es just die Repatrianten, die (nicht zuletzt dank der Unterstützung, die sie von Seiten der Bundesrepublik erfuhren) den Grundstein der Emigrationsbewegung legten, die bereits in den Jahren des Tauwetters einsetzte, Ende der 1980er Jahre fast die gesamte in der Sowjetunion lebende deutsche Bevölkerung erfasste und bis heute andauert.
Verteilung der deutschen Repatrianten über das Territorium der UdSSR
(nach Stand zum 1. Januar 1953)
Name der Republik, der Region bzw. des Gebiets |
Zahl der Repatrianten |
1. RSFSR, davon: Baschkirische ASSR Burjat-Mongolische ASSR Karelisch-Finnische ASSR ASSR Komi ASSR Mari Tatarische ASSR Udmurtische ASSR Tschuwasische ASSR Jakutische ASSR Region Altai Region Krasnojarsk Region Primorje Region Chabarowsk Gebiet Amur Gebiet Archangelsk Gebiet Wladimir Gebiet Wologda Gebiet Gorki Ferner Norden (vom MWD so ausgewiesen -A.G.) Gebiet Iwanowo Gebiet Irkutsk Gebiet Kemerowo Gebiet Kirow Gebiet Kostroma Gebiet Kujbyschew Gebiet Kurgan Gebiet Molotow Gebiet Moskau Gebiet Murmansk Gebiet Nowosibirsk Gebiet Omsk Gebiet Orenburg Gebiet Rostow Gebiet Rjasan Gebiet Sachalin Gebiet Swerdlowsk Gebiet Tomsk Gebiet Tula Gebiet Tjumen Gebiet Uljanowsk Gebiet Tscheljabinsk 2. Kasachische SSR 3. Kirgisische SSR 4. Tadschikische SSR 5. Turkmenische SSR 6. Usbekische SSR in Besserungs-Arbeitslagern und auf Baustellen des NKWD Insgesamt |
145.858
773 867 29 10.131 2.592 68 7.580 7 977 1.3841 3.200 16 116 39 10.976 2 9.462 1.174 882 1.779 4.418 4.888 5.735 6.342 57 51 17.831 98 16 13.262 1.869 1.973 195 8 1 12.076 5.830 57 1.810 26 4.264 42.850 36 18.023 381 1.185 540 208.388 |
Auswahl vom Autor auf Basis des von W.N. Semskow veröffentlichten Materials. Siehe: Semskow, W.N.: Häftlinge, Sondersiedler, Zwangsumsiedler, Verbannte und Ausgesiedelte (statistisch-geographischer Aspekt). In: Geschichte der UdSSR. 1991. Nr. 5. S. 151-165.