AUSWANDERUNG AUS RUSSLAND.
Bereits seit 1834 wanderten vereinzelt Russlanddeutsche nach Brasilien oder Nordamerika aus. Zu ersten Massenauswanderungen kam es allerdings erst in den 1870er Jahren.
1.Phase: 1871-1914
1871 wurden im Zuge der Reformen, die nach dem verlorenen Krimkrieg (1853-1856) eingeleitet worden waren, die Kolonistengesetze abgeschafft. Dies bedeutete den Verlust der „auf ewig gewährten“ Privilegien, dem 1874 noch die Aufhebung der Befreiung vom Militärdienst folgte, womit auch die Kolonisten der 1874 eingeführten allgemeinen Wehrpflicht unterlagen. Zudem wurden 1871 die Schwarzmeer- und Wolgakolonien der allgemeinen russischen Verwaltung unterstellt, nachdem die Eingliederung aller anderen deutschen Kolonien bereits im Dezember 1866 stattgefunden hatte. Dies bedeutete die Aufhebung der deutschen Verwaltung sowie die schrittweise Russifizierung der deutschen Schulen.
Diese Reformen sollten für die Angleichung des Status’ der Kolonisten an den der russischen Bauern dienen. Zugleich enthielten sie die Vorschrift, die schriftliche Niederlegung von Gemeindebeschlüssen und den gesamten Schriftverkehr auf Russisch zu erledigen.
Die Reformen riefen bei den Russlanddeutschen eine massive Angst vor Russifizierung ihrer Infrastruktur und somit vor dem Verlust ihrer eigenen Sprache, Kultur und Identität hervor.
Die Aufhebung der Privilegien der Kolonisten fiel zusammen mit attraktiven Angeboten der amerikanischen Regierung und Eisenbahngesellschaften. Die amerikanische Regierung bot für leicht zu erfüllende Verpflichtungen kostenlos Land an, und die Eisenbahngesellschaften verkauften es zu günstigen Preisen.
Einige längst emigrierte Russlanddeutsche schwärmten in Briefen oder bei Besuchen in Russland vom Leben in den USA und stimulierten somit zum Teil A.’süberlegungen.
a) Die Mennoniten:
1873 setzte bei den Mennoniten das „Auswanderungsfieber“ ein. 1874 stieg mit der Aufhebung der Befreiung vom Wehrdienst die Zahl der auswandernden Mennoniten stark an. Zwar mussten die Mennoniten keinen Waffendienst leisten sollten aber in Lazaretten ihren Dienst erfüllen. Sie lehnten jedoch aus religiösen Gründen jeglichen Dienst in militärischen Strukturen ab.
Als in Bessarabien viele Mennoniten ihre Auswanderung vorbereiteten, schickte der Zar General von Todt leben zu Verhandlungen zu ihnen, damit sie von ihrem Vorhaben ablassen. Die erfolgreichen Verhandlungen im April 1874 waren Voraussetzung für die 1880 endgültig verabschiedete Regelung, dass die Mennoniten ihren Dienst ausschließlich in „Forsteikommandos“ erfüllten.
Trotz solcher Erfolge wanderten zwischen 1873 und 1883 insgesamt 18.000 Mennoniten nach Kanada und in die USA aus.
Ihre Motive waren zum einen die Ablehnung des Militärdienstes, wobei dieser Aspekt nicht überschätzt werden sollte, da die USA ihnen keine generelle Freistellung von Militärdiensten garantierten, zum anderen die drohende Russifizierung der Religion und Sprache. Es spielten auch ökonomische Gründe eine Rolle, allerdings in geringerem Masse.
Nach 1883 emigrierten bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs nur noch vereinzelt Mennoniten aus Russland.
b) A. aus den Wolgakolonien dem Schwarzmeergebiet und Wolhynien:
Auch in diesen Siedlungsgebieten spielten die Aufhebung der Privilegien sowie die Angst vor Russifizierung und der damit zusammenhängenden Befürchtung, die eigene Kultur, Religion, Sprache und Identität zu verlieren eine gewichtige Rolle für die A.
Gerade in den Wolgakolonien veranlasste ein akuter Landmangel, wegen des von den Russen übernommenen Mir-Systems, mit dem gleichzeitig stattfindenden Statusverlust der Kolonisten die A. in die USA, weil dort reichlich freies Land zur Verfügung stand, und nach Südamerika (bevorzugt Brasilien). Allerdings emigrierten selbst während der großen Ausreisewelle von 1874-1881 lediglich 2% der Wolgadeutschen.
Aufgrund der Missernten 1879-1881, der Dürrekatastrophen in den 1880er und 1890er Jahren sowie der verschiedenen außenpolitischen Spannungen, wobei hier der russisch-japanische Krieg 1904/05 hervorzuheben ist, schwoll der Auswanderungsstrom immer wieder an. In den 1870ern veranlassten zudem Intoleranz und Repressalien gegenüber der wachsenden Bruderschaftsbewegung (Pietisten, Stundisten) viele Familien in die USA auszuwandern.
Insgesamt verließen zwischen 1871 und 1914 ca. 100.000 Wolgadeutsche Russland in Richtung Nord- und Südamerika. Wobei manche auch nur drei bis vier Jahre nach Amerika zogen, dort einige tausend Dollar verdienten und dann zurückkehrten, um zu heiraten und sich einen Bauernhof einzurichten.
Für das Schwarzmeergebiet gelten im wesentlichen dieselben A.’sgründe wie für die Wolgadeutschen. Allerdings ersetzte in dieser Region das Motiv des Landhungers das der Landknappheit und bei der Entwicklung der A.’sbewegung fielen die auslösenden Momente der Missernten und Dürren weg.
Ende der 1870er fand, laut Aussage der Emigranten wegen Benachtei ligungen und ungerechter Behandlung durch die Beamten der unteren Verwaltungsebene, eine stärkere A. aus Bessarabien statt.
Die meisten Emigranten aus dem Schwarzmeergebiet waren Mennoniten und die Anzahl der nicht-mennonitischen ausgewanderten Schwarzmeerdeutschen hat wahrscheinlich nicht die Zahl von 2000-3000 Personen überschritten.
Wegen der Willkür der unteren Behörden infolge der Eingliederung der Kolonisten in die russische Verwaltung wanderten bis Ende 1890 ca. 10.000 Deutsche aus Wolhynien nach Brasilien sowie eine unbekannte Zahl in die USA aus.
c) Die Rückwanderung nach Deutschland:
1900 setzte die Rückwanderungsbewegung nach Deutschland ein.
Besonderen Anteil hatte daran der Gründer des „Evangelischen Hauptvereins für deutsche Ansiedler und Auswanderer“ Faure, der vor allem Russlanddeutsche aus dem Schwarzmeergebiet und Wolhynien zur Rückwanderung bewegen konnte.
1909 wurde in Berlin der „Fürsorgeverein für deutsche Rückwanderer“ gegründet, der ebenfalls maßgeblichen Anteil an der Entscheidung Russlanddeutscher zur Rückwanderung hatte.
Besonders die Mobilisierung von Reservisten im russisch-japanischen Krieg 1904/05 und die russische Revolution 1905 sowie die Hungersnot in den Wolgakolonien 1907 ließen den Rückwanderungsstrom merklich ansteigen.
Insgesamt siedelten bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs mindestens 30.000 Russlanddeutsche nach Deutschland über.
2.Phase: 1914-1945
Mit Beginn des Ersten Weltkriegs kam die Auswanderung der Russlanddeutschen zunächst zum erliegen, da zu diesem Zeitpunkt die Grenzen des russischen Reiches im Westen aufgrund der Kriegshandlungen nicht mehr zu passieren waren.
Nach der Oktoberrevolution 1917 besaßen die Russlanddeutschen die im Friedensvertrag von Brest-Litowsk verankerte Option, im Laufe von zehn Jahren nach der Ratifizierung des Vertrags bei gleichzeitiger Transferierung ihres Kapitals nach Deutschland auszuwandern. Von diesem Angebot machten vor allem die Gebräuche, die während des Ersten Weltkrieges in den von den Deutschen besetzten Gebieten gelebt hatten (Klein- und Neurussland, Transkaukasien, Baltikum). Ob-wohl dieser Zusatzvertrag bereits 1918 nach der Niederlage Deutschlands annulliert worden war, gestattete die Regierung der Sowjetunion größeren Gruppen von Russlanddeutschen die A. Dies betraf in erster Linie die, deren Güter während des Kriegs beschlagnahmt worden waren bzw. die in diesem Zeitraum aus ihren Kolonien geflohen und verarmt waren.
Später wurde auch denen die A. gestattet, die sie selbst oder mit Hilfe Dritter finanzieren konnten. Zu dieser Zeit war die GPU angehalten, die A. „antisowjetischer Elemente“ zu fördern.
Die Erfahrungen des Krieges, unter anderem die Verfolgung durch die russische Regierung und die Liquidierung „deutschen“ Grundbesitzes, sowie das im Bürgerkrieg erfahrene Leid erweckten unter den Mennoniten erneut den A.’sgedanken. Diesem folgend wanderten zwischen 1923 und 1928 23.000 Mennoniten aus der Sowjetunion aus.
Dieser A.’sstrom wurde 1924 durch Missernten und 1927 aufgrund der Bildung des deutschen Rayons in Sibirien, die für die Mennoniten keinen Zweifel an einer stärkeren Kontrolle der Gemeinden ließ, gefördert.
Am 1.Februar 1929 wurde die Anweisung erlassen, verschärft gegen die Kulaken und Kirchen vorzugehen. Dies bedeutete zum einen den Beginn der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft, der den Mennoniten die Erkenntnis bescherte, dass sie in der Sowjetunion als selbständige Bauern keine Zukunft hatten. Zugleich befürchteten sie, in einer kollektivierten Kommune löse sich die Familie auf und ihre Kinder seien sowohl der atheistischen Erziehung als auch unsittlichen Einflüssen ausgeliefert.
Zum anderen wurden Kirchen und Sonntagsschulen geschlossen, Geistliche verfolgt, der freie Sonntag missachtet und ähnliche antireligiöse Maßnahmen unternommen.
Zudem wurden die russlanddeutschen Bauern oft ungerechterweise höher besteuert und im Sommer 1929 war Westsibirien von einer Missernte betroffen.
Dies alles bewirkte, dass sich im Laufe des Jahres 1929 mehrere tausend Russlanddeutsche, vor allem aus dem Deutschen Rayon, in den Vororten Moskaus versammelten, um ihre Ausreise zu erwirken. Kurz nach Verhandlungen mit einem deutschen Regierungsvertreter am 19.Oktober erhielten die ersten Gruppen die Ausreiseerlaubnis. Doch die kanadische Regierung wollte frühestens im nächsten Frühjahr neue Auswanderer aufnehmen und die deutsche Regierung die Last nicht alleine tragen, so dass Moskau die A. bereits Ende des Monatsstoppte. Nachdem nun die GPU in Aktion getreten war, um die A.’swilligen in ihre Heimatorte zurück zu transportieren, erklärte sich Deutschland schließlich bereit, vorerst alle Flüchtlinge aufzunehmen, so dass ein Großteil der noch in Moskau Wartenden ausreisen konnte. Unter den ca. 5.500 Personen, die zum Teil noch nach Süd- und Nordamerika weiterzogen, stellten die Mennoniten die absolute Mehrheit. Gründe dafür waren erstens deren Briefkontakt zu Glaubensbrüdern in Amerika und Deutschland (mit der Hilfe der kanadischen Mennoniten konnten sie fest rechnen), zweitens waren schon in den vorhergehenden Jahren viele Mennoniten ausgewandert und drittens war die Kommunikation im deutschen Rayon wegen seiner
Geschlossenheit besonders gut. Zudem waren die Mennoniten durch die ungeachtet der Missernten überhöhten Ablieferungsquoten in ihren A.’sbestrebungen bestärkt worden.
Weitere Russlanddeutsche wollte die deutsche Regierung jedoch nicht aufnehmen. Jedoch bemühte sich die deutsche Botschaft seit dem Sommer 1930 zumindest um die Ausreise der Angehörigen der 1929 ausgewanderten. Tatsächlich konnte seit dem Frühjahr 1931 ein Teil der Familien zusammengeführt werden, allerdings war der Prozess auch zu Beginn des Jahres 1932 noch nicht abgeschlossen.
Nach dieser letzten großen A.’swelle, emigrierten noch im Mai 1932 und im April 1934 einige hundert Russlanddeutsche zum Grossteil über Shanghai nach Südamerika, danach sind bis in die fünfziger Jahre Keine A.’sbewegungen dieser Personengruppe mehr bekannt.
Insgesamt sind in dieser Phase annähernd 30.000 Russlanddeutsche emigriert.
3.Phase: 1945-1998
Die ersten russlanddeutschen Auswanderer nach dem Zweiten Weltkrieg sind für das Jahr 1951 verzeichnet. Doch bereits 1953 lag ihre Zahl bei null. Dies lag an der grundsätzlich ablehnenden Haltung der Sowjetregierung gegenüber Emigration aus der Sowjetunion. Der Moskau-Besuch des Bundeskanzlers der BRD, Adenauer, 1955 sorgte erstmals dafür, dass größere Gruppen Russlanddeutscher in die BRD auswandern durften. Dies geschah jedoch nur im sehr engen Rahmen der Familienzusammenführung, der besagte, dass Antragsteller Familienangehörige ersten Grades in der BRD haben mussten.
Bis 1970 wurde die Ausreise Russlanddeutscher sehr streng gehandhabt, so dass von den 100.000 Personen, die bereits 1957 ihren Ausreisewunsch bei der deutschen Botschaft in Moskau kundgetan hatten, nur sehr wenige die Sowjetunion verlassen durften.
Infolge der neuen Ostpolitik der BRD und der Ostverträge wurde die Ausreisepolitik im Laufe der 70er Jahre deutlich gelockert. Das bedeutete, dass die Familienzusammenführung nicht mehr so eng definiert wurde und somit auch Personen davon profitierten, die bisher außerhalb dieser Kategorie geblieben waren. Aufgrund dieser Lockerung stiegen die Aussiedlerzahlen im Verlauf der siebziger Jahre stark an.
Als Reaktion auf den NATO-Doppelbeschluss wurde die A.’sbewegung seit 1980 wieder massiv eingeschränkt.
Dieser Zustand wurde jedoch mit Einsetzen von Gorbatschows Perestroika-Politik beendet. In Folge der nun einsetzenden liberalen Ausreisepolitik schwoll der Strom der russlanddeutschen Auswanderer massiv an. Dies führte zu einer Quotierung der Einreisezahlen und restriktiveren Aufnahmebedingungen (z.B. die Überprüfung deutscher Sprachkenntnisse) durch die BRD. Daher gingen die Zahlen der Aussiedler aus der ehemaligen Sowjetunion und ihren Nachfolgestaaten seit 1994/95 leicht zurück. Seit 1997/98 ist der Rückgang deutlich stärker ausgefallen, unter anderem weil die Russlanddeutschen jetzt teilweise eine Zukunftsperspektive in ihrer Heimat sehen, aber hauptsächlich wegen der neueren Aussiedlerpolitik der BRD.
Insgesamt verließen zwischen 1951 und 1996 fast 1,6 Millionen Russlanddeutsche die Sowjetunion bzw. ihre Nachfolgestaaten.
Unter den Auswanderern gab es die Motivation betreffend im wesentlichen zwei Gruppen. Zum einen die, die ihre Identität als „Deutsche“ wahren wollten und wegen der repressiven Religionspolitik, der Russifizierung und der Ablehnung des politischen Systems sowie der Familienzusammenführung bereits seit den fünfziger Jahren die Sowjetunion verlassen wollten.
Zum anderen die, die seit Ende der achtziger Jahre den Großteil der Auswanderer ausmacht, und die Sowjetunion bzw. ihre Nachfolgestaaten aufgrund ökonomischer Motive und fehlender Zukunftsperspektiven verließen bzw. verlassen.
Detlef Brandes: Von den Zaren adoptiert. Die deutschen Kolonisten und die Balkansiedler in Neurussland und Bessarabien 1751-1914, München 1993 (Schriften des Bundesinstituts für ostdeutsche Kultur und Geschichte); Ders.: Ein „Kulakenaufstand“ im sibirischen Halbstadt?, in: Forschungen zur Geschichte und Kultur der Russlanddeutschen 4/1994, S.98-116; Susanne Janssen: Vom Zarenreich in den amerikanischen Westen. Russlanddeutsche in den USA (1871-1928). Die politische, sozio-ökonomische und kulturelle Adaption einer ethnischen Gruppe im Kontext zweier Staaten, Münster 1997 (Studien zu Geschichte, Politik und Gesellschaft Nordamerikas, 3); Fred C. Koch: The Volga Germans. In Russia and the Americas, from 1763 to the present, Pennsylvania 2.1977; Dietmar Neutatz: Die „deutsche Frage“ im Schwarzmeergebiet und in Wolhynien. Politik, Wirtschaft, Mentalitäten und Alltag im Spannungsfeld von Nationalismus und Modernisierung (1856-1914), Stuttgart 1993 (Quellen und Studien zur Geschichte des östlichen Europa; Bd. 37)