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Rubrik: Kultur, Wissenschaft, Bildung, Medizin

Im Zuge der über zwei Jahrhunderte währenden Geschichte der Deutschen im Russischen Reich und der Sowjetunion sind zahlreiche Zeugnisse ihrer Lebens- und Wirkungsgeschichte entstanden, die heute in verschiedenen Archiven Russlands und seiner Nachbarländer lagern. Die Herausforderung für die Forschung besteht dabei insbesondere darin, dass es keine geschlossene Überlieferung dieser Bevölkerungsgruppe gibt. Archivalien sind somit über verschiedene Staaten, Archive und Bestände verstreut.

Zu den frühesten Bestandsbildnern gehörten staatliche Institutionen und administrative Einrichtungen des russischen Zarenreichs, die an der Umsetzung der Kolonisationspolitik Katharinas II. beteiligt waren. Deren umfangreiche Bestände werden in den föderalen Archiven Russlands wie dem Russischen Staatlichen Archiv alter Akten in Moskau (Rossijskij gosudarstvennyj archiv drevnich aktov – RGADA) und dem Russischen Staatlichen Historischen Archiv in St. Petersburg (Rossijskij gosudarstvennyj istoričeskij archiv – RGIA) sowie in den regionalen russischen und ukrainischen Archiven verwahrt.

Die im RGADA lagernden Dokumente zur Geschichte deutscher Siedler in Russland umfassen einerseits gesetzliche Bestimmungen und sie begleitende Materialien, die im Zuge der Realisierung der Ansiedlungspolitik Katharinas II. erlassen wurden, andererseits Materialien zur praktischen Umsetzung dieser Politik in den 1760–1780er Jahren. Relevante Bestände hierzu sind vor allem der Senat und seine Einrichtungen (Senat i ego učreždenija, f. 248), das Kabinett Katharinas II. und sein Fortbestand (Kabinet Ekateriny II i ego prodolženie, f. 10) sowie der nicht sehr umfangreiche, jedoch für die Thematik  einschlägige Bestand der Fürsorgekanzlei für ausländische Ansiedler (Kanceljarija opekunstva  inostrannych, f. 283).

Das RGIA als eines der bedeutendsten Archive zur Geschichte des Russischen Zarenreichs vom Ende des 18. bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts bietet besonders reichhaltiges Quellenmaterial zur Erforschung der deutschen Kolonien und der kirchlichen Verwaltung ihrer Gemeinden, insbesondere der lutheranischen, die unter den Beständen der höchsten Machtorgane des Staates verwahrt werden. Neben dem höchsten administrativen Organ des Russischen Zarenreiches, dem Ministerkomitee (Komitet ministrov, f. 1263), der von 1802 bis 1830 besonders viele Sitzungen im Zusammenhang mit Fragen der ausländischen Ansiedlung aufweist, befinden sich die meisten Materialien zur Geschichte der deutschen Kolonien in den Beständen des Ministeriums für Landwirtschaft (Ministerstvo zemledelija), der zentralen Einrichtung zur Verwaltung der Reichsdomänen und der Beförderung der Landwirtschaft. Dazu gehören insbesondere die Bestände des Ersten Departements des Ministeriums für Reichsdomänen (Pervyj departament Ministerstva gosudarstvennych imuščestv, f. 383), der Kanzlei des Ministers für Landwirtschaft (Kanceljarija ministra zemledelija, f. 381) und des landwirtschaftlichen Departement des Ministeriums für Reichsdomänen (Departament zemledelija ministerstva gosudarstvennych imuščestv, f. 398). Unter den Archivalien sind zahlreiche Dokumente zur Verwaltung der deutschen Kolonien, über ihren Zustand, das Leben und die wirtschaftliche Tätigkeit der Kolonisten, den Bau von Schulen und Kirchen sowie Listen der Kolonisten mit prosopographisch relevanten Daten enthalten.

Weitere Materialien des RGIA zur Geschichte der deutschen Kolonisation in Russland befinden sich in den Beständen des Innenministeriums (Ministerstvo vnutrennich del), etwa des Ministerrats (Sovet ministrov, f. 1281), des Departements für geistliche Angelegenheiten fremder Konfessionen (Departament duchovnych del inostrannych ispovedanij, f. 821) oder des Evangelisch-lutherischen Generalkonsistoriums (General’naja evangeličesko-ljuteranskaja konsistorija, f. 828).

Wertvolle Quellen zur russlanddeutschen Geschichte beherbergt ferner das Russische staatliche militärhistorische Archiv (Rossijskij gosudarstvennyj voenno-istoričeskij archiv – RGVIA), das über statistische Materialien und vor allem die einzigartige Sammlung kartographischer Dokumente des 18.–19. Jahrhunderts verfügt, darunter etwa Karten der wolgadeutschen und südrussischen Kolonien (f. 846). Außerdem befinden sich im Archiv Materialien zur Anwendung der 1874 eingeführten allgemeinen Militärpflicht auf die deutschen Kolonisten, die im Bestand der Kommission zur Ausarbeitung der Bestimmung über die persönliche Militärpflicht im Imperium und Königreich Polen (Komissija dlja razrabotki položenija o ličnoj voennoj povinnosti v Imperii i Carstve Pol’skom, f. 378) sowie im Bestand des Hauptstabs des Militärministeriums (Glavnyj štab Voennogo ministerstva, f. 400) verwahrt werden. Dokumente zur Umsetzung der Wehrpflicht bei Mennoniten im Ersten Weltkrieg bietet zudem der Bestand der Hauptverwaltung des Generalstabs des Militärministeriums (Glavnoe upravlenie General’nogo štaba Voennogo ministerstva, f. 2000. op. 3).

Das relativ kleine Archiv der Außenpolitik des Russischen Imperiums (Archiv vnešnej politiki Rossijskoj imperii – AVP RI) umfasst einmalige Quellen des außenpolitischen Amtes, die den Prozess des Anwerbens, der Reise und der Ansiedlung der Kolonisten in Russland widerspiegeln. Diese sind etwa im Bestand der Inneren Kollegangelegenheiten (Vnutrennie kolležskie dela, f. 2), den Beständen Beziehungen Russlands zu Hamburg (Snošenija Rossii s Gamburgom, f. 44), Hamburger Mission (Gamburgskaja missija, f. 45), Berliner Mission (Berlinskaja missija, f. 76), Beziehungen Russlands zu Sachsen (Snošenija Rossii s Saksoniej, f. 84) und anderen zu finden.

Unterlagen der dann vor Ort neu geschaffenen Institutionen zur Verwaltung der deutschen Koloniendörfer finden sich zahlreich in den regionalen Archiven Russlands und der Ukraine. Für die Erforschung der Geschichte der Wolgadeutschen sind das Staatliche Gebietsarchiv Saratov (Gosudarstvennyj archiv Saratovskoj oblasti – GA SO) und das Staatliche Historische Archiv der Wolgadeutschen in Engels (Gosudarstvennyj istoričeskij archiv nemcev Povolž’ja – GIA NP) sowie Gebietsarchive in Samara und Wolgograd von besonderer Bedeutung. Bis 1871 wurden die wolgadeutschen Kolonien vom 1766 geschaffenen Saratover Fürsorgekontor für ausländische Ansiedler (Saratovskaja kontora opekunstva inostrannych) verwaltet, das 1833 in Saratover Kontor für ausländische Ansiedler (Saratovskaja kontora inostrannych poselencev) umbenannt wurde. Die frühe Phase dieser Behörde ist im GA SO (f. 180) jedoch nicht überliefert, da die Mehrheit der Dokumente von ihrer Gründung bis 1744 während des Pugačev-Aufstandes vernichtet wurde. Die erhaltenen Materialien umfassen zahlreiche Akten mit Erlassen des Regierenden Senats und Vorschriften der Departements des Innenministeriums und des Ministeriums für Reichsdomänen zu den unterschiedlichsten Angelegenheiten des Lebens in den deutschen Kolonien. Ebenso stellen Sitzungsprotokolle des Kontorkollegiums aufschlussreiche Quellen zur sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung der deutschen Kolonien an der Wolga und Formen deren Verwaltung durch die russische Behörde dar.

Durch die 1871 durchgeführte Reform der Kolonienverwaltung wurde die Zuständigkeit für die Kolonien den Saratover und Samaraer Gouvernements- und Bezirksverwaltungen übertragen. Dokumente der zentralen administrativen Organe des Saratover Gouvernements – der Kanzlei des Saratover Gouverneurs (Kanceljarija Saratovskogo gubernatora, f. 1), der Saratover Gouvernementsverwaltung (Saratovskoe gubernskoe pravlenie, f. 2), des Saratover Kameralhofs (Saratovskaja gubernskaja kazjennaja palata, f. 28) und des Saratover Gouvernementskomitees für Statistik (Saratovskij gubernskij statističeskij komitet, f. 421) können daher wichtige Einblicke in Prozesse der Ein- und Auswanderung der Migranten nach und aus Russland liefern. Die Bestände enthalten außerdem Pässe, Briefwechsel sowie Daten der Volkszählungen (revizskie skazki) in den deutschen Kolonien.

Mit einem Umfang von über zwei Tausend Akten werden im GA SO des Weiteren Bestände der römisch-katholischen Konsistorien von Cherson und Tiraspol verwahrt (Chersonskaja rimsko-katoličeskaja duchovnaja konsistorija, f. 1166 und Tiraspol’skaja rimsko-katoličeskaja duchovnaja konsistorija, f. 365), die unter anderem – besonders für genealogische Forschungen wertvolle – Kirchenbücher sowie Auszüge (Kopien) aus den Matrikeln der Kolonien in der Südukraine und dem Kaukasus enthalten. Viele Kirchenbücher der römisch-katholischen und lutheranischen Gemeinden werden im GA SO zudem in speziellen Sammlungen zusammengefasst: etwa der Kirchenbüchersammlung der Gemeinden des Saratover Gouvernements (Kollekcija metričeskich knig cerkvej Saratovskoj gubernii, f. 637) sowie der Büchersammlung der Personenstandsakten des Saratover Gouvernements (Kollekcija knig zapisej aktov graždanskogo sostojanija otdelov ZAGS Saratovskoj gubernii, f. R-3755).

Das Staatliche Historische Archiv der Wolgadeutschen in Engels (Gosudarstvennyj istoričeskij archiv nemcev Povolž’ja – GIA NP) ist das einzige Archiv in Russland und seinen Nachbarländern, dessen Sammelauftrag ausschließlich der Überlieferung zur Geschichte und Kultur der Wolgadeutschen gilt, wenn auch diese durch Verluste und Verlagerungen des Archivguts nicht mehr so vollständig wie bei Schaffung des Archivs ist. Im Archiv werden 21 Bestände der Bezirksverwaltungen, über hundert Bestände der Dorfverwaltungen, 50 Bestände der evangelisch-lutheranischen und 16 Bestände der römisch-katholischen Kirchen verwahrt. Diese erlauben einen tiefen Einblick in Alltag und  Wirtschaftsleben der Kolonisten. Die überlieferten Materialien betreffen Fragen der Bodennutzung und Landregulierung, Durchführung der Stolypin-Reform in der Region, des Steuerwesens, des Baus von Brücken, Dämmen, Kirchen und Schulen, außerdem sind diverse Listen und tabellarische Erfassungsbögen erhalten, darunter der Volkszählungen von 1834, 1850 und 1857, aber auch Steuer-, Einberufungs- und Rekrutenlisten, Listen der verwitweten Personen, der Landbesitzer oder der Besitzer von Industriebetrieben. Es gibt Berichte über die wirtschaftliche Lage der Kolonien, die Ernteerträge, den Kampf mit ansteckenden Krankheiten und weitere Lebensbereiche der Kolonisten.

Die Bestände der evangelisch-lutheranischen und römisch-katholischen Kirchen umfassen 419 Kirchenbücher, deren Großteil ab ca. 1800 erhalten geblieben ist. Neben dem genealogischen Interesse sind diese von Bedeutung für Erforschung der Geschichte der Siedlungen, der Gründung von neuen Diözesen, des Baus und der Restaurierung von Kirchen.

Besonders informativ sind Kirchenchroniken, in denen detaillierte Angaben zum Bau von Gebäuden (Stil, finanzielle Mittel, Spender) und zu den Kirchenträgern enthalten sind.

Das GIA NP verwahrt auch Dokumente aus der sowjetischen Zeit, die Prozesse der Entstehung der Arbeitskommune 1918 sowie ab 1924 der Autonomen Republik der Wolgadeutschen beleuchten und etwa in den Beständen des Kommissariats für deutsche Angelegenheiten im Wolgagebiet (Povolžskij kommissariat po nemeckim delam, f. R-728), des Exekutivkomitees des Gebiets der Wolgadeutschen und seiner Abteilungen (Ispolnitel’nyj komitet Oblasti Nemcev Povolž’ja i ego otdely, f. R-849), des Zentralen Exekutivkomitees (Central’nyj ispolnitel’nyj komitet, f. R-998), des Obersten Sowjets (Verchovnyj Sovet, f. R976) sowie den Beständen verschiedener Volkskommissariate und Kommissionen vorkommen.

Seit Ende des 18. Jahrhunderts siedelten deutsche Kolonisten auch im Schwarzmeergebiet. Dadurch entstanden dort ebenfalls neue Verwaltungsbehörden, die neben den bereits bestehenden lokalen Institutionen die Belange der deutschen Kolonien regelten. Deren Unterlagen befinden sich heute in mehreren regionalen Archiven der Ukraine. Das größte regionale Archiv der Ukraine – das Gebietsarchiv Odessa (Deržavnyj archiv Odes’koji oblasti) – besitzt umfangreiche Materialen zu den deutschen Kolonien im Schwarzmeergebiet, Organisation ihrer Verwaltung und der wirtschaftlichen Tätigkeit der Kolonisten. Zu den ergiebigsten Beständen, in denen Zeugnisse des deutschen Lebens in der Region überliefert sind, zählen die Verwaltung des Generalgouverneurs von Neurussland und Bessarabien (Upravlenie Novorossijskogo i Bessarabskogo general-gubernatora, f. 1), das Fürsorgekomitee für ausländische Ansiedler in Südrussland (Popečitel’nyj komitet ob inostrannych poselencach Južnogo kraja Rossii, f. 6) und das Hauptstatistikkomitee von Neurussland (Glavnyj statističeskij komitet  Novorossijskogo kraja, f. 3).

In den Beständen des Odessaer Kontors für ausländische Ansiedler Südrusslands (Odesskaja kontora inostrannych poselencev Juga Rossii, f. 252) sowie der Bezirks- und Dorfverwaltungen sind unter anderem Erlasse und Verordnungen der höher stehenden Instanzen, Berichte über den wirtschaftlichen, finanziellen und sozialen Zustand der Siedlungen, den Fortgang der landwirtschaftlichen Arbeiten, Bauernverträge, Gerichts- und kirchliche Angelegenheiten sowie zahlreiche Materialien genealogischen Charakters zu finden.

Außerdem werden im Archiv sechs Bestände der kirchlichen Einrichtungen verwahrt, darunter der Evangelisch-lutheranischen Diözese der St.-Paulus Kirche in Odessa (Evangeličesko-Luteranskij prichod cerkvi Sv. Pavla, g. Odessa, f. 630) und der für die Forschung besonders interessante, vollständig erhaltene Bestand der Molotschaner Mennonitengemeinde des Bezirks Berdjansk, Gouvernement Taurien (Mennonitskaja Moločanskaja obščina Berdjanskogo uezda Tavričeskoj gubernii, f. 89).

Staatliche Gebietsarchive in Dnipro, Zaporižžja und Cherson sind weitere bedeutende Archivstätten für die Erforschung deutscher Siedlungen in der Ukraine. Im staatlichen Gebietsarchiv in Dnipro (Deržavnyj archiv dnipropetrovs’koji oblasti) befinden sich die Bestände des Ekaterinoslaver Kontors für ausländische Ansiedler in Südrussland (Ekaterinoslavskaja kontora inostrannych poselencev Juga Rossii, f. 134), der Kanzlei des Ekaterinoslaver Gouverneurs (Kanceljarija Ekaterinoslavskogo gubernatora, f. 11) und die Sammlung der Kirchenbücher des Ekaterinoslaver Gouvernements (Kollekcija metričeskich knig cerkvej Ekaterinoslavskoj gubernii, f. 193). Im staatlichen Gebietsarchiv Zaporižžja (Deržavnyj archiv zaporiz’koji oblasti) sind die Bestände der Kreisvermessungskommissionen und der Kreislandvermesser sowie der Bestand des städtischen Rathauses von Alexandrovsk (Aleksandrovskaja gorodskaja ratuša, f. 1) von besonderem Interesse, während das staatliche Gebietsarchiv in Cherson (Deržavnyj archiv Chersons’koji oblasti) Bestände beherbergt wie den Zeichensaal beim Justizministerium des Gouvernements Cherson (Chersonskaja gubernskaja čertježnja Ministerstva justicii, f. 14), die Stadtduma und -verwaltung von Aleksandrovsk (Aleksandrovskaja gorodskaja duma i uprava, f. 24) sowie Bestände der Bezirks- und Dorfverwaltungen des Gouvernements Ekaterinoslav und die Sammlung der Karten und Zeichnungen des Ekaterinoslaver Gouvernements (f. 302).

Für die Geschichte der Wolhynien-Deutschen ist das staatliche Gebietsarchiv Žytomyr (Deržavnyj archiv Žytomyrs’koji oblasti) einschlägig, das in großem Umfang Materialien zur deutschen Kolonisation Wolhyniens vom 19. bis zur ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verwahrt. Diese befinden sich in verschiedenen Beständen des Archivs wie dem Wolhynischen Reichsdomänenhof (Volynskaja palata gosudarstvennych imuščestv, f. 58), der Wolhynischen Gouvernementsverwaltung (Volynskoe gubernskoe pravlenie, f. 67), der Kanzlei des Wolhynischen Gouverneurs (Kanceljarija Volynskogo gubernatora, f. 70), der Stadtverwaltung von Žytomyr (Žytomyrskaja gorodskaja uprava, f. 62) oder des Wolhynischen Kameralhofs (Volynskaja kazjennaja palata, f. 118). Diese Quellen zeugen sowohl von den ersten deutschen Siedlern in Wolhynien, welche hauptsächlich deutsche Mennoniten waren, als auch von der Besiedlung der einzelnen Bezirke des Gouvernements, dem wirtschaftlichen Leben und dem Alltag der wolhynischen Kolonisten. Dokumente, die der Sequestrierung des deutschen Besitzes während des Ersten Weltkrieges gewidmet sind, befinden sich im Bestand der Verwaltung der sequestrierten Grundstücke deutscher Kolonisten (Upravljajuščie 1-39 otdelenijami sekvestrovannych zemel’ nemcev-kolonistov pri Cholmsko-Volynskom upravlenii zemledelija i gosudarstvennogo imuščestva, f. 109).

Mit dem Zentralen Staatsarchiv der höchsten Macht- und Verwaltungsorgane der Ukraine (Central’nyj deržavnyj archiv vyščych organiv vlady ta upravlinnja Ukrajiny – CDAVOU) in Kiev entstand 1920 das größte Archiv zur Geschichte der deutschen Bevölkerung der Ukraine in der frühen sowjetischen Zeit. Aufgrund der Spezifik des Archivs, das Bestände der Exekutive und der wirtschaftlichen Verwaltung umfasst (Der Oberste Rat der Ukraine (f. 1), Ministerkabinett der Ukraine (f. 2), Volkskommissariat des Inneren der Ukraine (NKVD, f. 5), Ministerium für Landwirtschaft der Ukraine (f. 27) und andere), bieten seine Dokumente vor allem eine staatliche Perspektive auf die deutschen Siedlungen in der Ukraine in den 1920er – Anfang der 1930er Jahre.

Im Archiv befinden sich außerdem Dokumente der deutschen Besatzung in der Ukraine (Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg für die besetzten Ostgebiete, f. 3676) und Reichskommissariat Ukraine in Rovno (f. 3206), die entsprechende Überlieferung im Bundesarchiv Berlin ergänzen.

Ende des 19. Jahrhunderts begannen die Deutschen aus wirtschaftlichen, konfessionellen und anderen Gründen auch im Osten des Landes zu siedeln. Im Orenburger Land, Sibirien, Nordosten Kasachstans und Mittelasien entstanden neue Tochterkolonien, was die Archivlandschaft zusätzlich erweitert. Materialien zur Gründung der deutschen Kolonien in diesen Regionen verwahren die Gebietsarchive in Orenburg, Novosibirsk, Omsk, Tomsk, die Staatsarchive des Altaer Gebiets (Barnaul) sowie die zentralen Archive Kasachstans, Kyrgyzstans und Usbekistans.

Alle oben genannten regionalen Archive Russlands und seiner Nachbarländer verfügen zugleich über Dokumente aus der sowjetischen Zeit, die sich hauptsächlich in den Beständen ehemaliger Parteiarchive befinden: der Revolutionskomitees, der Gouvernements-, Gebiets- und Rayonkomitees der Kommunistischen Partei, der Gebiets- und Kreisexekutivkomitees der Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräte sowie verschiedener Kommissionen.

Auf der Grundlage der ehemaligen Parteiarchive sind zudem neue Archive entstanden, die für die sowjetische Periode der russlanddeutschen Geschichte relevant sind: das Staatsarchiv der neuesten Geschichte des Gebiets Saratov (Gosudarstvennyj archiv novejsej istorii Saratovskoj oblasti – GANISO), das Staatsarchiv der sozialpolitischen Geschichte des Gebiets Samara (Samarskij oblastnoj gosudarstvennyj archiv social’no-politisceskoj istorii – SOGASPI), das Dokumentationszentrum der neuesten Geschichte des Gebiets Vladimir (Centr dokumentacii novejsej istorii Vladimirskoj oblasti – CDNIVO). Ähnliche Gründungen gab es in der Ural-Region und Sibirien. Diese Archive bieten allesamt Einblick in die Umsetzung der sowjetischen Nationalitätenpolitik gegenüber der deutschen Bevölkerung auf der Ebene der lokalen Behörden.

Die Hintergründe der Formulierung der sowjetischen Nationalitätenpolitik und ihrer Spezifika gegenüber den Deutschen, die relevanten Entscheidungen und sie begleitenden Materialien sind dagegen in den zentralen staatlichen Archiven Russlands zu suchen. Vor allem zwei föderale Archive, die auf der Basis der ehemaligen Parteiarchive entstanden sind, sind für diese Fragen von entscheidender Bedeutung.

Das Russische Staatsarchiv der sozialpolitischen Geschichte (Rossijskij gosudarstvennyj archiv social’no-političeskoj istorii – RGASPI) und das Russische Staatsarchiv der neuesten Geschichte (Rossijskij gosudarstvennyj archiv novejšej istorii – RGANI) in Moskau beherbergen Dokumente des leitenden Organs der Kommunistischen Partei – des Zentralkomitees der KPdSU, das Entscheidungen über alle wichtigen Fragen der Innen- und Außenpolitik der Sowjetunion traf. Im RGASPI, das hauptsächlich Dokumente bis 1953 verwahrt, ist es vor allem der sehr umfangreiche Bestand des ZK der KPdSU (Central’nyj komitet KPSS, f. 17), der Beschlüsse des ZK VKP(b) und die dazu gehörigen Materialien enthält, die auch das Leben der deutschen Bevölkerung betrafen (Sitzungsprotokolle des Politbüros des ZK der KPdSU (f. 17, op. 3, 162, 163, 166, 1919–1952), Sitzungsprotokolle des Orgbüros des ZK und des Sekretariats des ZK der KPdSU (f. 17, op. 112-119)), Beschlüsse der Parteiorganisationen des Gebiets und der ASSR der Wolgadeutschen (f. 17, op. 6, 12-42) sowie zahlreiche Materialien verschiedener Abteilungen des ZK der KPdSU. Zudem enthält der Bestand des Staatlichen Verteidigungskomitees (Gosudarstvennyj komitet oborony, f. 644, op. 1, 2) die Beschlüsse zur Deportation der deutschen Bevölkerung nach 1941.

Das RGANI, in dem Dokumente und Unterlagen des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei und seines Apparats ab ca. 1952 bis 1991 verwahrt werden, stellt mit seinen Beständen des Politbüros des ZK der KPdSU (Politbjuro CK KPSS, f. 3), des Sekretariats des ZK (Sekretariat CK KPSS, f. 4) und des Apparats des ZK (Apparat CK KPSS, f. 5) eine weitere Möglichkeit dar, die Geschichte der Sowjetdeutschen in der poststalinistischen Sowjetunion bis hin zur Perestrojka zu erforschen. Dokumente des Politbüros des ZK der KPdSU (f. 3) sind allerdings nur sehr eingeschränkt zugänglich, dagegen können die Unterlagen und Arbeitsmaterialien des ausgedehnten ZK-Apparats (f. 5) größtenteils eingesehen werden, wobei sich Materialien je nach Gegenstand über dessen zahlreiche Abteilungen und Kommissionen verteilen.

Das größte föderale Archiv Russlands – das Staatsarchiv der Russischen Föderation (Gosudarstvennyj archiv Rossijskoj Federacii – GARF) in Moskau – beherbergt bedeutende Dokumente zur Geschichte der Russlanddeutschen sowohl aus der vorrevolutionären als auch der sowjetischen Zeit. Zahlreich sind im Archiv Dokumente zur Lage und wirtschaftlichen Entwicklung der ASSR der Wolgadeutschen vorhanden, die in den Beständen der zentralen Institutionen der Sowjetunion ihren Niederschlag fanden: der Zentralen Kontrollkommission der VKP(b) (Central’naja kontrol’naja komissija VKP(b), f. R-374), des Allrussischen Zentralen Exekutivkomitees (VCIK, R-1235) und des Zentralen Exekutivkomitees der UdSSR (CIK, R-3316). Im Bestand des Ministerrats der UdSSR (Sovet ministrov, f. R5446) sind Materialien zur Kollektivierung, Industrialisierung und kulturpolitischen Fragen in der ASSR der Wolgadeutschen enthalten. Ähnliches Material befindet sich auch in den Beständen der staatlichen Organe der RSFSR. Für die Vorkriegszeit sind zudem Dokumente der Zentralen Kommission für geistliche Angelegenheiten (Postojannaja central’naja komissija po voprosam kul’tov pri Prezidiume CIK SSSR, 1929–1938, f. R-5263) und des Gewerkschaftsrats (VCSPS, f. 5451) von Interesse.

Das Ausmaß der Verfolgungen, denen Sowjetdeutsche ausgesetzt waren (Deportation, Arbeitsarmee, Sondersiedlung), wird in den Dokumenten der sowjetischen Strafverfolgungsorgane deutlich, die im GARF aufbewahrt werden, vor allem in den Beständen des Gulag (Hauptverwaltung für Haftanstalten des Innenministeriums der UdSSR – Glavnoe upravlenie mest zaključenija (GUMZ) MVD SSSR, R-9414), der vierten Sonderabteilung des Innenministeriums der UdSSR (4-j special’nyj otdel MVD SSSR („otdel specposelenij“), f. 9479) und des Sekretariats des Innenministeriums der UdSSR (hier besonders der so genannten „Sondermappe Berijas“, f. 9401, op. 2). Licht auf die soziale Lage der Sowjetdeutschen in der Nachkriegszeit wirft der Bestand des Rates für religiöse Angelegenheiten beim Ministerrat der UdSSR (Sovet po delam religij pri Sovete Ministrov SSSR, f. R-6991).

Dokumente, die ab Ende der Perestrojka und in den darauf folgenden Jahren im Zusammenhang mit der Wiederherstellung der deutschen Autonomie, der Rehabilitation der Russlanddeutschen und der Arbeit der deutsch-russischen Regierungskommission zur Unterstützung der Russlanddeutschen entstanden sind, wurden dem GARF von den obersten Organen der Russischen Föderation übergeben und befinden sich in deren Beständen, darunter des Kongresses der Volksdeputierten der Russischen Föderation, des Obersten Sowjets der Russischen Föderation und deren Organe (Sjezd narodnych deputatov RF, Verchovnyj Sovet RF i ich organy, 1989–1993, f. 10026), der Föderalen Organe der nationalen und regionalen Politik Russlands (Federal’nye organy nacional’noj i regional’noj politiki Rossii, 1989–1998, f. 10121), des Ministeriums für die Angelegenheiten der Föderation, Nationalitäten und Migrationspolitik der Russischen Föderation (Ministerstvo po delam federacii, nacional’nostej i migracionnoj politiki RF, 1998–2001, f. 10156) sowie der Regierung der Russischen Föderation (Pravitel’stvo Rossijskoj Federacii, f. 10200).

Dokumente zur russlanddeutschen Geschichte sind in fast allen, selbst in vermeintlich für die Thematik nicht einschlägigen Archiven Russlands und seiner Nachbarländern überliefert. Dies betrifft gleichermaßen große föderale und zentrale Archive als auch kleinere regionale Archive. Im Russischen staatlichen Wirtschaftsarchiv (Rossijskij gosudarstvennyj archiv ėkonomiki – RGAĖ) beispielsweise finden sich zahlreiche Akten zur wirtschaftlichen Entwicklung der ASSR der Wolgadeutschen. Sie tangieren Bereiche wie Landwirtschaft (Bestand Volkskommissariat für Landwirtschaft der RSFSR – Norodnyj komissariat zemledelija RSFSR, f. 478, Landwirtschaftsministerium der UdSSR – Ministerstvo sel’skogo chozjajstva SSSR, f. 7486), Industrie (Die obersten Räte für Volkswirtschaft der RSFSR und der UdSSR – Vysšie sovety narodnogo chozjajstva RSFSR i SSSR, f. 3429 ), Handel (Zentralverband der  Konsumgenossenschaften – Centrosojuz SSSR, f. 484, Handelsministerium der UdSSR – Ministerstvo torgovli SSSR, f. 7971), Finanzen (Finanzministerium der UdSSR – Ministerstvo finansov SSSR, f. 7733, Staatliches Plankomitee der UdSSR – Gosplan SSSR, f. 4372, Zentrales Statistikamt – Central’noe statističeskoe upravlenie pri Sovete ministrov SSSR, f. 1562).

In ähnlicher Weise wird man auch im Russischen Staatsarchiv für Literatur und Kunst (Rossijskij gosudarstvennyj archiv literatury i iskusstva – RGALI) fündig, das Bestände der staatlichen Organe zur Verwaltung der Kultur wie das Komitee für Kunstangelegenheiten beim Ministerrat der RSFSR und der UdSSR (Komitet po delam iskusstv pri Sovete Ministrov RSFSR (f. 2075) und SSSR (f. 962) beherbergt. Die in diesen Beständen enthaltenen Materialien zum kulturellen Leben der ASSR der Wolgadeutschen bieten die Möglichkeit, Forschungen auf Basis anderer Quellen gut zu ergänzen. Zugleich befinden sich im RGALI Nachlässe von sowjetischen Künstlern deutscher Herkunft (z.B. Vsevolod Meyerhold, Sergej Eistenstein) und der Bestand des Schriftstellerverbands der UdSSR (f. 631) mit seiner Abteilung „ausländische Kommission“ (inostrannaja komissija), in der es eine deutsche Sektion gab.

Darüber hinaus besitzen die städtischen Archive wie das Zentrale Staatsarchiv der Stadt Moskau (Central’nyj gosudarstvennyj archiv g. Moskvy – CGAM) und das Zentrale Historische Staatsarchiv St. Petersburg – Central’nyj gosudarstvennyj istoričeskij archiv Sankt Peterburga – CGIA StP) einzigartige Materialien zur Geschichte der deutschstämmigen Stadtbevölkerung.

In den Regionen, aus denen die Deportation der Deutschen erfolgte oder auf deren Territorium Arbeitslager und Industriebetriebe errichtet wurden, befinden sich Archive, deren Bestände – zum Teil erst seit einiger Zeit zugänglich – die wichtigsten Quellen zu stalinistischen Verfolgungen der deutschen Bevölkerung, der Arbeitsarmee und der Sondersiedlung bilden. Beispiele hierfür sind das Vereinigte staatliche Gebietsarchiv Čeljabinsk (Obedinjennyj gosudarstvennyj archiv Čeljabinskoj oblasti – OGAČO), das den Bestand des größten Zwangsarbeitslagers der Region, des Hüttenwerks „Trest  Čeljabmetallurgstroj“ (R1619) birgt, in dem mehrheitlich Deutsche eingesetzt waren, außerdem Untersuchungsakten der verfolgten Bürger des Südurals aus dem Archiv des ehemaligen NKVD-KGB (f. R467) und andere Bestände der Lagerverwaltungen und Parteiorganisationen der Betriebe.

Analoge Materialien beinhalten das Dokumentationszentrum der gesellschaftlichen Organisationen des Gebiets Sverdlovsk (Zentrum dokumentacii obščestvennych organizacij Sverdlovskoj oblasti – CDOOSO) mit seinen Beständen der Politabteilungen der Baulager Tagilstroj (f. 1896), Bogoslovstroj (f. 1115) und anderer Besserungsarbeitslager sowie das Staatsarchiv der Verwaltungsorgane des Gebiets Sverdlovsk (Gosudarstvennyj archiv administrativnych organov Sverdlovskoj oblasti – GAAOSO).

In Kasachstan lebte seit Ende des 19. Jahrhunderts eine deutsche Minderheit. Zudem fand sich infolge der Deportationen im 20. Jahrhundert etwa die Hälfte der deutschen Bevölkerung der UdSSR in  Kasachstan wieder. Auch aus diesem Grund sind die Archive der Republik Kasachstan für die Geschichte der Russlanddeutschen von besonderer Bedeutung. Im Archiv des Präsidenten der Republik Kasachstan in Almaty, das auf der Basis des ehemaligen Parteiarchivs gebildet wurde, sind vor allem die Bestände der Kommunistischen Partei Kasachstans (seit 1925) die Hauptquellen zur Geschichte der deutschen Diaspora in Kasachstan (f. 141, f. 708 (ZK KPK), f. 8, f. 22, f. 2384). Im Präsidentenarchiv wird zudem der Bestand der deutschsprachigen Zeitung „Freundschaft“ (f. 885) und der Nachlass des Schriftstellers Gerold Belger (f. 152-NL) verwahrt. Weitere Materialien befinden sich im Zentralen Staatsarchiv der Republik Kasachstan sowie in den Gebietsarchiven Almaty und Karaganda.

Auch in den Archiven Usbekistans, Kyrgyzstans und Aserbaidschans befinden sich Materialien, die das Leben der deutschen Bevölkerung in diesen Regionen dokumentieren. Diese betreffen sowohl die ersten deutschen Kolonisten wie die in diese Regionen deportierten Sowjetdeutschen.

Schließlich ist für die Erforschung russlanddeutscher Geschichte auch die Überlieferung in den Archiven der Bundesrepublik Deutschland von Bedeutung, da sie Hintergründe, Umstände, Motive und den staatlichen Organisationsprozess der deutschen Auswanderung nach Russland beleuchtet. Diese befindet sich vorwiegend im Hessischen Landesarchiv mit seinen Standorten Darmstadt, Marburg und Wiesbaden sowie im Hauptstaatsarchiv Stuttgart (Landesarchiv Baden-Württemberg) – Regionen, aus denen die meisten Auswanderer nach Russland stammten.

Im Bundesarchiv Berlin sind darüber hinaus Dokumente aus der Zeit der deutschen Besatzung der Sowjetunion relevant (Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete (R 6), Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg (B 323), Deutsches Ausland-Institut (R 57)), aber auch die Überlieferung der heutigen BRD im Kontext der Aufnahme von Flüchtlingen und Spätaussiedlern (Bundesministerium des Innern (B 106), Bundeskanzleramt (B 136), Bundesministerium für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte (B 150)).

Der Zugang zu den einzelnen postsowjetischen Archiven und Archivbeständen ist unterschiedlich und zum Teil von politischen Konjunkturen abhängig. In einigen Ländern wie dem Usbekistan bestehen spezielle Einschränkungen für ausländische Forscher. Nach wie vor sind zudem – mit Ausnahme der Ukraine – nicht alle Dokumente der ehemaligen Parteiarchive zugänglich.

Literatur

Ajsfel’d, Al’fred: Archivy. In: Nemcy Rossii. Ėnciklopedija. Bd. 1. Moskva 1999, S. 80-82 (mit weiterführender Literatur); Donig, Natalia / Wünsch, Thomas (Hg.): Geschichte und Kultur der  Russlanddeutschen. Ein Repertorium der Bestände in postsowjetischen und deutschen Archiven (in Vorbereitung).

Autoren: Donig Natalia, (Passau)

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