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Berdjansker Kolonistenbezirk , Gouvernement Taurien

Rubrik: Geschichte und Geographie der Ansiedlung der Deutschen im Russischen Reich, in der UdSSR und GUS / Geschichte der Ansiedlung

Einwanderung: In den Jahren 1816 und besonders 1817 zogen württembergische Chiliasten nach Transkaukasien  (Zakavkaz´e). Im Sommer 1819 trafen weitere drei Gruppen von Chiliasten in Warschau ein, die ebenfalls nach Georgien wandern wollten. Der Zar erlaubte diesen drei Gruppen aber nicht den Weiterzug nach Transkaukasien, sondern teilte ihnen Land nördlich von Berdjansk zu, wo 99 Familien 1822 die drei Kolonien Neuhoffnung, Neuhoffnungstal und Rosenfeld gründeten. Nachzügler erhielten 1830 das bisherige Reserveland des B.k.o., wo sie die Neustuttgart errichteten.

 

Wirtschaft

 

Wie in anderen Kolonistenbezirken spielte die Schafzucht in den ersten beiden Jahrzehnten bei den ASchwabenkolonien@ bei Berdjansk eine wichtige Rolle. In ihrer Bezirksschäferei sollten sie feinwollige Schafe züchten und auf die einzelnen Wirte verteilen, doch schon Mitte des 19. Jahrhunderts erzielten sie nur noch 4,3% ihrer Gesamteinnahmen aus dem Verkauf von Schafwolle. 1866 besaßen sie über 1.000 Pferde, aber nur noch insgesamt 4.000 Schafe. In den 1850er Jahren hatten sie ihren Feldbau durch die Übernahme der geregelten Vierfelderwirtschaft mit Schwarzbrache modernisiert. In ihren Gemeinden gab es wenig Handwerk und Industrie, da sie ihre Schuhe und Kleider meist von jüdischen Handwerkern anfertigen ließen, ihre Stoffe in der Stadt und ihre landwirtschaftlichen Geräte bei Mennoniten kauften und ihre Gebäude von Russen oder Ukrainern errichten ließen.

 

Kirchliches und schulisches Leben

 

Bei der Auswanderung hatten sich die Chiliasten Regeln gegeben. Da sie sich noch in Württemberg von der lutherischen Kirche getrennt hatten, wurden sie auch ASeparatisten@ genannt. In den Regeln der "Reichenberger Gemeinde", die die Kolonie Neuhoffnung gründete, hieß es: Die Krise wie vor der Zeit Noahs sei wirklich eingetroffen. Die Auswanderer glaubten, Adaß Rußland und besonders Georgien der Sammelplatz ist, wo Gott ... eine Gemeinde sammeln werde, die er zu seinem neuen Königreich brauchen will." Auf der Reise sollte jeder für den anderen haften und vorläufig 10% seines Vermögens, später eventuell mehr, in die gemeinsame Kasse abführen. Witwen und Waisen sollten unterstützt, "Fressen und Weinsaufen" vermieden werden. Niemand dürfe etwas "ohne Vorwissen des Gemeindevorstehers unternehmen". Falls man sich in einer Frage nicht einigen könne, solle das Los geworfen werden. Die Gründung der Gemeinde habe einen "rein religiösen" Zweck. Ihre Mitglieder sollten sich "als Muster‑treue Untertanen auszeichnen" und "dem Vorbild der apostolischen Gemeinde ähnlich werden". Die Gemeinde beanspruchte das Recht, ihre Lehrer, Prediger und Schuldiener ebenso wie ihre weltlichen Vorsteher selbst zu wählen. Bei der Kleidung, den Möbeln und beim Essen seien "alle Üppigkeit, Eitelkeit und Mißbrauch zu vermeiden". "Aller unnötiger Privatumgang einzelner Personen beiderlei Geschlechts, woraus Gefahr und Schaden entstehen könnte, soll weislich vermieden und unter keinen Umständen gestattet werden, damit nicht nur die Gelegenheit zur Versündigung abgeschnitten, sondern auch verhütet wird, daß Versprechen zur Ehe, was sich von selbst versteht, nie ohne Einwilligung der Eltern und Pfleger, auch ohne Wissen der Gemeindevorsteher vorgehen mögen." Eltern sollten ihre Kinder nicht "reichlich oder zärtlich" erziehen, sondern zur Arbeit anhalten und an die Mühseligkeiten des menschlichen Lebens gewöhnen.

 

 

Ein Teil der Separatisten hatte noch 1827 die Hoffnung, bald nach Georgien weiterziehen zu dürfen, was ihre wirtschaftliche Tätigkeit hemmte. Sie hielten an der altwürttembergischen Agende ohne Liturgie und am alten Gesangbuch fest und wählten ihre geistlichen "Lehrer" frei. Da ihr Prediger Johann Seiler nicht mehr jung war, gaben die Separatisten ihm 1828 einen neu angekommenen Bäcker namens Conrad Heckel, der einige Zeit am Basler Missionsinstitut studiert hatte, als Gehilfen. Seiler blieb geistlicher Lehrer in Neuhoffnung, Heckel übernahm die Gemeinden Rosenfeld, Neuhoffnungstal und das 1830 hinzugekommene Neustuttgart.  Heckel fühlte sich dem einfachen Seiler überlegen und predigte frei, was von einem Teil der Gläubigen abgelehnt wurde, da sie nur das Vorlesen von Texten aus Predigtbüchern kannten. Die Opposition gegen Heckel wurde von Bauern angeführt, die erst 1830 aus Württemberg nachgekommen waren, und wählten für jede von Heckels Gemeinden einen eigenen "Lehrer", denen sich 33 Familien anschlossen, während 46 Heckel treu blieben. Jede der drei Gemeinden erhielt nun auch zwei Schulen. 1837 vermittelte der Revisor Peter Koeppen auf Bitten des Oberschulzen zwischen beiden Parteien und verpflichtete Heckel, seine Texte wieder abzulesen.

 

 

1840 trat der Neuhoffnunger Schulmeister mit 13 Familien zur lutherischen Kirche über. Unter dem Druck der Gemeinde mußte er seine Wirtschaft verkaufen und die Kolonie verlassen. Der zuständige lutherische Pastor beschwerte sich beim Konsistorium und dem Fürsorgekomitee, daß die Separatisten den Lutheranern das Leben schwer machten. Der Pastor wurde vom Aufseher unterstützt, während Johann Cornies für die Separatisten eintrat. Das Fürsorgekomitee forderte die lutherischen Geistlichen im Mai 1843 auf, keine Proselyten in den separatistischen Kolonien zu machen. Als auch noch der Hexenglaube in den von der lutherischen Kirche bedrängten "Schwabenkolonien" um sich griff, baten die Neuhoffnunger die "Muttergemeinde" Korntal, ihnen einen Prediger zu schicken. Im September 1845 traf Eduard Wüst in Neuhoffnung ein, der in Württemberg als Vikar eine große Anhängerschaft gewonnen hatte, aber mit den kirchlichen Behörden in Konflikt geraten und seines Amtes enthoben worden war. In seiner Antrittspredigt warnte er die Gemeinde, daß er sie aufschrecken werde, "um ins Himmelreich zu führen, bedarf es scharfer Mittel". Die von Wüst  "Erweckten" schlossen sich zu Brüder‑ und Schwesterkreisen zusammen, wo man sang und betete und einander "die inneren Herzenszustände gegenseitig mitteilte und besprach". Schon ein Jahr nach seiner Ankunft organisierte Wüst ein erstes Missionsfest. An den folgenden jährlichen Treffen beteiligten sich immer mehr Molo…naer Mennoniten und Lutheraner des Mariupoler Kolonistenbezirks. Die lutherischen Pastoren wehrten sich gegen Wüsts Einfluß in ihren Gemeinden und gewannen im Gegenzug Anhänger unter den Separatisten, darunter auch deren ehemaligen Prediger Conrad Heckel. 1857 mußte Wüst sich auf Betreiben des Evangelisch‑Lutherischen Generalkonsistoriums verpflichten, nicht mehr außerhalb seiner Gemeinde zu predigen und keine geistlichen Handlungen an Lutheranern zu vollziehen. Einige seiner Anhänger auf dem Preußenplan kritisierten seine Unterwerfung unter diesen Befehl des Fürsorgekomitees und warfen Wüst vor, daß er sich selbst untreu werde, auch unwürdige Personen zum Abendmahl zulasse und daß unter seinen Gesinnungsgenossen "totes Kirchenwesen" überhandnehme. Aus Freude über die Erweckung und zur Belebung des religiösen Gefühls begannen sie, sich an den Händen zu fassen, im Reigen zu singen und zu jauchzen, was ihnen die Spottnamen der "Munteren" und "Hüpfer" eintrug. Wüst selbst näherte sich immer mehr den "Jerusalemsfreunden" Christoph Hoffmanns, des Sohnes des Korntal‑Gründers Wilhelm Hoffmann, und erwog, selbst nach Jerusalem zu ziehen. Nach Wüsts Tod wählten die Separatisten Neuhoffnungs im Jahre 1858 mit dem württembergischen Vikar Friedrich Schock einen ausgesprochenen "Jerusalemsfreund".Die lutherische Kirche versuchte weiter, ihren Einfluß auch auf die Separatistengemeinden auszudehnen. 1865 gab der Innenminister die Genehmigung zur Gründung eines lutherischen Kirchspiels Neustuttgart‑Berdjansk. Acht Jahre darauf wurde der ursprünglich von Wüst beeinflußte Missionar Wilhelm Heine, Sohn eines Prischiber Kolonisten, zum lutherischen Prediger in Neustuttgart ernannt, der die Separatisten von Neuhoffnungstal und Rosenfeld für den Anschluß an die lutherische Kirche gewann. 1895 wurden auch die Separatisten der Kolonie Neuhoffnung dem Evangelisch-Lutherischen Konsistorium unterstellt, behielten aber de facto Autonomie.

 

In den lutherischen Kolonien waren Kirche und Schule eng miteinander verbunden, zumal der Lehrer als Küster den Pastor vertrat. Die Kolonien des B.k.o. wählten eine andere Lösung: Auf die Bitte der "Schwabenkolonien" bei Berdjansk, der ehemaligen Separatistengemeinden, ihre geplante Zentralschule finanziell zu unterstützen, reagiert das Berdjansker Kreis-Zemstvo mit dem Angebot, die Errichtung von Zemstvo-Schulen durch je 325 R. zu fördern. 1869 wurden eine solche Schule mit zwei deutschen und einem russischem Lehrer in Neuhoffnung und in den folgenden Jahren auch in den übrigen drei Kolonien des Bezirks mit je einem deutschen und russischen Lehrer eröffnet.

 

Soziale Differenzierung und Tochterkolonien

 

Die Separatisten des Kreises Berdjansk pachteten Land bei benachbarten Nogajern, doch versiegte die Quelle, als die Nogajer nach dem Krimkrieg nach Anatolien auswanderten und auf ihrem Land die "slawischen Umsiedler" aus dem verloreren Südbessarabien untergebracht wurden. Die Schwabenkolonien hatten schon 1833 damit begonnen, die Teilung der Wirtschaften zuzulassen, meist in zwei, in Neustuttgart sogar in vier Teile. Dennoch doch gab es 1866 in den vier Kolonien insgesamt schon 140 landlose Familien. Auf diese Familien verteilte der Bezirk noch im selben Jahr das Land der ehemaligen Gebietsschäferei, die nicht mehr gebraucht wurde, da die Schafzucht in der Wirtschaft der Kolonisten kaum noch eine Rolle spielte. 1890 gab es in den vier Kolonien 73 Vollwirte [polnye chozjaeva], 92 Halbwirte und 53 Kleinwirte mit 12-20 Desjatinen Land. Ein Teil der Kolonisten war in Tochterkolonien in Neurußland, besonders aber im Gebiet der Donkosaken gezogen (Don).

 

 

Da die Kolonisten des Kreises Berdjansk das Reserveland vollständig unter die damaligen Landlosen verteilt hatten, stand der volost' Neuhoffnung kein Pachtartikel für die Finanzierung von Landkäufen zur Verfügung. Dennoch erwarben die Mutterkolonien Neuhoffnung und Neuhoffnungstal 1869 am Kalmius bei Mariupol' ein Grundstück, auf dem sie zwei Kolonien anlegten, nämlich Ostheim und Korntal. Auf benachbarten Grundstücken wurden die Kolonien Hoffental (1880) und Gnadenfeld (1884) gegründet. In den Jahren 1864 bis 1872 wanderten aus den Mutterkolonien diejenigen Siedler aus, die sich inzwischen den "Jerusalemsfreunden" angeschlossen hatten, und gründeten vier Kolonien auf der Krim, von denen sie zwei emigrierenden Mennoniten abgekauft hatten, und zwar Schönbrunn (Adargin, 1864 gepachtet, 1867 gekauft), Kirk, Schönfeld (Koltomak, 1872) und Annenfeld („uga, 1872). Religiöse Differenzen innerhalb der Mutterkolonien spielten keine Rolle bei der Gründung der übrigen zehn Krimer Tochterkolonien dieser volost', nämlich von Wasserreich (Kerleut oder Novyj Kerleut, 1880), Hebronn (Bekassi, 1880, ehem. menn.), Westheim (Kiljar Kip…ak oder Kular‑Kip…ak, 1880), Hoffnungsfeld (Terchanlar oder Tarchanlar, 1883 gepachtet, nach einigen Jahren gekauft), Kopan (oder Kopanj 1888), Duidobe (oder Toi‑Tobe 1893). 1897 kamen Adschi‑Achmat, Abakly, Munij (ehem. menn.) und Ak‑Scheich hinzu. Ein weiteres Zentrum der ehemaligen Separatisten bildete sich im Kreis Mariupol', wo sie 1876 die ehemals mennonitischen Kolonien Schöntal und Heubuden kauften. In einigen Fällen gründete eine Siedlergenossenschaft eine Tochterkolonie, in deren unmittelbarer Nähe ein kapitalkräftiger Kolonist ein Gut erwarb.Rosenfelder Kolonisten kauften östlich von Mariupol' ein Stück Land und legten dort Alexanderfeld an (1868, 700 D.), in dessen Nähe der Rosenfelder Kolonist Erlenbusch mit einigen anderen Familien ein Grundstück von 700 D. und später in der Nähe von Ostheim ein weiteres Grundstück erwarb, so daß er im ganzen 1.000 D. besaß. 25 Werst nordöstlich von Mariupol' lag die 1884 gegründete Kolonie Masserovka. 1874 kauften die Familien Wecker und Klöpfer in der Nähe von Ostheim 800 D. und gründeten die Siedlung Steintal. Andere Separatisten ließen sich im Kreis Perekop nieder, so in Tok Bulek Najman (1881) und Ekaterinovka (1887). Im Kreis Bachmut gründeten Berdjansker Kolonisten die Kolonien Baranovka (1893). Hier siedelte sich auch die Neuhoffnungstaler Familie Vetter auf 3.000 D. an. Die ehemals separatistische Kolonie Hoffnungstal im Gouvernement Cherson erwarb ein nahegelegenes Gut, wo sie die Tochterkolonie Hoffnungsfeld gründete..

 

Literatur

Brandes D.: Von den Zaren adoptiert. Die deutschen Kolonisten und die Balkansiedler in Neurußland und Bessarabien 1751-1914. München 1993; Buchmann A.: Kurze Geschichte der Evangelisch-Separierten Gemeinden in Süd-Rußland. Neu-Halbstadt 1906; Petri H.: Schwäbische Chiliasten in Süd-Rußland. In: Kirche im Osten 5 (1962), S. 75-97.

Autoren: Brandes Detlef

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