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LIEDERTAFEL , Chorgesellschaft

Rubrik: Kultur, Wissenschaft, Bildung, Medizin

LIEDERTAFEL, 1861 in Moskau gegründeter deutscher Männerchor. Initiatoren und Organisatoren waren der Pianist und Professor des Moskauer Konservatoriums Anton Door sowie die Moskauer Unternehmer Je.K. Knieriem, W. Luther und W. Bachman.

Die erste Liedertafel wurde 1809 in Berlin auf Initiative und unter der Leitung des Komponisten, Dirigenten und Pädagogen Carl Friedrich Zelter gegründet. Später entstanden Liedertafeln auch in anderen Städten Deutschlands, der Schweiz und Österreichs sowie später in Russland (1833 in Riga, 1840 in Petersburg). Anfang 1861 kam das aus insgesamt vierzehn Personen bestehende Organisationskomitee der Moskauer Liedertafel zusammen. Mitte Mai wurde ein Rat gewählt, dem Knieriem (Vorsitzender), Door (Dirigent), Luther (Kassierer) und Bachman (Ökonom) angehörten. An der Spitze der Liedertafel stand der Präsident (Knieriem). Die aus 3-4 Mitgliedern bestehende Prüfungskommission und das aus 4-5 Mitgliedern bestehende Musikkomitee wurden jeweils im Herbst zu Beginn der Saison auf den Vollversammlungen gewählt. Zum gleichen Zeitpunkt fand auch die Aufnahme neuer Mitglieder statt. Der Satzung lag die Satzung der Rigaer Liedertafel zugrunde. Der Tag der ersten Probe (10. Oktober 1861) galt später als offizielles Gründungsdatum der Liedertafel.

Der Liedertafel gehörten aktive Mitglieder, die die wöchentlichen Proben besuchten und an den Konzerten teilnahmen, sowie passive Mitglieder an, deren Zahl doppelt so hoch war. Unter Letzteren waren unter anderem auch der Gründer der Moskauer Blindenschule Heinrich von Dieckhoff, der Direktor des Gymnasiums und der Realschule der evangelisch-lutherischen Petri- und Paul-Kirche G. Pack, der Architekt Otto von Dessien, der Fotograf und Besitzer eines der größten Fotoateliers Karl Fischer, der Apotheker Karl Ferrein und dessen Sohn Woldemar (Vorstand der größten Pharmafirma in Russland), der Musikverleger K. Gutkeil und der General-Superintendent des Moskauer evangelischen Konsistoriums P. Evert. Unter den Ehrenmitgliedern der Liedertafel waren der Stellvertretende Innenminister Wladimir Dschinkowski, der Moskauer Generalgouverneur Alexander Adrianow, der österreichische Dirigent und Komponist Eduard Kremser, der deutsche Komponist Max Bruch, der Präsident der Rigaer Liedertafel M. Reibnitz, der Präsident der Petersburger Liedertafel E. Schmidt, der Chefdirigent des Bolschoi Theaters und Professor des Moskauer Konservatoriums Antonin Barcal und der Präsident der Russischen Chorgesellschaft A. Tschischow.

1862 hatte die Liedertafel 107, 1868 - 221, 1896 - 333 und 1913 - 494 Mitglieder. Die Mitglieder der Liedertafel waren größtenteils ethnische Deutsche, auch wenn dies keineswegs Voraussetzung für eine Mitgliedschaft war, und in vielen Fällen russische Staatsangehörige. 1913 waren unter den zu diesem Zeitpunkt 409 Mitgliedern der Liedertafel 248 russische, 127 deutsche, 18 Schweizer, elf österreichische und drei schwedische Staatsangehörige sowie jeweils ein Franzose und ein Engländer. Mit Blick auf die soziale Stellung stellten Besitzer von Handels- und Industrieunternehmen unter den Mitgliedern die größte Gruppe. So waren im Jahr 1913 338 Unternehmer, 35 Bank-, Versicherungs- und Börsenangestellte und 48 Angehörige der wissenschaftlichen und technischen Intelligenz (Ingenieure, Chemiker, Techniker, Architekten) unter den Mitgliedern der Liedertafel. Die übrigen 53 Mitglieder waren unter anderem Ärzte, Anwälte, Pastoren und Lehrer.

Die Proben der aktiven Mitglieder der Liedertafel fanden seit 1873 allwöchentlich im Restaurant „Slawjanski Basar“ statt. Ebendort wurden für die aktiven und passiven Mitglieder auch dreimal im Jahr Familienabende (zu denen auch die Damen eingeladen wurden) und zweimal im Jahr Herrenabende (auf denen sich ausschließlich die Männer versammelten) organisiert. Das Programm der Familienabende bestand aus einem Konzert mit Beteiligung der Ehefrauen und Töchter der Mitglieder der Liedertafel, auf das eine (oft selbst geschriebene) musikalische Humoreske und schließlich das Festmahl und Tänze folgten. Besonders feierlich waren die weihnachtlichen Familienabende, die in der Regel am 27. Dezember stattfanden. Das Programm der Herrenabende war ähnlich aufgebaut, nur dass es angesichts der Abwesenheit der Damen keine Tänze gab.

Zweimal pro Saison veranstaltete die Liedertafel Konzerte, die gewöhnlich im kleinen Saal der Edlen Versammlung und in den Jahren 1912/13 und 1913/14 im Großen Saal des Moskauer Konservatoriums stattfanden. Das Programm der Konzerte umfasste Werke für Männerchöre, Frauengesangsdarbietungen und Werke für Klavier und Kammerorchester, die sowohl von Mitgliedern der Liedertafel als auch von professionellen Musikern dargeboten wurden. Im Rahmen der Konzerte der Liedertafel traten auch Alexander Goedicke, Alexander Goldenweiser und Konstantin Igumnow auf. Zum Teil waren die Konzerte thematisch ausgerichtet und dem Werk eines einzelnen Komponisten gewidmet. So fanden z.B. am 2. Februar 1897, am 7. Februar 1906 und am 26. Oktober 1913 Konzerte zu Ehren von Schubert, Mozart bzw. Wagner statt.

Die Liedertafel veranstaltete alljährlich Wohltätigkeitskonzerte oder beteiligte sich zusammen mit anderen Musikvereinen und Chören an solchen Veranstaltungen. Während des Russisch-Japanischen Kriegs (1904/05) gab die Liedertafel zusammen mit dem Moskauer deutschen Männergesangsverein zwei Wohltätigkeitskonzerte zugunsten der Verwundeten im Großen Saal des Moskauer Konservatoriums (9. März 1904 und 17. März 1905).

Die Liedertafel hatte ein vielfältiges Repertoire, das in der Saison 1902/03 z.B. 63 Werke von 46 Komponisten umfasste. Den Hauptteil bildeten Lieder deutscher und österreichischer Komponisten der Romantik des 19. Jahrhunderts – Franz Abt, Carl Maria von Weber, Moritz Hauptmann, A. Kretschmer, Friedrich Silcher, Heinrich Marschner, Franz Schubert, Felix Mendelssohn-Bartholdy, Josef Rheinberger, Robert Schumann. Häufig wurden auch selbst komponierte Werke der Mitglieder der Liedertafel dargeboten, die nicht nur von professionellen Musikern (I. Barz, G.F. Brüschweiler, G. Müller, M. Peters, N. Emanuel), sondern auch von Laienmusikern wie z.B. dem Moskauer Arzt A.A. Borchman oder dem Buchhalter T. Eckers geschrieben wurden, dessen Kantate „Salve Regina“ am 9. Juni 1896 für die Mitglieder der Zarenfamilie zum Vortrag gebracht wurde.

Die Liedertafel unterhielt Kontakte zu zahlreichen deutschen Musikvereinen in Russland, Deutschland und anderen Ländern (Austausch von Konzertberichten und -programmen, Teilnahme an Gesangsfesten in Riga usw.).

Ende 1914 stellte die Liedertafel infolge des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs ihre Tätigkeit ein. In den 1920er Jahren kamen ihre wenigen in Moskau verbliebenen Mitglieder manchmal in der ein oder anderen Privatwohnung zusammen, gewöhnlich bei A.G. Löwental, der der Liedertafel zu diesem Zeitpunkt praktisch vorstand. Nach einer achtjährigen Pause kam das erste Treffen der früheren Mitglieder der Liedertafel im Sommer 1922 zustande. Im Verlauf einiger Jahre organisierten sie in der Tradition der Liedertafel kleinere Konzerte und führten selbstgeschriebene musikalische Stücke auf. Anfang der 1930er Jahre wurden diese Zusammenkünfte eingestellt.

Die Entstehung der Liedertafel in Moskau lag in der Natur der Dinge und war durch das hohe Niveau der Musikkultur unter den in Moskau ansässigen Deutschen bedingt, was wiederum eine Folge der traditionellen häuslichen Erziehung und des Kirchengesangs war. Der Hauptgrund der Gründung der Liedertafel war aber das gewachsene nationale Bewusstsein der Moskauer Deutschen, das ihr Bestreben stärkte, die Kultur der Heimat ihrer Vorfahren zu pflegen und untereinander mehr Kontakt zu haben. Das überwiegend deutsche Repertoire der Liedertafel war allerdings ein integraler Bestandteil der Moskauer Kultur, da es dem Musikgeschmack der gebildeten russischen Gesellschaft entsprach. Die Liedertafel spielte eine erhebliche Rolle für die Bewahrung der nationalen Kultur unter den Moskauer Deutschen und hinterließ eine sichtbare Spur in der Geschichte des russischen Musiklebens.

Präsidenten: I.K. Knieriem (1861-66), W. Birkenfeld (1866-80), D. Löwental (1883-93), A. de Lafontaine (1895-1914).

Dirigenten: A. Door (1861-64), I. Schramek (1864-66 und 1872), W. Malm (1866-71, 1878-88), I. Barz (1873-77), E. Merten (1877-78), N. Emanuel (1888-93), R. Bullerian (1893-95), M. Peters (1896-99), G. F. Brüschweiler (1900-05), G. Kremser (1905-08), G. Müller (1908-14).

Literatur

Jahresberichte der Moskauer Liedertafel. 1895/96–1913/ 14, М., 1896–1914; Томан И.Б., Московский «Лидертафель», в кн.: Немцы Москвы: исторический вклад в культуру столицы, М., 1997, с. 316–336.

Autoren: Toman I. (Moskau)

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