Ergänzungen zu Kutschurganer Kolonistenbezirk
1) 1852 verkauften die Kutschurganer Werkstätten 135 Pflüge bzw. Bukker sowie 330 Pferdewagen für zusammen 13.665 Silberrubel. In diesem Bezirk blieb der Wagenbau bis zum Ersten Weltkrieg das wichtigste Gewerbe. 140 Selzer, 52 Kandeler, 14 Badener und sechs Straßburger Wagner bauten die Gefährte, die von Schmieden beschlagen und von "Anstreichern" bemalt wurden. Reiche Schmiede und Wagner vergaben die Holz- und Schmiedearbeiten an ärmere Handwerker, "so daß einzelne zur Hauptwagenzeit Dutzende oder gar bis hundert fertige Wagen zum Verkauf dastehen haben".
2) 1909 bekam der Bezirk ein gemeinsames Armenhaus mit 50 Betten. Seit den 1830er Jahren stieg die Zahl der Landlosen (1841: 83, 1858: 167). Wer nicht als Knecht bei den Wirten arbeiten wollte (1841: 441 , 1858: 433), mußte ein Handwerk lernen oder das Heimatdorf verlassen. Ein Teil der Landlosen beteiligte sich an der Gründung von Tochterkolonien, entweder auf eigene Kosten oder mit Hilfe des Bezirks. Dieser besaß ein 500 Desjatinen großes Grundstück bei Elsaß, das usrprünglich für die Bezirksschäferei bestimmt gewesen war. Die Einnahmen aus der Verpachtung dieses Grundstücks verwendete der Bezirk, um um Land für die Landlosen des Bezirks zu kaufen. Kutschurganer gründeten die Tochterkolonien Georgental (1857) und Johannestal (1864). Kolonisten aus dem Kutschurganer Gebiet kauften 1862 dem Gutsbesitzer Rodokanaki 3.731 D. für 52,50 R. pro Desjatine ab und gründete die Kolonie Blumenfeld. Einzelne Wirte dieser Kolonie erwarben bis 1912 weitere 2.392 D. hinzu. Die neuen Dörfer Eremeevka, Prilova, Karpovka und Festerovka, die der Elsässer Pfarrei zugeordnet wurden, dürften ebenfalls von katholischen Kutschurganer errichtet worden sein. Verschiedene Wirte d. Kolonie Elsaß erwarben im Laufe der Zeit 15.000 D., u.a. 1912 2.000 D. vom dem Gutsbesitzer Jakumin für 216 R. pro Desjatine. Andere Landlose wanderten auf der Suche nach Land in die USA aus. Nach der Aufhebung der Privilegien der Kolonisten im Jahre 1871 wurden die Kolonien der allgemeinen Verwaltung unterstellt. Der Kutschurganer Kolonistenbezirk wurde in die volosti Selz (mit Kandel), Straßburg, Baden, Mannheim (mit Elsaß, Georgental, Johannestal und Vygoda) aufgeteilt. 1924-1939 faßte der Zel´skij nemeckij nacional´nyj rajon, auch Friedrich Engels-Rayon genannt, die ehemaligen Kolonien des Kutschurganer Bezirks wieder zusammen.
3) 1811 konnten zwischen 69% und 89% der Kolonisten nicht einmal ihren Namen schreiben und mußten mit drei Kreuzen unterzeichnen. In den nächsten Jahren entstanden zwar Kirchenschulen , doch blieb die Qualität der Lehrer und des Unterrichts hinter dem Niveau des Unterrichts in den lutherischen Kolonien zurück, da die meist polnischen Priester die deutschen Schulen wenig unterstützten. Ein Kongreß der südrussischen Kolonisten beschloß im Jahre 1866 die Gründung weiterer Zentralschulen, darunter auch einer im Kutschurganer Kolonistenbezirk, doch die katholischen Bauern zeigten wenig Interesse, den Beschluß in die Tat umzusetzen. Zunächst gelang es Selz, diese Bürde an Baden abzugeben, das die Schule schließlich nach Straßburg abschob. Ihr Niveau war 1885 viel niedriger als das der benachbarten Großliebentaler Zentralschule. Unterhalten wurde sie von den Zinsen des Geldes, das beim Verkauf des kommunalen Schäfereilandes eingenommen worden war. Als die Zinsen in den 1890er Jahren herabgesetzt wurden, übergab die Gemeinde im Jahre 1897 das Schäfereikapital und die Schule dem Ministerium für Volksbildung. Im Odessaer Gebiet hatte außer Straßburg nur noch das ebenfalls katholische Elsaß eine solche "zweiklassige ministerielle" Schule. Da es nunmehr in keinem katholischen Dorf mehr eine Zentralschule gab, fehlten den Katholiken Lehrer, Küster und Organisten.
Katholische Bauern sprachen dem Alkohol mehr zu als protestantische. Während sich letztere sonntags mit der Heiligen Schrift beschäftigten und erholten, feierten die Katholiken am Sonntag "toll, in Kneipen oder in den Häusern, mit Wodka und Wein; Raufereien kommen unter ihnen so häufig vor und werden so erbittert ausgetragen, daß sie in dieser Hinsicht selbst die russischen Bauern übertreffen". Ein Kenner der katholischen Kolonien des Kutschurganer Bezirks berichtete: "Der Schnaps verfolgt den Kolonisten wie sein eigener Schatten. Bei Krankheiten gabs Schnaps, Kindstaufen gingen nicht ab ohne Schnaps, sogar die Wöchnerin mußte sehr viel davon trinken. Waren Gäste da: Schnaps, gleich morgens nüchtern einen Schnaps, überall, wo man sich etwas Gutes antun oder gegen andere zuvorkommend sein wollte, gabs Schnaps."
Hochzeiten konnten eine Woche dauern, jedenfalls aber so lange, bis alles aufgegessen und ausgetrunken war. Allein in Selz luden seit den 1860er Jahren neben drei Schnapsbuden 20 Weinkeller zum Trinken ein. Erst seit etwa 1890 gelang es den Geistlichen und "einsichtsvollen" Männern, dieses Treiben einzudämmen.
Brendel J., Aus den deutschen Kolonien im Kutschurganer Gebiet. Stuttgart 1930; Keller C., Die deutschen Kolonien des ehemaligen Kutschurganer Gebiets. In: Deutscher Volkskalender auf das Jahr 1909, 128‑142. Brandes D., Von den Zaren adoptiert. München 1993.