KOMMISSARIAT FÜR DEUTSCHE ANGELEGENHEITEN IM WOLGAGEBIET (Wolgakommissariat), Ende April 1918 in Saratow gegründete regionale Stelle des Volkskommissariats für Nationalitätenfragen der UdSSR, die die in der „Deklaration der Rechte der Völker Russlands“ (2. November 1917) verkündete Nationalitätenpolitik des bolschewistischen Regimes umsetzen und die Autonomiebestrebungen der Wolgadeutschen (siehe: Warenburger Kongress) befriedigen sollte.
Gründung und Aufgaben des Kommissariats. Im April 1918 kamen eine nach Moskau entsandte Delegation der Wolgadeutschen (G.K. Klinger, A.G. Emich, I. Kellner, M. Kisner, I. Gross) und Vertreter des Volkskommissariats für Nationalitätenfragen (einschließlich des Volkskommissars Stalin persönlich) „prinzipiell“ überein, die „Selbstverwaltung der deutschen werktätigen Massen auf sowjetischer Grundlage“ zu organisieren. Bei ihrer Rückkehr nach Saratow brachte die von den „kommunistischen Internationalisten“ E. Reuter und K. Petin (deutsche bzw. österreichische Kriegsgefangene) begleitete Delegation am 26. April 1918 die Vollmacht aus Moskau mit, das Kommissariat für deutsche Angelegenheiten im Wolgagebiet aufzubauen, das wenige Tage später gegründet wurde und bereits am 30. April seine Arbeit aufnahm. Die umgehend in Kenntnis gesetzten Sowjets der Gouvernements Saratow und Samara wurden aufgefordert, „in allen die Wolgadeutschen betreffenden Angelegenheiten mit dem Kommissariat“ zusammenzuarbeiten und dieses bei der Umsetzung der folgenden Aufgaben zu unterstützen: 1) das ideologische Zentrum der sozialistischen Bewegung unter den Wolgadeutschen zu sein; 2) den Wolgadeutschen zu helfen, die Selbstverwaltung auf sozialistischer Grundlage zu organisieren und 3) einen Sowjetkongress der Arbeiter und Armbauern der deutschen Kolonien vorzubereiten. Dem Wolgakommissariat gehörten ursprünglich E. Reuter als Vorsitzender sowie Petin, Klinger, Emich und A.F. Moor an. Im weiteren Verlauf wurde das Wolgakommissariat deutlich vergrößert und hatte die folgenden Hauptabteilungen: Verwaltung, Kultur und Bildung, Wirtschaft, Justiz, Finanzen, Agitation und Verlagswesen. Von Beginn an stützte sich das Wolgakommissariat auf den Bund der deutschen Sozialisten des Wolgagebiets und insbesondere auf dessen Saratower Komitee, in das Reuter und Petin kooptiert wurden.
Vorbereitung des I. Sowjetkongresses der deutschen Kolonien des Wolgagebiets. Ungeachtet aller Schwierigkeiten der Aufbauphase kamen auf Initiative des Wolgakommissariats bereits am 7.-8. Mai Vertreter der deutschen Kolonien zusammen und beschlossen, im Juni 1918 in Saratow einen Sowjetkongress der deutschen Arbeiter- und Bauerndeputierten einzuberufen, der die Kompetenzen der Autonomie „auf sozialistischer Grundlage“ festlegen sollte, bis zu diesem Zeitpunkt in den Kolonien und Städten des Wolgagebiets Arbeiter- und Bauernsowjets wählen zu lassen und eine aus fünfzehn Personen bestehende Kommission zu wählen, die einen konkreten Plan für die geplante Autonomie und lokale Selbstverwaltung ausarbeiten sollte. Darüber hinaus wurde beschlossen, die Autonomie „Föderation der deutschen Kolonien des Wolgagebiets“ zu nennen. Diese sollte in allen Fragen lokalen Charakters selbständig entscheiden dürfen und sich zugleich „von den Beschlüssen der zentralen Arbeiter- und Bauernmacht“ leiten lassen und alle Fragen allgemeiner Art z.B. im Bereich der Wirtschaft unter Berücksichtigung der gesamtrussischen Interessen in Abstimmung mit den die Föderation umgebenden russischen Sowjets entscheiden.
Am 10. Mai verkündete das Wolgakommissariat in einem an alle werktätigen Deutschen gerichteten Aufruf die Gründung des Kommissariats und dessen Ziele und rief die Arbeiter und Bauern auf, in allen Kolonien lokale Sowjets und Delegierte für den Ersten Sowjetkongress der deutschen Kolonien zu wählen. In einer zeitgleich veröffentlichten Instruktion wurde das für die Sowjetwahlen vorgesehene Wahlverfahren erklärt.
Als die Vertreter des Wolgakommissariats und die von diesen hinzugezogenen Mitglieder der Saratower Organisation des Bundes der deutschen Sozialisten die deutschen Kolonien aufsuchten, um die geplanten Wahlen vorzubereiten, mussten sie feststellen, dass die Ideen des Bolschewismus in den deutschen Kolonisten kaum Rückhalt fanden und die Kolonisten allen politischen Stürmen der Jahre 1917/18 zum Trotz mehrheitlich an ihrer traditionellen Lebensweise festhielten. So hieß es z.B. in einem der Berichte, die das Kommissariat nach Moskau sandte: „Die Bevölkerung kann kein Russisch. Russisch sprechen hier nur die Angehörigen der Bourgeoisie und die Lehrer und Lehrerinnen. Für die Bauern ist das die Sprache der Aristokratie. Russische Literatur, unsere Zeitungen, Broschüren und Flugblätter sind für sie völlig unverständlich. Ihnen wurde nicht nur unter dem alten Regime, sondern auch nach der Revolution nur sehr wenig Aufmerksamkeit zuteil, unsere Genossen in Saratow und Samara waren nicht in der Lage, unter ihnen Agitation und Propaganda zu betreiben... sowjetische Einrichtungen gab es nur an einigen [wenigen] Orten.“ Nichtsdestotrotz konnte das Kommissariat gestützt auf die populäre Idee der Autonomie recht schnell das Vertrauen der deutschen Bevölkerung gewinnen, zumal es sich auch der von den örtlichen Gouvernements- und Bezirksorganen und diversen Militäreinheiten ausgehenden Willkür entgegenstellte, der die deutschen Bauern zuvor schutzlos ausgesetzt waren. So war es der Initiative des Kommissariats für deutsche Angelegenheiten zu danken, dass der Vorsitzende des Rats der Volkskommissare W.I. Lenin die Sowjets der Gouvernements Samara und Saratow und die diesen unterstellten Bezirkssowjets per Telegramm anwies, Kontributionen, Konfiskationen und Requirierungen von Getreide unter den deutschen Kolonisten des Wolgagebiets ausschließlich mit Zustimmung des Kommissariats für deutsche Angelegenheiten im Wolgagebiet durchzuführen: „Vom Standpunkt der gesamtstaatlichen Interessen kann jegliches eigenmächtige Vorgehen der örtlichen Sowjets gegenüber den deutschen Kolonisten höchst betrübliche Konsequenzen nach sich ziehen. Deshalb haben wir für den Kampf gegen die kulakischen und konterrevolutionären Elemente der deutschen Kolonien das sowjetische Kommissariat für Angelegenheiten der deutschen Kolonisten des Wolgagebiets einberufen, das von den bewährten Genossen Kommunisten Petin und Reuter geführt wird, die jener Strömung der reichsdeutschen Sozialdemokratie angehören, an deren Spitze Karl Liebknecht steht. Deshalb weisen wir den Saratower Gouvernementssowjet und alle in den Gouvernements Saratow und Samara bestehenden Sowjets der Amtsbezirke an, eng mit dem Deutschen Kommissariat zusammenzuarbeiten. Im Falle von Meinungsverschiedenheiten ist zwingend der Rat der Volkskommissare zu fragen“. Während es die Kolonisten einerseits vor Willkür schützte, sorgte das Kommissariat für deutsche Angelegenheiten im Wolgagebiet andererseits auch dafür, dass die Sowjetmacht in den Kolonien Fuß fassen konnte, richtete lokale Sowjets ein, setzte die das Bodendekret und die die Trennung von Kirche und Staat bzw. von Schule und Kirche betreffenden Beschlussfassungen der Sowjetregierung um, stellte Kampfeinheiten der Roten Garde für den „Kampf gegen die Konterrevolution“ auf und stellte sich der auf Grundlage des Friedensvertrags von Brest-Litowsk einsetzenden Emigration der in der Wolgaregion ansässigen deutschen Bevölkerung nach Deutschland entgegen.
Vom ersten Augenblick an wurde das Wolgakommissariat für deutsche Angelegenheiten von den Sowjetorganen der Gouvernements und Bezirke, auf deren Territorium es tätig war, kritisch und zuweilen mit unverhohlenem Misstrauen betrachtet, was nicht zuletzt durch das zu jener Zeit weit verbreitete, auf Revolutionsromantik beruhende bolschewistische Verständnis von Internationalismus bedingt war. In Erwartung der sozialistischen Weltrevolution und des Triumphs der weltweiten Völkerfreundschaft erschien eine nationale Autonomie vielen als sinnlos oder gar verdächtig, da die Trennung der Werktätigen nach nationalen Kriterien nur der Bourgeoisie nutzen konnte. Ansichten dieser Art waren zu jener Zeit unter den Mitgliedern der RKP(b) weit verbreitet und wurden auch von vielen Deutschen geteilt. Hinzu kam ein ausgeprägter lokaler Egoismus zahlreicher Sowjets, die nicht gewillt waren, die Macht in dem ihnen unterstellten Territorium mit wem auch immer zu teilen. Das Misstrauen ging so weit, dass Mitglieder des Kommissariats unter Beobachtung gestellt oder sogar wie G. Klinger wegen des Verdachts auf konterrevolutionäre Tätigkeit von der Saratower Abteilung der Tscheka verhaftet wurden (Klingers Freilassung erfolgte erst nach einigen Tagen nach mehrfacher Aufforderung durch das Kommissariat auf persönliche Weisung des Vorsitzenden des Saratower Sowjets W. Antonow-Saratowskij). Ein Grund dafür, dass solche Vorkommnisse überhaupt möglich waren, bestand darin, dass das Wolgakommissariat über einen längeren Zeitraum ohne offizielle juristische Grundlage agierte und das Mandat Reuters und Petins offenkundig nicht ausreichend war. Erst auf nachdrückliche Bitten und nach Entsendung einer Delegation nach Moskau erhielt das Kommissariat schließlich am 29. Mai ein eigenes Statut, das dessen Kompetenzen in Abgrenzung zu den Gouvernements- und Bezirkssowjets eindeutig regelte und am 5. Juni in den „Iswestija WZIK“ veröffentlicht wurde. Das von den Volkskommissaren für Nationalitätenfragen (Stalin) und Innere Angelegenheiten (G.I. Petrowskij) gezeichnete Dokument erklärte das Wolgakommissariat zum „ideologischen Zentrum der unter der deutschen werktätigen Bevölkerung zu leistenden sozialistischen Arbeit“, das die Umsetzung der Dekrete und Anordnungen der Sowjetmacht überwachen sollte. Eine der Hauptaufgaben des Kommissariats sollte darin bestehen, den „Zusammenschluss der werktätigen Massen der deutschen Kolonien in Bezirkssowjets“ unter Berücksichtigung von Sprache, Sitten und Gebräuchen zu fördern. Wichtig war der letzte Punkt des Statuts, in dem es hieß: „Alle die Interessen der werktätigen Bevölkerung der deutschen Kolonien berührenden Beschlüsse der Gouvernements- und Bezirkssowjets dürfen nur mit Kenntnis und Einverständnis des Kommissariat für deutsche Angelegenheiten im Wolgagebiet umgesetzt werden“. Das Statut stärkte die Stellung des Kommissariats, indem es dessen Tätigkeit auf eine gesetzliche Grundlage stellte, ihm in den Augen der Vertreter der örtlichen Machtorgane Autorität verschaffte und letztere zwang, den vom Kommissariat vorgebrachten Vorschlägen und Forderungen Rechnung zu tragen.
. Sowjetkongress der deutschen Kolonien des Wolgagebiets. Im Mai-Juni 1918 wurden in den Kolonien unter Führung des Wolgakommissariats Sowjets eingerichtet und die Delegierten des I. Sowjetkongresses der deutschen Kolonien des Wolgagebiets gewählt, der am 30. Juni – 1. Juli in Saratow im Gebäude des Volksauditoriums (heute Gebäude der Wissenschaftlichen Gebietsbibliothek) stattfand. Auf der Tagesordnung standen die folgenden Punkte: Organisation der Selbstverwaltung der deutschen Kolonien; Fragen der Volksbildung; Landfrage; Wahlen.
In seinem dem ersten Tagesordnungspunkt gewidmeten Referat begründete der Vorsitzende des Kommissariats Reuter die Notwendigkeit der Einführung einer Selbstverwaltung in den deutschen Kolonien folgendermaßen: „Es kann nicht sein, dass die Arbeiter- und Bauernregierung vor Ort in der abnormen Lage ist, dass ihre Anordnungen und Befehle, dass Diskussionen und Aktenführung in einer Sprache geführt werden müssen, die die Volksmassen nicht verstehen können... Die große Masse der in den deutschen Kolonien lebenden Arbeiterbevölkerung beherrscht nur die deutsche Sprache, und die Tatsache, dass es keine lokale Verwaltung in deutscher Sprache gab, hatte zur Folge, dass die Bevölkerung darin eine geheime Kunst sehen musste, die nur einigen Auserwählten zugänglich ist – Schreibern, Beamten, Gebildeten usw. In den meisten Kolonien sind die gewählten Vertreter der Volksmassen vollständig von Willkür und Wohlwollen jener abhängig, die die russische Sprache in Wort und Schrift beherrschen. Der von der Mehrheit der sogenannten Gebildeten gegen die Regierung der Arbeiter und Bauern geführte intensive Kampf hat zur Folge, dass alle Maßnahmen und Anordnungen sowohl der zentralen als auch der Gouvernements- und Bezirksregierungen dem Volk in einem falschen Licht dargestellt werden. Die bourgeoisen Elemente, die früher darauf gehofft haben, die deutsche Bevölkerung mit Hilfe der Autonomie vom Einfluss der russischen Revolution ablenken zu können, haben sich schon davon überzeugen können, dass die Einführung der deutschen Sprache in der deutschen Verwaltung bei den Volksmassen ein für die Bourgeoisie absolut nicht wünschenswertes Interesse an Politik weckt, das dazu führen kann, dass die Ideen der Oktoberevolution auch in den deutschen Kolonien endgültig Fuß fassen.“ Mit Blick auf den Charakter der Selbstverwaltung der deutschen Kolonien legte Reuter ausführlich die bereits Anfang Mai von den Vertretern der deutschen Kolonien vorgebrachte Idee einer Föderation der kompakt deutsch besiedelten Bezirke dar, die untereinander durch föderative Beziehungen verbunden und zugleich den Gouvernements unterstellt sein sollten, auf deren Territorium sie lagen. Eine solche Form der Selbstverwaltung sollte bei klarer Abgrenzung der Kompetenzen zwischen den Gouvernementsbehörden und den Führungsorganen der Föderation die nationalen Interessen der deutschen Arbeiter, Bauern und Intelligenzler am besten mit den „übernationalen“ Aufgaben aller Werktätigen des Wolgagebiets verbinden. Das Ziel der deutschen Selbstverwaltung sollte darin bestehen, die werktätigen deutschen Massen schnellstmöglich in die „sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft“ einzubeziehen. Die überwältigende Mehrheit der Delegierten des Kongresses unterstützte die Idee einer Föderation, lehnte aber den Vorschlag, ein unmittelbar dem Zentrum unterstelltes autonomes Gebiet zu gründen, mit der Begründung ab, dass man das neue Leben nicht isoliert von den russischen Arbeitern und Bauern, sondern nur im engen Bund mit diesen aufbauen könne und müsse. Im Folgenden fasste der I. Sowjetkongress der deutschen Wolgakolonien auch zu den anderen Tagesordnungspunkten diverse Beschlüsse und konstituierte schließlich das Wolgakommissariat als Arbeitsorgan des Exekutivkomitees des Sowjetkongresses. Dessen personelle Zusammensetzung blieb praktisch unverändert. Vom Sowjetkongress gewählter Vorsitzender des Wolgakommissariats war Reuter; Klinger wurde zum Vertreter des Kommissariats im Volkskommissariat für Nationalitätenfragen gewählt. Der Sowjetkongress der deutschen Kolonien löste das faktisch verbotene und vom bolschewistischen Regime zerschlagene Büro der „Wolgadeutschen“ offiziell auf und ordnete an, dessen Vermögen dem Kommissariat für deutsche Angelegenheiten im Wolgagebiet zu überschreiben.
Sowjetaufbau. Bereits vom 6. Juni 1918 an gab das Wolgakommissariat auf Basis der Zeitung „Vorwärts“ die Zeitung „Nachrichten“ als sein Informationsorgan heraus, deren Auflage bis Oktober auf 2.500 Exemplare stieg. In Saratow wurde dem Kommissariat die requirierte Großdruckerei Schellhorns zur vorübergehenden Nutzung überlassen, in der in Massenauflagen Dokumente der Sowjetregierung und des Wolgakommissariats sowie Broschüren und Flugblätter gedruckt wurden, die in den Kolonien verbreitet werden sollten.
Die Auflösung des Bundes der deutschen Sozialisten des Wolgagebiets und die Gründung rein kommunistischer Parteiorganisationen in den Kolonien beseitigten auch die letzten Reste sozialdemokratischen Andersdenkens und verschärften den Prozess der „Klassenausrichtung“ des sowjetischen Aufbaus in den Kolonien. Wohlhabende Kolonisten wurden aus den Sowjets ausgeschlossen und verloren vielfach gänzlich das Wahlrecht. Auch weiterhin wurden Einheiten der Roten Garde aufgestellt, die die bolschewistische Ordnung schützen sollten, und zugleich die Mobilisierungen in die Rote Armee intensiviert. Ende August fasste der Volkskommissar für Militär- und Flottenangelegenheiten L.D. Trotzki auf Gesuch des Wolgakommissariats den Beschluss, in Katharinenstadt das erste deutsche nationale Regiment der Roten Armee aufzubauen.
Im Juli-August wurden in den Bezirken Katharinenstadt, Rownoje (Seelman) und Golyj Karamysch (Balzer) deutsche Bezirkskommissariate eingerichtet. Zugleich verzögerte sich die Gründung eigenständiger deutscher Gebietskörperschaften infolge der sich zuspitzenden militärischen und politischen Lage.
Vorbereitung der Gründung der deutschen Wolgaautonomie. Vor dem Hintergrund der angespannten Beziehungen zu Deutschland, das dem Prozess der Bolschewisierung und Sowjetisierung der deutschen Wolgakolonien äußerst gereizt gegenüberstand, tendierten die Sowjetregierung und das Wolgakommissariat zunehmend zu dem Gedanken, die gefährlichen „reichsdeutschen Ansprüche“ durch die Gründung einer einheitlichen deutschen autonomen Gebietskörperschaft zu neutralisieren, die allerdings im Gegensatz zu den reichsdeutschen Plänen auf „werktätiger Basis“, d.h. als Macht bolschewistischen Musters aufgebaut werden sollte. G. König, der einige Zeit als Vertreter des Wolgakommissariats im Volkskommissariat für Nationalitätenfragen gearbeitet hatte, stellte den vom Zentrum vertretenen Standpunkt nach seiner Rückkehr aus Moskau folgendermaßen dar: „Die Sowjetregierung beeilt sich... damit die Deutschen die Sache baldmöglichst selbst in die Hand nehmen, um nicht unter das reichsdeutsche Joch zu geraten.“ Immer öfter wurde die Ansicht geäußert, dass die zu gründende deutsche Autonomie unmittelbar dem Zentrum unterstellt und nicht von den Gouvernementsbehörden abhängig sein sollte, um alle die deutschen Kolonien betreffenden Fragen schneller und flexibler entscheiden zu können, die Einmischungsmöglichkeiten Deutschlands einzuschränken und die Bevölkerung der deutschen Kolonien vor dem lokalen Egoismus und der Willkür der Gouvernementsbehörden zu schützen. So wurde die Idee, die deutschen Wolgakolonien in einer Föderation zusammenzufassen, schließlich durch die Idee der Gründung einer territorialen Gebietsautonomie der Wolgadeutschen ersetzt, die dann auch umgesetzt wurde.
Am 23. Juli 1918 fand in Moskau ein erstes den mit der Gründung der deutschen Autonomie an der Wolga verbundenen praktischen Fragen gewidmetes Treffen statt, an dem Vertreter der zentralen Kommissariate für Nationalitätenfragen, für Innere Angelegenheiten und für Äußere Angelegenheiten sowie Petin und Klinger von Seiten des Kommissariats für deutsche Angelegenheiten im Wolgagebiet beteiligt waren. Alle an den Verhandlungen Beteiligten waren sich grundsätzlich einig, dass eine deutsche autonome Gebietskörperschaft gegründet werden müsse, und steckten die noch zu klärenden konkreten Fragen ab. Auf einem zweiten gemeinsamen Treffen wurde am 28. Juli der Entwurf eines die Autonomie der deutschen Wolgakolonien betreffenden Dekrets ausgearbeitet und entschieden, alle die Rückwanderung deutscher Kolonisten betreffenden Fragen unmittelbar dem Kommissariat zu übertragen.
Dass auch der Vorsitzende des Rats der Volkskommissare Lenin der Vorbereitung der Gründung der deutschen Selbstverwaltung große Aufmerksamkeit schenkte, geht aus einem an das Wolgakommissariat in Saratow gerichteten Telegramm Petins vom 31. August hervor, in dem dieser mitteilte, dass der Führer der Sowjetregierung dringend einen Bericht über die von dem Kommissariats geleistete Arbeit und die in den Kolonien bestehende Lage angefordert habe. Dabei interessierten den Vorsitzenden des Rats der Volkskommissare laut Petin konkret die folgenden Fragen: Arbeit des I. Sowjetkongresses der deutschen Kolonien, „Frage der Verbindung des administrativen Umbaus, des Wirtschaftslebens und der Schule, Gericht, Konterrevolution, Presse, Remigration, Lebensmittel, Blick in die Zukunft, Liste der Kolonien mit Einwohnern nach Bezirken“. Durch das auf Lenin verübte Attentat und seine vorübergehende Arbeitsunfähigkeit verzögerte sich die Entscheidung der Frage, zumal das Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten im letzten Moment Einwände gegen die Gründung der Autonomie erhob, obwohl alle Vereinbarungen eigentlich bereits getroffen waren und der Entwurf des die Autonomie betreffenden Dekrets schon ausgearbeitet war. Nichtsdestotrotz erklärte das Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten am 14. Oktober plötzlich, dass die Herausgabe eines Dekrets nicht nur überflüssig, sondern sogar prinzipiell nicht akzeptabel sei, da die Gründung von Bezirken nach nationalen Kriterien „keine marxistische, sondern eine sozial-revolutionäre und Scheidemannsche Maßnahme“ sei, die nur der deutschen Bourgeoisie nütze und nationalen Zwist hervorrufe. Zudem sei an eine Vereinigung der deutschen Kolonien schon aufgrund der territorialen Zersplitterung bzw. der Überlappung deutscher und russischer Ortschaften nicht zu denken. Klinger wiederum belegte in einem eigens vorbereiteten Memorandum auf konkrete Fakten gestützt die Haltlosigkeit der von den Führern des Volkskommissariats für Innere Angelegenheiten eingenommenen Position und wies darauf hin, dass die Ausweisung der Bezirke mit deutscher Bevölkerung faktisch bereits vollzogen sei, diese Bezirke schon völlig selbstständig arbeiteten, über alle in den entsprechenden Dekreten für die Bezirkssowjets vorgesehene Abteilungen verfügten und die Exekutivkomitees der Gouvernements Samara und Saratow zudem keinerlei Einwände gegen die Gründung nationaler Bezirke erhoben hätten.
Auf seiner Sitzung vom 17. Oktober 1918 widmete sich der Rat der Volkskommissare in Anwesenheit des wieder genesenen Lenin der Frage des „Dekrets über die deutschen Kolonisten des Wolgagebiets“. Der Stellvertretende Volkskommissar für Nationalitätenfragen S.S. Pestkowskij berichtete, Klinger legte den Standpunkt des Wolgakommissariats dar. Nach allseitiger Erörterung fasste der Rat der Volkskommissare schließlich den Beschluss, eine aus B.M. Jelzin, D.I. Kurskij und S.S. Pestkowskij bestehende Kommission einzurichten, die bis zum Abend des 19. Oktober auf Grundlage der Beschlussfassung des Rats der Volkskommissare vom 26. Juli 1918 und des Statuts des Wolgakommissariats den Entwurf eines an den II. Sowjetkongress gerichteten Telegramms des Rats der Volkskommissare ausarbeiten sollte. Aus der Beschlussfassung geht deutlich hervor, dass der Rat der Volkskommissare offensichtlich die Absicht hatte, das die deutsche Autonomie an der Wolga betreffende Dekret noch vor der Eröffnung des II. Sowjetkongresses der deutschen Wolgakolonien (20. Oktober) zu verabschieden, damit dessen Delegierte das Dekret erörtern und auf dieses gestützt konkrete Maßnahmen zu seiner Umsetzung ausarbeiten konnten. Am folgenden Tag schickte Klinger ein Telegramm folgenden Inhalts nach Saratow: „Der Rat der Volkskommissare hat gestern nach meinem Bericht eine Kommission gewählt, der auch ich angehöre, um ein Dekret auszuarbeiten, das die von mir dargelegten Hauptpunkte aufnimmt.“
Die von Seiten des Volkskommissariats für Innere Angelegenheiten vorgebrachten Einwände fanden bei den Mitgliedern des Rats der Volkskommissare keine Unterstützung und wurden abgelehnt. Auf seiner Sitzung vom 19. Oktober fasste der Rat der Volkskommissare nach Anhörung des Berichts der am 17. Oktober eingerichteten Kommission (Referent Jelzin) den Beschluss, das von der Kommission eingereichte Dekret zu bestätigen, und beauftragte Radek und Klinger mit dessen praktischer Umsetzung (Übersetzung, Veröffentlichung und Erörterung per Telegraph). Am gleichen Tag unterzeichnete Lenin das Dekret „Über die Gründung des Gebiets der Wolgadeutschen“.
Im Herbst 1918 schloss das Wolgakommissariat die Vorbereitung des II. Sowjetkongresses der deutschen Wolgakolonien ab, der am 20.-24. Oktober in Seelman (Rownoje) stattfand. Auf dem Kongress waren Delegierte von 223 Kolonien und der deutschen Arbeiter Saratows vertreten. Auf der Tagesordnung standen 16 Fragen, die alle Lebensbereiche der Wolgadeutschen berührten: nationale Frage, Lebensmittelfrage, Landfrage sowie Fragen der Wirtschaft, des sowjetischen Aufbaus, der Volksbildung, des Kampfes gegen die Konterrevolution, der Trennung von Kirche und Staat, der Remigration usw. Höhepunkt des Kongresses war der Auftritt Klingers, der am 23. Oktober unmittelbar nach seiner Rückkehr aus der Hauptstadt unter stürmischen Ovationen des Saals das in Moskau verabschiedete Dekret verlas und den Delegierten des Kongresses ausrichtete, dass der Rat der Volkskommissare mit den in den Kolonien vollzogenen Umgestaltungen sehr zufrieden sei und mit einer erfolgreichen Fortführung der Arbeit rechne. Am gleichen Tag fanden die Wahlen zum Exekutivkomitee der Arbeitskommune des Gebiets der Wolgadeutschen statt, in das die Vertreter der kommunistischen Fraktion des Kongresses mit überwältigender Mehrheit gewählt wurden: E. Reuter, A.P. Schneider, Petin, E.I. Schütz, Moor, I.M. Gelrich-Petrowa, A.E. Schütz, Ja.Ja. Kramer, A.V. Metzler, D.G. Ochlenberger, P.I. Tschagin, E.I. Wormsbecher, G.G. Schaufler, A.I. Reichert, Ja. P. Berett, G.G. Buckert, W.A. Müller, A.G. Ebenholz, I.I. Schönfeld, A.I. Dotz, F.F. Lederer, Emich, W.G. Wegner, G.K. Klinger. Kandidaten für das Exekutivkomitee wurden: G.G. Groman, N.A. Grünberg, I.K. Gerlach, I.I. Weber, W.K. Kaskowskij. Als Delegierte für den VI. Außerordentlichen Allrussischen Sowjetkongress wurden Reuter, Tschagin, Schneider, Wegner und Gelrich-Petrowa gewählt.
Nachdem das Wolgakommissariat die ihm zugedachten Aufgaben (Etablierung der Sowjetmacht in den deutschen Wolgakolonien und Errichtung der deutschen Autonomie an der Wolga) erfolgreich umgesetzt hatte, wurde es am 31. Oktober 1918 auf Beschluss des Exekutivkomitees des neugegründeten Gebiets der Wolgadeutschen aufgelöst. Seine Zuständigkeiten gingen auf das Exekutivkomitee des Gebiets der Wolgadeutschen über, das von da an das einzige legitimierte Organ der Sowjetmacht in der Autonomie darstellte.
Герман А.А. Немецкая автономия на Волге. 1918–1941. Саратов, 1992. Ч. 1. Автономная область. 1918–1924; Чеботарева В.Г. Государственная национальная политика в республике немцев Поволжья. 1918–1941 гг. М. 1999; Zwischen Revolution und Autonomie: Dokumente der Wolgadeutschen aus den Jahren 1917 und 1918 / Hrsgb. V. Herdt. Koeln, 2000.