RU

neue
illustrierte elektronische

POKROWSKAJA SLOBODA (Pokrowsk), heute Stadt Engels, Gebiet Saratow

Rubrik: Republik der Wolgadeutschen
Engels. Gebäude der Rayonsverwaltung und der Abgeordnetenversammlung. Foto Je. Moschkow, 2011.
Engels. Gebäude der Kulturverwaltung und des Deutschen Kulturzentrums. Foto Je. Moschkow, 2011.
Engels. Backsteinhaus in der Lenin-Straße (frühere Luther-Gasse). Foto Je. Moschkow, 2010.
Engels. Backsteinhaus in der Kalinin-Straße. Foto Je. Moschkow, 2010.
Pokrowskaja Sloboda. Foto aus dem frühen 20. Jahrhundert.

POKROWSKAJA SLOBODA (Pokrowsk), heute Stadt Engels, Gebiet Saratow. In den Jahren 1617-74 lag auf dem heutigen Stadtgebiet von Engels (in der Nähe des Flusses Saratowka) die damals noch linksufrige Stadt Saratow, die später auf das rechte Wolgaufer verlegt wurde. Zuvor war dort ein kalmückisches Nomadenlager. Die Pokrowskaja Sloboda wurde sieben Werst östlich des heutigen Standorts von Saratow auf dem gegenüberliegenden linken Ufer der Wolga gegründet.

Im Jahr 1851 kam die Pokrowskaja Sloboda als Teil des zuvor zum Gouvernement Saratow gehörenden Bezirks Nowousensk an das neu eingerichtete Gouvernement Samara. 1919 kam die Stadt Pokrowsk zusammen mit dem gleichnamigen Bezirk zurück an das Gouvernement Saratow. In den Jahren 1922-41 war Pokrowsk Hauptstadt der ASSR der Wolgadeutschen. Seit September 1941 gehört die Stadt zum Gebiet Saratow.

Kurze Geschichte der in der Pokrowskaja Sloboda ansässigen ausländischen Siedler. Die Pokrowskaja Sloboda wurde 1747 auf dem Saratow gegenüberliegenden linken Ufer der Wolga gegründet, wo im August 1747 der Grundstein der ersten Salzmagazine gelegt wurde. So war die Gründung dieses an der Wolga gelegenen Stützpunkts unmittelbar auf den Erlass der Zarin Elisabeth zurückzuführen, am Eltonsee Salz zu fördern. Da sich das Salz mit den vor Ort vorhandenen Pferden nur schwer durch die Steppe befördern ließ, wurden kleinrussische Fuhrleute ins Wolgagebiet eingeladen, um das Salz mit Ochsen zu transportieren. Aufgrund des Einladungsmanifests Katharinas II. bzw. der daraus resultierenden Anwerbungsaktivitäten kamen in den Jahren 1763-69 zahlreiche ausländische Kolonisten in die Pokrowskaja Sloboda, die von dort aus auf die insgesamt 104 in der Region gegründeten deutschen Kolonien verteilt wurden. In der Pokrowskaja Sloboda stellten Ukrainer, Russen und Deutsche die Hauptbevölkerungsgruppen. Unter den in Pokrowsk ansässigen Deutschen war auch der Name Kosakenstadt gebräuchlich. Im Jahr 1774 wurde die Pokrowskaja Sloboda wie viele andere in der Region gelegene Ortschaften von den Truppen Jemeljan Pugatschows überfallen, der in den Jahren 1773-75 einen Bauernkrieg gegen die Leibeigenschaft führte. Dabei kam Pugatschow gleich mehrfach in die Siedlung, in die er sein Raubgut brachte und von der aus seine Truppen nach Süden zogen. Insgesamt 700 in der Pokrowskaja Sloboda ansässige Ukrainer und Russen sowie einige deutsche Kolonisten schlossen sich Pugatschow an.

Nachdem das Salzgewerbe in den Jahren 1815-20 angesichts sinkender Fördermengen am Eltonsee in eine Krise geraten war, entwickelte sich die Pokrowskaja Sloboda zu einem Zentrum von Handwerk und Landwirtschaft und wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum wichtigsten Zentrum des Getreidehandels in der Sawolschje-Region. Anfang des 20. Jahrhunderts wies die Pokrowsker Getreidebörse die zweithöchsten Umsatzzahlen für hochwertigen Weizen im Russischen Reich auf. Zu dieser Zeit machte die Sloboda einen gewaltigen Sprung und wurde zum zweitwichtigsten Wirtschaftsstandort im Gouvernement Samara. In der Siedlung waren einige der größten Unternehmen der Region angesiedelt, die sich wie z.B. die 1889 gegründete Leimsiederei, die Landmaschinenfabrik von D.I. Barthel, die Dampfmühle der Brüder Stoll (1909) und eine weitere 1914 gegründete Mühle zum Teil auch in deutschem Besitz befanden. Angesichts dieser Entwicklung war es nur folgerichtig, dass die Pokrowskaja Sloboda im Jahr 1914 Stadtrecht erlangte.

Im Jahr 1922 wurde die mittlerweile in Pokrowsk umbenannte Stadt Verwaltungszentrum der 1918 gegründeten Autonomie der Wolgadeutschen und 1924 Hauptstadt der ASSR der Wolgadeutschen. In sowjetischer Zeit gab es in der Stadt ein Kraftwerk, eine Eisengießerei, eine Ziegelei, eine Traktoren- und eine Landmaschinen-Werkstatt, eine Leimsiederei und eine Konservenfabrik, die Sägemühle des Zentralverbands, ein Fleischkombinat, eine Schinkenfabrik und andere große Unternehmen. Im Mai 1926 richtete ein schweres Hochwasser in der Stadt und den nahegelegenen Ortschaften schwere Schäden an. 1931 reichte die Führung der ASSR der Wolgadeutschen in Moskau das Gesuch ein, Pokrowsk in Rot-Luxemburg, Engels oder Leninstadt umzubenennen, woraufhin die Hauptstadt der ASSR der Wolgadeutschen am 19. Oktober 1931 den Namen Engels erhielt. 1939 gab es in der Stadt das 1929 gegründete Deutsche Staatliche Pädagogische Institut, das Deutsche Staatliche Landwirtschafts-Institut, die Fachoberschule für Vorschulerziehung und Bibliothekswesen, die Fachoberschule für Sowjetischen Handel, eine Musikoberschule, eine Pädagogische Lehranstalt, eine Sanitäts- und Geburtshilfeschule, eine Landwirtschaftsschule und eine Musikschule. 1923 wurden der Deutsche Staatsverlag und das Zentralarchiv der ASSR der Wolgadeutschen, 1931 das Deutsche Staatstheater und 1934 die Deutsche Staatsphilharmonie gegründet. Pokrowsk ist Geburtsort zahlreicher bekannter Russlanddeutscher. So wurden z.B. der Komponist Alfred Schnittke (1934–1998) und der Dichter Wiktor Schnittke (1937–1994) in Pokrowsk geboren, deren jüdischer Vater ursprünglich aus Deutschland kam und deren Mutter Wolgadeutsche war.

Im September 1941 wurden die über 13.000 in Engels ansässigen Deutschen allesamt nach Sibirien und Kasachstan ausgesiedelt. Nach der Deportation der Deutschen wurden 810 „herrenlose“ Häuser an den Staatlichen Wohnungsfond übergeben. Im Februar 1942 prüfte das Exekutivkomitee der Stadt Engels die Frage, wie sich der Wohnungsbestand vor Plünderungen bewahren ließe, da „derartige Fälle keine Einzelfälle waren und sogar systematischen Charakter hatten“.

Schule und Erziehungswesen. Zusammen mit der lutherischen und der katholischen deutschen Gemeinde wurden in der Pokrowskaja Sloboda auch die Kirchenschulen gegründet. Erziehung und Bildung der Kinder hatten für die Kirche einen hohen Stellenwert. Die Kirchenschulen waren in der Regel in einem auch für die Gottesdienste genutzten Schul- und Bethaus und seltener in einem eigenen Gebäude untergebracht. Die Kinder lernten in der Regel das Lesen von Gebeten, Kirchengesang und Schreiben. Die Lehrer waren Küster und Schulmeister, die über eine gewisse Unterrichtserfahrung verfügten. Zu Beginn einer Unterrichtsstunde las der Lehrer das Material vor, das die Kinder laut nachsprechen mussten. Jeder Schüler wurde an die Tafel gerufen, wo er das Gelernte ohne zu stocken aufsagen musste. Alle Unterrichtsfächer waren religiös geprägt, als Lektüre dienten religiöse Schriften. Der Lehrer verzieh den Schülern keine Fehler und durfte sie auch körperlich züchtigen. Ende des 19. Jahrhunderts vermittelten die Schulen zunehmend auch nicht religiöse Inhalte und erweiterten das Programm um Grammatik, Arithmetik und andere Fächer. Von ihrem siebten Lebensjahr an waren die Kinder zur täglichen Arbeit angehalten und mussten ihren Eltern in Handwerk und Gewerbe oder bei der Landarbeit helfen. 1904 wurden in der Pokrowskaja Sloboda für die Schulmeister der deutschen Kirchenschulen bestimmte Kurse durchgeführt, in denen die Lehrer die nötigen methodischen Unterweisungen erhielten, um in den Schulen die russische Sprache einzuführen. Anfang des 20. Jahrhunderts besuchten 130 Kinder die kirchliche Grundschule der evangelisch-lutherischen Gemeinde. Die Kinder der in der Pokrowskaja Sloboda ansässigen deutschen Lutheraner und Katholiken hatten die Möglichkeit, zwischen verschiedenen Lehranstalten zu wählen, unter denen auch russische Schulen waren. In den Jahren der Sowjetmacht wurden die Kirchenschulen geschlossen.

Religionszugehörigkeit der Bevölkerung und Kirche. Die in Pokrowsk ansässigen Deutschen gehörten den drei traditionellen deutschen Konfessionen an, waren also Lutheraner, Reformierte oder Katholiken. In der Stadt gab es zwei offizielle Kirchengemeinden – eine evangelisch-lutherische, der etwa zwei Drittel, und eine katholische, der etwa ein Drittel der in der Pokrowskaja Sloboda ansässigen deutschen Bevölkerung angehörten. Ein kleinerer Teil der deutschen Bevölkerung war zudem zur Orthodoxie übergetreten.

Die in der Pokrowskaja Sloboda bestehende lutherische Gemeinde gehörte zum bereit am 12. Juli 1790 gegründeten evangelisch-lutherischen Pfarrsprengel Saratow, zu dem Anfang des 20. Jahrhunderts neben Saratow und Pokrowsk auch die Gemeinde Wolsk gehörte.

Das erste lutherische Schul- und Bethaus wurde in Pokrowsk im Jahr 1848 gebaut. Dabei handelte es sich um einen Holzbau, der den Status einer Filialkirche hatte. Im Jahr 1866 überließ der Kaufmann Iwan Seifert den lutherischen Kolonisten eines seiner Wohnhäuser, das diese für den Bedarf der Kirchengemeinde nutzten. Mit der Zeit erkannten die Gemeindemitglieder die Notwendigkeit, ein neues Bethaus zu errichten, da das alte nicht mehr allen Gläubigen Platz bieten konnte.

Die Gemeindemitglieder sammelten Spenden und stellten einen entsprechenden Antrag beim Innenministerium, das Planung, Bau und Umbau nicht orthodoxer Kirchen und Bethäuser (letzterer ab 1899) streng überwachte. Hatten Lutheraner und Katholiken unter Nikolai I. (1825-55) noch problemlos Genehmigungen für den Kirchenbau erhalten und sich zuweilen sogar auf entsprechende Initiativen von Seiten der Regierung stützen können, waren der Kirchenbau und sogar umfassende Reparaturarbeiten in bereits bestehenden nicht orthodoxen Gotteshäusern unter allen späteren russischen Zaren stark eingeschränkt und insbesondere zur Zeit des Oberprokurators der Heiligen Synode K.P. Pobedonoszew (1880-1905) praktisch verboten. Einige Pfarrsprengel mussten jahrelang auf die Erteilung einer Baugenehmigung warten. Die in Pokrowsk ansässigen Lutheraner erhielten am 8. Februar 1891 eine entsprechende Genehmigung, woraufhin sie umgehend ein dreistöckige Steinhaus aus dem Besitz von W.A. Lebedinskaja erwarben, das bereits im Sommer 1891 nach Plänen des Architekten Salko umgebaut und anschließend geweiht wurde. Um das Schul- und Bethaus herum standen landwirtschaftliche Hofbauten. Im Hof gab es ein Brunnen. Neben dem Bethaus (Luther-Gasse Nr. 10), das Anfang des 20. Jahrhunderts meist als lutherische Kirche bezeichnet wurde, befanden sich das Küsterhaus und ein Glockenstuhl.

Die katholische Gemeinde der Pokrowskaja Sloboda war eine Filiale der 1803 gegründeten Pfarrgemeinde Saratow. Da die in der Pokrowskaja Sloboda ansässigen Katholiken lange Zeit kein eigenes Gotteshaus hatten, besuchten sie die Gottesdienste in der Saratower Kathedrale. 1897 erwarb die Pokrowsker katholische Gemeinde mit Hilfe des Dechanten des Dekanats Saratow Graf Szembek ein für den Bau einer Steinkirche bestimmtes Grundstück, konnte das Projekt aufgrund fehlender Mittel aber nicht umsetzen. Mit steigender Zahl der Gemeindemitglieder (1913 - 576 Personen) richteten die Pokrowsker Katholiken 1912 in einem in der Kamyschiner Straße (heute Thälmann-Straße) gelegenen Privathaus ein eigenes Bethaus ein, das den Status einer Filialkirche erhielt.

Mit der Etablierung der Sowjetmacht wurden im Land zahlreiche Maßnahmen eingeleitet, die den Einfluss der Kirche auf Staat und Gesellschaft beseitigen sollten. Kirchliche oder als veraltet geltende Straßen- und Ortsnamen wurden durch neue Namen ersetzt, „die Ideen und Gefühle des revolutionären werktätigen Russlands“ widerspiegeln sollten. So wurde die Luther-Gasse zur Lenin-Straße und die Pokrowskskaja Sloboda zur Stadt Engels.

In den 1920er Jahren konnten die in der Stadt ansässigen Lutheraner noch ein vergleichsweise aktives Gemeindeleben führen. Im September 1927 fand in Pokrowsk eine von Pastor A. Kluck geleitete Sitzung der Kommission für Angelegenheiten der Küster und Schulmeister statt, auf der die Rechte und Pflichten der im Wolgagebiet tätigen lutherischen Küster festgelegt wurden. Im Dezember des gleichen Jahres erschien im Pokrowsker „Deutschen Staatsverlag“ mit einer Auflage von 5.000 Exemplaren der „Kalender für die evangelisch-lutherischen Gemeinden in Russland für das Jahr 1927 nach Christi Geburt“, der unter anderem einen Aufsatz über das Predigerseminar, den Text des Kirchenstatuts sowie eine Liste der Pastoren und Kirchenbezirke der Evangelisch-lutherischen Kirche der UdSSR mit Verweis auf die Adressen der Gemeinden enthielt.

Der lutherischen Gemeinde in Pokrowsk gehörten nach Stand zum Februar 1929 706 Gläubige an, was einem Anteil von 11% der gläubigen Bevölkerung der Stadt entsprach. Hinsichtlich ihrer sozialen Zugehörigkeit waren unter den gläubigen Lutheranern 186 Arbeiter, 39 Bauern und 339 Gewerbetreibende. Der Kirchenrat bestand aus elf Personen. Besonders aktive Gemeindemitglieder waren F. Reckling, I.A. Reis, Wagner und A. Quesner. Die Kirche verfügte über einen Besitz im Wert von 8.000 Rubeln.

Anfang der 1930er Jahre wurden den Gläubigen flächendeckend die Kirchen abgenommen und für „gesellschaftliche, kulturelle und Bildungszwecke“ genutzt. So fasste die Kommission für Kultfragen beim Zentralexekutivkomitee der ASSR der Wolgadeutschen am 15. April 1930 den Beschluss, die Kirche zu schließen, woraufhin das Präsidium des Pokrowsker Stadtsowjets auf seiner Sitzung vom 23. April 1930 beschloss, das Gebäude der lutherischen Kirche zu einem Klub für politische Aufklärungsarbeit umzufunktionieren, wofür 567 Rubel bewilligt wurden. In diesem Zusammenhang fand auch der Umstand Erwähnung, dass der Umbau angesichts der Unterbringung der Kirche in einem gewöhnlichen Gebäude keine besonderen Aufwendungen erforderlich mache. Gegen die Entscheidung konnten die Gemeindemitglieder zunächst erfolgreich bei der Ständigen Kommission für Kultfragen in Moskau protestieren, die den die Schließung der Pokrowsker Kirche betreffenden Beschluss des Präsidiums des Zentralexekutivkomitees der ASSR der Wolgadeutschen aufhob. Dem Pokrowsker Stadtsowjet wurde mitgeteilt, dass „die Schließung des evangelisch-lutherischen Bethauses von Seiten des Präsidiums des Allrussischen Zentralexekutivkomitees nicht sanktioniert“ worden sei. So konnten die Gläubigen ihre Kirche wenigstens vorübergehend weiter nutzen. Wenige Jahre später wurde das Pokrowsker Bethaus allerdings doch zunächst zur Zentralbibliothek und später zu einer Musikschule umfunktioniert. Zu Beginn des Deutsch-Sowjetischen Kriegs war in dem Gebäude eine Außenstelle des Evakuierungshospitals Nr. 1113 untergebracht. In den Nachkriegsjahren wurde das Gebäude zerstört. Die frühere Luther-Gasse wurde zu einem Teil der Lenin-Straße.

Die Gemeindemitglieder der katholischen Gemeinde Pokrowsk stellten nach Stand zum Februar 1929 1,4% aller in der Stadt lebenden Gläubigen. Im Juli 1929 forderte die Inspektion der Administrativen Aufsicht des NKWD die Gemeindemitglieder der katholischen Gemeinde auf, eine Liste aller Gläubigen zusammenzustellen, die Angaben zu Adresse, Alter, sozialer Stellung, Standeszugehörigkeit vor der Revolution, Besitzstand und Zeit der Zugehörigkeit zum Kult enthalten sollte. In der Liste waren insgesamt 96 Personen aufgeführt (46 Erwachsene und 50 Kinder im Alter von 12 bis 18 Jahren). Nach Stand zum 25. April 1930 hatte die Gemeinde noch 92 Mitglieder, von denen elf den Status von „Lischenzy“ hatten, ihnen also das Wahlrecht und andere bürgerliche Rechte aberkannt waren. Nach Angaben des NKWD hatte die Gemeinde 1930 weder einen Geistlichen noch einen Schulmeister und die Gemeindemitglieder kümmerten sich selbst um die Aufrechterhaltung des Gemeindelebens. Der Beschluss zur Schließung des katholischen Bethauses wurde am 29. Januar 1930 getroffen (Beschlussfassung des Präsidiums des Zentralexekutivkomitees der ASSR der Wolgadeutschen, Protokoll Nr. 1) und am 1. August 1930 von den örtlichen Behörden bestätigt. Dabei wurde auch in diesem Fall darauf verwiesen, dass angesichts der Unterbringung des Bethauses in einem gewöhnlichen Gebäude keine besonderen Umbaukosten entstünden und das Gebäude aus diesem Grund ohne besondere Schwierigkeiten beschlagnahmt werden könne. Die Gemeindemitglieder, die sich mit dem Verlust ihres Kirchengebäudes nicht abfinden wollten, wandten sich mit einer Beschwerde an die übergeordneten Instanzen, woraufhin die Ständige Kommission für Kultfragen in Moskau den entsprechenden Beschluss des Präsidiums des Zentralexekutivkomitees der ASSR der Wolgadeutschen aufhob. Dem Pokrowsker Stadtsowjet wurde mitgeteilt, dass „die Schließung des katholischen Bethauses von Seiten des Präsidiums des Allrussischen Zentralexekutivkomitees nicht sanktioniert“ worden sei. Nichtsdestotrotz wurde das Bethaus den Gläubigen nicht zur Nutzung überlassen. Bei der Schließung wurde den Gläubigen mitgeteilt, dass dort ein Kindergarten untergebracht werden solle, was aber letztlich auch nicht der Fall sein sollte. In einem Schreiben an die Ständige Kommission für Kultfragen teilte die Militärinspektion des Engelser Stadtsowjets 1937 mit, dass das katholische Bethaus seit 1931 nicht mehr bestehe und das Gebäude als Wohnhaus genutzt werde.

Liste der Pastoren der Pfarrgemeinde Saratow, die in der Gemeinde der Pokrowskaja Sloboda Gottesdienst hielten: Laurentius Ahlbaum (1773-86). Johann Gottfried Herrmann (1803-16). Karl Limmer (1816-20). Ignatius Aurelius Fessler (1819-32). Adam Christian Paulus Kohlreiff (1820-22). Johann Samuel Huber (1823-34). Johann Gross (1835-53). Konstantin Ferdinand Butzke (1855-65). Karl Friedrich Wilhelm Kossman (1866-88). Gustav Schomburg (1883-87). Gustav Adolf Thomson (1888-1912). Liborius Herbord Behning (1901-25). Felix Coulin (1905-06). Woldemar Lankau (1914-18). Erchardt Torinus (1915-18). Arthur Julius Kluck (1916-18). Eduard Seib (1918-25). Christfried Martin Wagner (1926-31). Emil Pfeiffer (1934).

Liste einiger Geistlicher der Pfarrgemeinde Saratow, die in der Gemeinde der Pokrowskaja Sloboda Gottesdienst hielten: A. Fuchs (1790er Jahre). Aloysius von Landes (1803-09). Johannes Meyer (1809-20). Superior Putskowsky (1820er Jahre). Dechant Carl Jazkovsky (1831(?)–1837). Dechant Vicenty Snarsky (1837-55(?)). Antony Baranovsky (nach 1851). Dechant Raphael Fleck (1879-93). Dechant Georg Schembeck (1893-1901). Michael Berlis (1897-98). Franz Loran (1898). Georg Baier (1898–1903). Xaverius Klimaschewski (1899-1913). Emmanuel Stang (1901-03). Peter Dygris (1905). Gottlieb Beratz (1909-11). Joseph Lasowski (1910-12). Avgustin Baumtrog (1911-12). Dechant Wladislaus Potocki (1914-18). Xaverius Klimaschewski (1917-20). Raphael Dietrich (1917-21). Adam Desch (1921-31). Avgustin Baumtrog (1926-30). Geistlicher der Pokrowskaja Sloboda: Andreas Seewald (1910-18).

 

Entwicklung der Bevölkerungszahlen. 1889 lebten in der Pokrowskaja Sloboda 20.462 Personen, von denen 625 Deutsche waren, 1904 waren es 27.500 Einwohner, von denen 4.125 Deutsche waren. Nach Angaben für das Jahr 1910 lebten in der Sloboda 29.600 Personen, von denen 3.316 Deutsche waren. Nach Stand zum Jahr 1913 hatte Pokrowsk 33.867 Einwohner, unter denen 3.892 Deutsche waren. Von diesen wiederum waren 3.094 Lutheraner, 222 Reformierte und 576 Katholiken. 1923 lebten in Pokrowsk 30.025 Personen, von denen 3.256 Deutsche waren, und 1926 34.245 Personen, von denen 4.133 Deutsche waren. 1933 gab es in Pokrowsk 5.219 Sterbefälle, was einem Anteil von 8,9% der Gesamtbevölkerung entsprach. 1933 hatte die Stadt 58.400 Einwohner, von denen 14.590 Deutsche waren. Nach Stand zum Jahr 1935 lebten in Pokrowsk 57.078 und im Jahr 1939 73.240 Personen. 1941 stellten die Deutschen 13.458 der insgesamt 73.200 Einwohner.

Die evangelisch-lutherische Gemeinde Saratow ging als eine der mitgliederstärksten Gemeinden in die Geschichte der Evangelischen Kirche Russlands ein. 1905 lebten im Pfarrsprengel 16.400 Gläubige, von denen 12.500 in Saratow, 3.500 in der Pokrowskaja Sloboda und 400 in Wolsk ansässig waren.

Engels heute. Die heutige Stadt Engels ist das größte Zentrum des Saratower Sawolschje-Gebiets und hatte nach den Daten der Russischen Volkszählung von 2010 202.401 Einwohner. Engels ist heute Verwaltungszentrum der Stadt und des Kommunalverbands Engels, zu dem neben der Stadt selbst auch die Dörfer Plodosowchos und Pribreschny gehören. Die Rayonsverwaltung und die Abgeordnetenversammlung sind im früheren Gebäude der Zentralexekutivkomitees und des Rats der Volkskommissare der ASSR der Wolgadeutschen untergebracht.

Am 5. März 1989 wurde bei der Kulturabteilung der Stadtverwaltung der Verein „Neues Leben“ gegründet, der 1991 als Deutsches Kulturzentrum registriert wurde und die erste offiziell in der UdSSR registrierte Vereinigung der Russlanddeutschen darstellte. Nach Stand zum Jahr 1989 lebten zu diesem Zeitpunkt 1.094 Deutsche in Engels. Anfang der 1990er Jahre stieg die Zahl der in der Stadt ansässigen Deutschen angesichts der wiederbelebten Autonomiebewegung stetig an. 1991 lebten 3.260 Russlanddeutsche in der Stadt und weitere 1.200 Personen im Rayon Engels. Seit den 1990er Jahren gibt es im Heimatmuseum der Stadt Engels eine den Wolgadeutschen gewidmete ständige Ausstellung. Darüber hinaus gibt es in der Stadt auch ein dem Schriftsteller L.A. Kissel gewidmetes Museum. Am 26. August 2011 wurde im Hof des Staatlichen Historischen Archivs der Wolgadeutschen ein Denkmal für die 1941 deportierten Wolgadeutschen enthüllt. Die frühere Luther-Gasse, in der das Schul- und Bethaus lag, ist heute ein Teil der Lenin-Straße (bis zur Kreuzung mit der heutigen Kommunistischen und früheren Kobsarew-Straße).

Viele in Engels ansässige Industrieunternehmen wie z.B. die Trolleybus-Fabrik, die Zündkerzen-Fabrik „Robert Bosch Saratow AG“, der Waschmittelhersteller „HenkelRus AG“, die „Fabrik für Metallkonstruktionen AG“ oder die „POSch-Chemiefaser AG“ sind in ganz Russland und darüber hinaus bekannt.

 

Literatur

Герман А.А. Немецкая автономия на Волге. 1918–1941. Часть II. Автономная республика. 1924–1941. – Саратов, 1992–1994; Ерина Е.М. Документы Государственного исторического архива немцев Поволжья о депортации по Указу 28 августа 1941 г. // Начальный период Великой Отечественной войны и депортация российских немцев: взгляды и оценки через 70 лет. Материалы конференции. – М., 2011; Ерина Е.М. Здесь был Лютеранский проезд // Покровск. № 42 (142). – 14 октября 1994; Князева Е.Е., Соловьева Ф. Лютеранские церкви и приходы ХVIII–ХХ вв. Исторический справочник. – СПб., 2001. – Часть I; Немецкие населенные пункты в Российской Империи: География и население. Справочник / Сост.: В.Ф. Дизендорф. – М., 2002; Плеве И.Р. Немецкие колонии на Волге во второй половине ХVIII в. – М., 1998; Stumpp К. Verzeichnis der evangelischen Pastoren in den einzelnen deutschen und gemischten Kirchspielen in Russland bzw. der Sowjetunion, ohne Baltikum und Polen // Die Kirchen und das religiöse Leben der Russlanddeutschen. – Bearbeitung J. Schnurr. – Stuttgart, 1978. – Evangelischer Teil.

Archive

ГАСО. Ф. 180. Оп. 1. Д. 493. Л. 234; Оп. 3. Д. 69; ГИАНП. Ф. 162. Оп. 1. Д. 117; Ф. 243. Оп. 1. Д. 1–10; Ф. 849. Оп. 1. Д. 835. Л. 8; ЦДНИСО. Ф. 1. Оп. 1. Д. Д. 1673. Л. 84; . 2031. Л. 15; Д. 2661(б). Л. 154.

Autoren: Lizenberger O.A.

ЗEINE FRAGE STELLEN