Warkentin Johann (1920–2012) – russlanddeutscher Dichter, Übersetzer, Literaturkritiker, Publizist, Redakteur, Lehrbuchautor.
Johann Warkentin wurde am 11. Mai 1920 in der mennonitischen Siedlung Spat auf der Krim geboren. Er wuchs in einer deutschsprachigen Umgebung auf – seine Familie sprach das niederdeutsche Plautdietsch – und genoss deutschsprachigen Unterricht in der Mittelschule seines Dorfes, die auch seine zukünftige Ehefrau Lilli Eigeris besuchte.
1937 begann Warkentin ein Studium der Anglistik an der Universität in Leningrad, das durch den Kriegsausbruch 1941 unterbrochen wurde. Bis 1942 leistete er Frontdienst in der Roten Armee als Militärdolmetscher an der Ostsee, wurde jedoch anschließend wegen seiner deutschen Herkunft nach Sibirien deportiert, wo er bis 1946 als Holzfäller Zwangs arbeit verrichten musste. Nach dem Krieg gelang es Warkentin, die Universität im Fernstudium zu beenden. Er arbeitete als Lehrer für Deutsch, Englisch und Latein an verschiedenen Schulen und Hochschulen in der Altairegion.
1956 schloss sich Warkentin der Redaktion der ersten deutschsprachigen Zeitung der Nachkriegszeit „Arbeit“ an, die Ende 1955 in Barnaul gegründet wurde. Als literarischer Berater der Zeitung redigierte Warkentin Gedichte junger Autoren und begann selbst, russische Klassik ins Deutsche zu übertragen. Das Bestehen der „Arbeit“ war jedoch nur von kurzer Dauer. Nachdem in Moskau das Erscheinen einer neuen deutschsprachigen Zeitung namens „Neues Leben“ beschlossen wurde, was dem Bestreben der sowjetischen Staatsführung, die Presse stärker zu zentralisieren, entsprach, wurde die Redaktion der „Arbeit“ 1957 nach nur eineinhalb Jahren ihres Bestehens aufgelöst.
Seit den 1960er Jahren war Warkentin in der Autonomiebewegung der Russlanddeutschen aktiv. Er engagierte sich für die Wiederherstellung der deutschen Autonomie, die ihm jedoch nicht an der Wolga, sondern in Sibirien vorschwebte. 1965 war er Mitglied der ersten Delegation der Russlanddeutschen, die nach Moskau entsandt wurde, um deren vollständige Rehabilitierung zu erreichen.
Von 1961 bis 1968 lebte Warkentin in Kasachstan, wo auch seine ersten literarischen Werke entstanden, und anschließend in Ufa (Baschkirien). 1963 wurde er Mitglied des Schriftstellerverbandes der UdSSR. 1966 erschien in Alma-Ata die Sammlung seiner Gedichte und Nachdichtungen „Lebe nicht für dich allein. Gedichte, Poeme und Übersetzungen“ (Alma-Ata 1966), die das Poem „Du, eine Sowjetdeutsche“ enthielt, das als einer seiner dichterischen Höhepunkte aus dieser Zeit gilt. Das Poem schildert das tragische Schicksal ei ner sowjetdeutschen Frau, das jedoch in Kasachstan ein glückliches Ende nimmt.
Elf Jahre, von 1969 bis 1980, war Warkentin als Redakteur und Leiter der Literaturabtei lung der deutschsprachigen Wochenzeitung „Neues Leben“ in Moskau tätig. In dieser Funktion leistete er einen bedeutenden Beitrag zur Neubelebung und Entwicklung der russlanddeutschen Presse und Literatur – einerseits als Redakteur und kritischer Begleiter von Werken russlanddeutscher Autoren, andererseits selbst als produktiver Autor. In dieser Zeit erschienen mehrere Werke aus seiner Feder, darunter in Buchform „Stimmen aus
den fünfzehn Republiken. Ausgewählte Nachdichtungen“ (Moskau 1974), „Kritisches zur sowjetdeutschen Literatur“ (Moskau 1977), „Gesammeltes. Verse und Nachdichtungen“ (Moskau 1980), „Streiflichter aus der Kulturgeschichte. Literaturkritische Artikel“ (Alma-Ata 1981). Zusammen mit Victor Klein gab er zudem Lehr- und Lesebücher zur „Deutschen Literatur“ für Schulen mit muttersprachlichem Deutschunterricht heraus.
Nach seiner Pensionierung, 1981, siedelte Warkentin in die DDR über und lebte bis zu sei nem Tod in Berlin. Dort arbeitete er unter anderem als Übersetzer für die Zeitschrift „Sowjetliteratur“.
Nach der Wende war Warkentin literarisch und kulturpolitisch aktiv. Er setzte sich für ein besseres Verständnis und die Aufnahme der russlanddeutschen Spätaussiedler in die bun desdeutsche Gesellschaft ein. Seine Bemühungen galten der Überwindung negativer Vorstellungen in der deutschen Bevölkerung über russlanddeutsche Einwanderer. Als literarisch-kulturgeschichtlichen Beitrag hierzu erschien seine Abhandlung „Russlanddeutsche – Woher? Wohin?“ (Berlin 1992), die die Geschichte der Russlanddeutschen von ihren Anfängen in Russland bis zur Perestrojka umreißt. Warkentin beteiligte sich aktiv an der Gründung der regionalen Gruppen der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland des Landes Berlin und engagierte sich in der alltäglichen Arbeit der Landsmannschaft, indem er etwa als Sozialberater im damaligen Deutschlandhaus mitwirkte oder als Simultanübersetzer bei kirchlichen Veranstaltungen in Berlin half.
Als stellvertretender Vorsitzender des Kulturrates der Deutschen aus Russland in den Jah ren 1993 bis 1995 widmete sich Warkentin der russlanddeutschen Literatur und den Vertretern der jungen Generation russlanddeutscher Autoren. Zugleich fungierte er als Herausgeber der ersten Bände des Literaturalmanachs „Wir selbst“ der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland (1996–1997).
Es folgten weitere Veröffentlichungen, darunter: „Russlanddeutsche Berlin-Sonette“ (Stuttgart 1996), „Geschichte der russlanddeutschen Literatur aus persönlicher Sicht“ (Stuttgart 1999), „Nachdichtungen – Höhepunkte der russischen Lyrik“ (Lage-Hörste 2000, zweisprachig), „Übersetzers Frust und Freud“ (Lage-Hörste 2001), „Spuren im losen Sand. Gesammelte Verse“ (Lage-Hörste 2005) sowie zahlreiche literaturkritische Beiträge, Rezensionen und Glossen in Zeitungen und Zeitschriften.
2002 wurde Johann Warkentin mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande für sein Engage ment um die soziale, sprachliche und kulturelle Integration der russlanddeutschen Spätaussiedler in die bundesdeutsche Gesellschaft ausgezeichnet.
Als Dichter zeichnete sich Warkentin durch einen individuellen Sprachstil aus, der assoziations- und bildreich war. Als Übersetzer und Nachdichter trat er als Vermittler zwischen Kulturen auf. In der Sowjetunion hatten seine Bemühungen als Schriftsteller, Redakteur und Kritiker der Wiederbelebung und Pflege der deutschen Sprache gegolten, in der er den entscheidenden Grundstein für den Erhalt der nationalen Identität sah. In der Bundes republik setzte er seinen leidenschaftlichen Kampf gegen die von ihm so genannte „Sprachverhunzung“ und die „Verunreinigung“ der deutschen Sprache, etwa durch Angli zismen oder Jargon, fort. In den literarischen Werken russlanddeutscher Autoren duldete er keine aus seiner Sicht vorhandenen Fehler und keine stilistischen Nachlässigkeiten. Seine kompromisslose Haltung gegenüber dem sprachlichen Ausdruck brachte ihm den Ruf eines „zornigen alten Mannes der russlanddeutschen Literatur“ (Ingmar Brantsch) ein.
Johann Warkentin hat jahrzehntelang die Entwicklung und Etablierung der russlanddeutschen Literatur mitgeprägt. Im vereinten Deutschland engagierte er sich in Arbeits- und Literaturkreisen, wo er junge russlanddeutsche Autoren literarisch unterstützte, trat bei Lite raturwerkstätten und Autorenseminaren als Referent auf. Er schrieb zahlreiche Rezensionen, Kritiken und Essays, hielt Vorträge und Lesungen, wirkte als Mitherausgeber von Literaturalmanachen und Literaturbriefen. Er trug maßgeblich dazu bei, dass zahlreiche russlanddeutsche Autoren im bundesdeutschen Literaturbetrieb gehört und bekannt wurden.
Die literarischen Ansichten Warkentins, der noch zu Lebzeiten als „Nestor der russlanddeutschen Literatur“ oder als „Literaturpapst“ der russlanddeutschen Autoren bezeichnet wurde, blieben jedoch umstritten. So sprach er den auf Russisch schreibenden Autoren die Zugehörigkeit zur russlanddeutschen Literatur ab und verteidigte vehement den Standpunkt, dass nur auf Deutsch verfasste Werke zur russlanddeutschen Literatur gehörten. In diesem Sinne erntete auch sein Werk „Geschichte der russlanddeutschen Literatur aus persönlicher Sicht“ (1999) Kritik, da die Auswahl der dort berücksichtigten Autoren ausschließlich den subjektiven Ansichten des Autors über die „Reinheit“ der Literatur entsprang und daher willkürlich und die russlanddeutsche Literatur verengend gewesen sei (Herold Belger). Im Übrigen vertrat Warkentin die Ansicht, dass sich in der Bundesrepublik lebende Russlanddeutsche vollständig assimilieren und keine spezifisch russlanddeutschen Mentalitäten mehr aufweisen sollten. Im Umkehrschluss bedeutete es aus dieser Sicht das Ende für eine spezifisch russlanddeutsche Literatur, da sie mit dem Aufkommen einer neuen Generation von Autoren ohne sprachliche Besonderheiten in der allgemeinen deutschen Literatur aufgehen würde.
Johann Warkentin starb am 9. April 2012 in Berlin. Er wurde auf dem Biesdorfer Friedhof in Berlin neben seiner Frau beigesetzt.
Johann Warkentin (1920–2012) zum 100. Geburtstag. Festschrift. Nürnberg: BKDR Verlag, 2020; Kelbler, Alexander: Johann Warkentin. Ein Deutscher von der Krim (zum 100-jährigen Jubiläum 1920–2020), in: Historischer Forschungsverein der Deutschen aus Russland e.V. (Hg.): Russland-Deutsche Zeitgeschichte. Biographien, Kriegsgeschichte, Auswanderungskampf, Tipps für Familienforschungen. Bd. 17. Nürnberg 2020, S. 80- 81.