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DULSON, Andrej (Andreas) Petrowitsch (*27. Januar/ 9. Februar 1900 in Preuß (heute Krasnopolje), Bezirk Nowousensk, Gouvernement Samara, † 15. Januar 1973 in Tomsk) – Philologe, Professor der Staatlichen Universität Tomsk (TGU) und des Staatlichen Pädagogischen Instituts Tomsk (TGPI)

Rubrik: Biographische Beiträge (Personalien) / Vertreter des sozialen Bereichs (Bildung, Medizin)

DULSON, Andrej (Andreas) Petrowitsch (*27. Januar/ 9. Februar 1900 in Preuß (heute Krasnopolje), Bezirk Nowousensk, Gouvernement Samara, † 15. Januar 1973 in Tomsk) – Philologe, Professor der Staatlichen Universität Tomsk (TGU) und des Staatlichen Pädagogischen Instituts Tomsk (TGPI).

            Dulsons Familie stammte väterlicherseits aus Südfrankreich. Seine Vorfahren mütterlicherseits waren in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts aus der Nähe von Köln an die Untere Wolga übergesiedelt. Dulsons Vater Pjotr (Peter) Jegorowitsch war Dorfschreiber, Soldat im Ersten Weltkrieg und später Sekretär des Dorfsowjets. Dulsons Mutter Margarita, geb. Zimmermann, kümmerte sich um den Haushalt und die Erziehung der Kinder (Dulson war das sechste Kind der Familie). Dulsons Eltern kamen zur Zeit der Hungersnot von 1921 ums Leben. Nach Abschluss der Volksschule (1913) besuchte Dulson das Jungengymnasium in Katharinenstadt (nach 1920 Marxstadt, seit 1941 Marx), wo er Griechisch und Latein lernte. In den Jahren 1917–24 war Dulson als Lehrer, Leiter eines Waisenhauses, Instrukteur der Bezirksabteilung für Volksbildung und Inspekteur des Volkskommissariats für Bildungswesen der ASSR der Wolgadeutschen tätig. Während seiner durch die Rayone der Unteren Wolga führenden Dienstreisen machte er Bekanntschaft mit den Dialekten und der Geschichte der dort siedelnden Deutschen. Von 1924 an studierte er an der Physikalisch-Mathematischen Abteilung der Pädagogischen Fakultät der N.G. Tschernyschewskij-Universität Saratow. 1928 wechselte er innerhalb der Fakultät an die Abteilung für Deutsche Sprache und Literatur. Neben dem Studium unterrichtete er in den Jahren 1925-29 Chemie, Mathematik und Deutsch und leitete die deutsche Abteilung der Arbeiterfakultät (Rabfak) der Universität Saratow. Nach Abschluss seines Studiums (1929) studierte er in den Jahren 1930–32 in der Aspirantur am Moskauer Wissenschaftlichen Forschungsinstituts für Sprachwissenschaft und lehrte anschließend als Dozent für allgemeine Sprachwissenschaft und Germanistik an verschiedenen Hochschulen in Engels und Saratow. 1940 wurde er im akademischen Rang des Professors bestätigt. Nach der Auflösung der ASSR der Wolgadeutschen kam er im September 1941 mit seiner Familie nach Tomsk, wo er bis April 1954 als Sondersiedler bei einer der Kommandanturen der Tomsker Gebietsverwaltung des Ministeriums für Staatssicherheit registriert war. Von 1941 an war Dulson Professor, von 1942 an Leiter des Lehrstuhls für Deutsche Sprache und Allgemeine Sprachwissenschaft des Staatlichen Pädagogischen Instituts Tomsk. 1942 wurde Dulson entlassen und arbeitete zwischenzeitlich im Staatlichen Tomsker Rayonskraftwerk. 1943 kehrte er an das Staatliche Pädagogische Institut Tomsk zurück, wo er praktisch bis zu seinem Tod lehrte. 1945-48 war er parallel Professor am Lehrstuhl für Literatur und Russische Sprache der Historisch-Philologischen Fakultät der Staatlichen Universität Tomsk, wo er die folgenden Kurse hielt: „Allgemeine Sprachwissenschaft“, „Einführung in die Ethnologie (allgemeine Ethnographie)“ „Ethnische Zusammensetzung der vorrussischen Bevölkerung Westsibiriens“.

Dulson begann seine wissenschaftliche Karriere mit der Erforschung der deutschen Dialekte des Wolgagebiets. 1938 promovierte er mit dem Thema „Der Alt-Urbacher Dialekt“ zum Kandidaten der Philologischen Wissenschaften, 1939 habilitierte er sich mit dem Thema „Das Problem der Vermischung von Dialekten nach Materialien der Mundart des Dorfes Preuß“ zum Doktor der Philologischen Wissenschaften (1940 vom Allunionskomitee für Hochschulfragen bestätigt). In seinen ersten Jahren in Tomsk befasste sich Dulson mit der Erforschung der germanischen Sprachen und archäologischen Fragen. 1944–46 nahm er als Leiter der Grabhügel-Gruppe an einer von der Staatlichen Universität und dem Staatlichen Pädagogischen Institut Tomsk gemeinsam organisierten, von Prof. K.E. Grinewitsch geleiteten archäologischen Expedition teil, in deren Rahmen die in der Nähe von Tomsk gelegene befestigte Siedlung Basandajka erforscht wurde. Später spezialisierte sich Dulson auf Fragen der Herkunft der indigenen Völker Sibiriens und ihrer Sprachen. So erforschte er in den Jahren 1946-51 zusammen mit Wissenschaftlern der Staatlichen Universität Tomsk die auf dem Territorium des Gebiets Tomsk ansässigen turk-tatarischen Tschulymer, in deren zu den Turksprachen gehörenden Sprache er einige Gemeinsamkeiten mit der selkupischen und der ketischen Sprache fand, was ihn die Hypothese aufstellen ließ, dass die tschulymische Turksprache aus einer allmählichen Turkisierung der örtlichen Bevölkerung (Selpuken am Unterlauf, Keten am Mittellauf des Flusses Tschulym) hervorgegangen sein musste. Auf Grundlage umfangreichen im Zuge zahlreicher Expeditionen zusammengetragenen Materials erforschte er die zuvor nicht beschriebene tschulymische und andere am Unterlauf des Flusses Tom gesprochene Turksprachen und bestimmte die Hauptdialekte und eine Reihe von Mundarten der tschulymischen Sprache. Angesichts der zwischen der tschulymischen Turksprache und der selpukischen und ketischen Sprache gefundenen Gemeinsamkeiten wurde deren Erforschung noch in den 1940er Jahren spürbar intensiviert. Von 1952 an galt Dulsons Hauptaufmerksamkeit der Erforschung der Selpuken, deren ursprüngliche Siedlungsgebiete, historische Lebensräume und Migrationsrouten er ebenso rekonstruieren konnte wie die der samojedischen und finno-ugrischen Völker. Von 1955 an galt Dulsons Forschungsinteresse vor allem den Keten, die er schließlich als älteste heute noch lebende Bewohner des südlichen und mittleren Teils Westsibiriens und der Region Krasnojarsk ausmachen konnte. Darüber hinaus konnte Dulson Ausgangsort sowie Abfolge und Areale der Siedlung der ketischen Völker in Sibirien bestimmen. Er lernte die ketische Sprache, bestimmte deren Hauptdialekte und verfasste schließlich das 1971 mit dem Staatspreis der UdSSR ausgezeichnete Monumentalwerk „Die ketische Sprache“ (Tomsk, 1968).

Dulsons Forschungsarbeit stützte sich auf komplexe Expeditionen, in deren Verlauf er nicht nur linguistisches Material zusammentrug, sondern auch archäologische Denkmäler dokumentierte, die örtliche Bevölkerung betreffendes ethnographisches Material sammelte und charakteristische Objekte der materiellen Kultur erwarb oder fotografisch dokumentierte. Allen Expeditionen gingen sorgfältige Vorbereitungsarbeiten voraus, die u.a. auch den Erwerb der von der indigenen Bevölkerung gesprochenen Sprache, die detaillierte Festlegung der Routen, die Ausarbeitung einer ausreichenden Mengen von Fragebögen sowie eine exakte Formulierung der Zielvorgaben beinhalteten. Erst von 1968 an dienten die Expeditionen rein linguistischen Zielen. Da es nach Dulsons Überzeugung für den Erfolg der Expeditionen von entscheidender Bedeutung war, das Vertrauen der zu befragenden Informanten zu gewinnen, schärfte er allen Beteiligten ein, sich betont respektvoll zu verhalten. In den 30 Jahren seiner wissenschaftlichen Tätigkeit in Sibirien war Dulson an der Vorbereitung und Durchführung von über 60 Expeditionen beteiligt. Bei der Erforschung der Herkunft sowie der Wanderungsbewegungen und ethnischen Kontakte der über keine Schriftlichkeit verfügenden indigenen Völker Sibiriens spielte die erstmals in Sibirien zur Anwendung gekommene Methode der Analyse von Toponymen, Patronymen und der Terminologie der alten Jahresrechnung eine Schlüsselrolle. Im Zuge seiner Forschungstätigkeit entwickelte Dulson eine auf die Analyse der Substratherkunft von Toponymen gestützte Methode. So untersuchte er z.B. das fremdsprachige Substrat zweisilbiger ketischer Toponyme und rekonstruierte auf diese Weise Kontakte der Keten zu verwandten und nicht verwandten Völkern. Da sich ein Teil der Substrate aus keiner dieser Sprachen herleiten ließ, schloss er, dass es auf dem betreffenden Territorium eine urzeitliche unbekannte Sprachschicht gegeben haben musste. Um die Stellung der ketischen Sprache zu klären, stellte er diese sowohl den in relativer Nachbarschaft des ketischen Sprachgebiets gesprochenen turksprachigen, samojedischen und ugrischen Sprachen als auch entfernteren kaukasischen und sino-tibetischen Sprachen sowie den Sprachen der amerikanischen Ureinwohner, der Basken und Burusho gegenüber und kam zu dem Schluss, dass es in Zentralasien eine urzeitliche Sprachgemeinschaft gegeben haben musste, deren Zerfall er zeitlich bestimmte. In seinen letzten Lebensjahren befasste er sich mit der Fixierung einzelner Verwandtschaften zwischen finno-ugrischen, altajischen, indoeuropäischen, kaukasischen, tibetobirmanischen, tschuktscho-kamtschadalischen und jenisseischen Sprachgruppen und legte den Grundstein für die weitere der Erforschung der zwischen diesen Sprachen bestehenden Verbindungen gewidmete Forschung. In den 1950er-1970er Jahren entwickelte sich Tomsk zu einem der stärksten toponymischen Forschungszentren des Landes, das über die Jahre die Toponyme zahlreicher in Sibirien und im Fernen Osten ansässiger Völker erfasste. Unter Dulsons Führung wurde eine aus insgesamt 330.000 Karten bestehende Kartothek der Toponyme Westsibiriens angelegt (1958). Darüber hinaus wurden über 300 ausführliche toponymische Karten angefertigt, auf deren Grundlage schließlich die siebenbändige Forschungsarbeit „Die Toponyme Sibiriens nichtrussischer Herkunft“ entstand. Dulsons Feder entstammen über 160 veröffentlichte wissenschaftliche Arbeiten, von denen wiederum 33 pädagogisch ausgerichtet waren (für die Mittel- und Hochschulen bestimmte Artikel und Lehrwerke zur Grammatik, Stilistik und Phonetik sowie der Geschichte und Methodik des Deutschunterrichts gewidmete Arbeiten). Von 1959 an gehörte Dulson dem Büro der Ständigen Kommission für Gesellschaftswissenschaften der Sibirischen Abteilung der Akademie der Wissenschaften der UdSSR an. Einige Zeit war er Mitglied des Rats des Heimatkundemuseums des Gebiets Tomsk und Vorsitzender des Westsibirischen Koordinierungskomitees der der Erforschung der Urgeschichte der Völker Westsibiriens gewidmeten wissenschaftlichen Forschung. Abgesehen davon leitete Dulson die Arbeit toponymischer Arbeitskreise in verschiedenen zwischen Ural und Baikal gelegenen Städten. Von 1969 an war er Mitglied des Vereinigten Rats zur Zueignung wissenschaftlicher Grade der historischen und philologischen Wissenschaften an der Staatlichen Universität Tomsk. 1965 war er Leiter der Sektion für Toponomastik Sibiriens, des Europäischen Nordens und des Fernen Ostens der Allunionskonferenz für Toponomastik der UdSSR. Dulson ist Begründer der im In- und Ausland anerkannten Tomsker linguistischen Schule. Seine Forschungsschwerpunkte lagen im Bereich der Erforschung der Sprachen der Völker Sibiriens. Er betreute insgesamt 42 Kandidatendissertationen. Zu seinen Schülern gehören unter anderem die Doktoren der Philologischen Wissenschaften G.K. Wegner, E.G. Bekker, O.A. Osipowa, O.T. Moltschanow, W.N. Popowa, R.M. Birjukowitsch, P.M. Karaschuk und G.G. Edig. Dulson war Organisator dreier der Frage der Herkunft der indigenen Bevölkerung Sibiriens und ihrer Sprachen gewidmeter Allunionskonferenzen, die 1958, 1969 und 1973 in Tomsk stattfanden. Er war Ehrenmitglied des Internationalen Komitees für Onomastik (1972), korrespondierendes Mitglied der (finnischen) Gesellschaft für Finno-Ugristik (seit 1973). Dem Gedenken an Dulson waren bzw. sind die 4. Allunions-Wissenschaftskonferenz (1976) sowie die „Dulson-Lesungen“ gewidmet, die seit 1974 regelmäßig am Staatlichen Pädagogischen Institut (seit 1995 Universität) durchgeführt werden. Dulson beherrschte die deutsche Sprache, sprach neben den von ihm untersuchten Sprachen der Völker Sibiriens auch Französisch, Englisch und Ukrainisch und las Holländisch, Italienisch, Tatarisch und Jiddisch. Dulson wurde mit dem Orden der Oktoberrevolution (1971), dem „Ehrenabzeichen“ (1961), der Medaille „Für heldenhafte Arbeit. Anlässlich des 100. Geburtstags Wladimir Ilitsch Lenins“ (1970) ausgezeichnet. Dulson war mit der Pädagogin und Kartographin Wiktorija Josifowna (geb. Glok, 1900–1975) verheiratet und hatte drei Kinder: Erika (geb. 1922) absolvierte die Fremdsprachenfakultät des Staatlichen Pädagogischen Instituts Tomsk, unterrichtete an den Tomsker Hochschulen Englisch und lebt heute in Deutschland; Kuno (1928–1988) absolvierte das Polytechnische Institut Tomsk und arbeitete als Dozent und Dekan einer der Fakultäten des Pädagogischen Instituts Tomsk; Alfred (geb. 1937) absolvierte das Pädagogische Institut Tomsk und arbeitet heute als Professor am Lehrstuhl für Internationales Management der Pädagogischen Universität Tomsk. 

INHALT

Veröffentlichungen

Очерки по грамматике кетского языка. Томск, 1964; О методологии историко-сопоставительного изучения неродственных языков // Ученые записки ТГУ. 1966. № 57; Кетские сказки. Томск, 1966; Гунны и кеты // Известия СО АН СССР. Серия общественных наук. Новосибирск, 1968. Выпуск 3. № 11; Опыт исторической привязки топонимов субстратного происхождения // Ученые записки ТГУ. 1969. № 75; Общность урало-алтайских глагольных форм с индоевропейскими // Там же; Группа енисейских языков // Филологические науки. 1970. № 5; Кетско-тюркские параллели в области склонения // Склонение в палеазиатских и самодийских языков. Л., 1970; Этнологическая дифференциация тюрков Сибири // Структура и история тюркских языков. М., 1971; О некоторых общностях енисейских языков с индоевропейскими // Ученые записки ТГУ: Вопросы языкознания и сибирской диалектологии. Томск, 1971. № 74. Выпуск 2; Прасамодийские форманты глагольного лица // Советское финно-угроведение. 1972. № 2; Итоги изучения субстратной топонимии Сибири // XI Международный конгресс ономастических наук. София, 1972; Установление архетипа фонемы по межъязыковым рядам альтернаций // Советская тюркология. Баку, 1973; Диалекты и говоры тюрков Чулыма // Советская тюркология. 1973. № 2.

Archive

ГАТО. Ф. Р-815. Оп. 29. Д. 100.

Literatur

Окладников А.П., Убрятова Е.И., Гриценко К.Ф., Осипова О.А., Бирюкович Р.М. Андрей Петрович Дульзон (1900–1973): Некролог // Народы Азии и Африки. 1973. № 4; Косарев М.Ф. А.П. Дульзон как археолог // Народы и яз. Сибири. Новосибирск, 1980; Львова Э.Л. Этнограф и археолог // Советский учитель. 1983. 28 янв.; Галкина Т.В., Осипова О.А. А.П. Дульзон: К 95-летию со дня рождения. Томск, 1995; Галкина Т.В., Осипова О.А. А.П. Дульзон: Вехи жизни // Вестник ТГПУ. 1999. Выпуск 4 (12). Серия: гуманитарные науки (филология); Она же. Слово об ученом и педагоге: стратегия и технология научно-педагогического процесса Томской лингвистической школы А.П. Дульзона в 1940–1970-е гг. // Там же; Она же. Генеалогия Томской лингвистической школы А.П. Дульзона // Там же; Воспоминания об А.П. Дульзоне его учеников и друзей (Молчановой О.Т., Поповой В.И., Мазаевой В.И., Горштейна А.Б., Калининой Л.И., Кабановой Т.А., Черемисиной М.И., Кузьминой А.И.) // Там же; Профессора Томского государственного университета: Биографический словарь (1945–1980) / С.Ф. Фоминых, С.А. Некрылов, Л.Л. Берцун и др. Томск, 2001; Профессора Томского государственного педагогического университета: Биографический словарь / Автор-составитель Т.В. Галкина. Томск, 2005.

 

Autoren: Gribovskij M.V., Fominych S. F.

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