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MÜLLER Michail Alexandrowitsch (1883–1968). Wissenschaftler, Archäologieprofessor, Historiker, Jurist, Hochschullehrer, Museumsmitarbeiter

Rubrik: Biographische Beiträge (Personalien) / Vertreter des sozialen Bereichs (Bildung, Medizin)

MILLER, Michail Alexandrowitsch, * 23. November 1883 in Kamenno-Millerowskoje (Bezirk Taganrog), † 15. Februar 1968 in München (BRD). Wissenschaftler, Professor, Archäologe, Historiker, Jurist, Hochschullehrer und Museumsmitarbeiter.

Miller entstammte der Adelsfamilie der Millers, die seit den Zeiten Peters I. im Dienst der Zaren stand und ab 1742 dem Donkosakenheer zugeschrieben war. Millers Bruder war der bekannte Archäologe, Ethnologe, Professor und Paläoethnologe Alexander Alexandrowitsch Miller.

In den Jahren 1894-1903 besuchte Miller das Klassische Gymnasium in Taganrog. Zu dieser Zeit entwickelte er sein Interesse für Archäologie und archäologische Feldforschungen. In den Jahren 1901-02 erforschte er während der Sommerferien zwei auf den Ländereien der Millers gelegene aus der Bronzezeit stammende Grabhügel.

Die Funde wurden dem Museum in Nowotscherkassk übergeben.

1904 nahm Miller sein Studium an der Historisch-Philologischen Fakultät der Universität Moskau auf, wo er sich in der ukrainischen Studentengemeinde engagierte. Der Revolution von 1905-07 stand er ablehnend gegenüber und verbrachte die Zeit größtenteils fern der revolutionären Ereignisse auf seinen heimischen Ländereien, wo er sich auf die archäologische Forschungsarbeit konzentrierte. Abgesehen davon nahm er an Expeditionen der Professoren D.I. Jawornyzkyj und D.I. Bagali teil.

1907 verließ Miller nach dem dritten Studienjahr die Universität und kehrte nach Taganrog zurück, wo er M. Didusenko heiratete. Im gleichen Jahr erkundete er im Auftrag der Moskauer Archäologischen Gesellschaft das im Gouvernement Samara gelegene Flusstal des Busuluk.

1908 nahm Miller ein Studium an der Juristischen Fakultät der Universität Charkow auf, das er im Jahr 1911 erfolgreich abschloss (einigen Quellen zufolge mit dem Grad eines Kandidaten der Rechtswissenschaften). Seine archäologischen Aktivitäten beschränkten sich in den Jahren 1908-14 darauf, sich in den Sommermonaten an den von seinem Bruder Alexander Alexandrowitsch geleiteten Ausgrabungen der Siedlung und der Grabstätten in Jelisawetinskoje zu beteiligen. Im Jahr 1912 wurde Miller als eingeschriebener Kosak zur militärischen Ausbildung einberufen. 1913 stand er vor dem Problem, sich eine Arbeit suchen zu müssen. Auch wenn er zunächst in Erwägung zog, nach Jekaterinoslaw zu ziehen, um sich der Wissenschaft zu widmen, entschied er sich letztlich dafür, für das Amt des Friedensrichters zu kandidieren, was ihn darüber hinaus auch von militärischen Übungen und Mobilisierung befreite. Infolge seiner Kandidatur von Seiten der (ukrainischen) Bauernpartei musste er mit seiner Familie aus der Stadt in das Dorf Golodajewka (Bezirk Taganrog) ziehen, wo er praktisch die gesamte Zeit des Ersten Weltkriegs, der Revolution und des Bürgerkriegs verbrachte und zwischenzeitlich als Lehrer tätig war (1921 wurde er Mitglied der Gewerkschaft der Mitarbeiter des Bildungswesens). 1926 zog Miller nach Taganrog, wo er seine Lehrtätigkeit an der Arbeiterfakultät und an der Kommunistischen Hochschule fortsetzte und eine städtische Vereinigung der Heimatkundler gründete, aus der schließlich die am 8. November 1928 erfolgte Gründung des Taganroger Heimatmuseums resultierte, das auch über eine eigene Abteilung für Archäologie verfügte. Millers archäologisches Interesses galt in den Jahren 1923-28 vor allem den entlang des Flusses Mius und an der Küste des Asowschen Meeres gelegenen Fundstätten vor allem der späten Bronzezeit, deren Erforschung unter dem Dach der Staatlichen Akademie für Geschichte der Materiellen Kultur stattfand, der Miller seit 1919 angehörte.

Eine neue Etappe in Millers wissenschaftlichem Werdegang wurde durch seine Beteiligung an der DneproGES-Expedition des Volkskommissariats für Bildung der Ukrainischen SSR eingeläutet, die sich in den Jahren 1929-32 der Erforschung der an den Stromschnellen des Dnepr gelegenen archäologischen Fundstätten widmete, die im Zuge des Baus des DneproGES-Wasserkraftwerks geflutet werden sollten. 1929 wurde Miller von D.I. Jawornyzkyj eingeladen, sich als Archäologe der 1. Kategorie an der Expedition zu beteiligen. Ende 1929 erhielt Miller das Angebot, dauerhaft nach Dnepropetrowsk zu gehen und eine Stelle im dortigen Museum anzutreten, wogegen sich allerdings die entsprechenden für das Bildungswesen zuständigen Stellen in Taganrog und im Gebiet Don aussprachen, die ihm stattdessen erneut eine Stellung als Lektor an der Arbeiterfakultät anboten. Auch die Familie des Wissenschaftlers sprach sich entschieden gegen einen Umzug aus.

Von Juni bis Mitte August 1930 war Miller im Rahmen der DneproGES-Expedition an den Ausgrabungen der Hügelgrabstätte „Maidan A“ beteiligt, wurde dann aber durch äußere Umstände zur Rückkehr nach Taganrog gezwungen. Im Oktober 1930 verlor er seine Tochter und wenig später auch seine Frau.

1931 war Miller als einer von zwei Leitenden Archäologen und einziger assistierender Spezialist Jawornyzkyjs erneut bei der DneproGES-Expedition, wo er an den Ausgrabungen entlang der Nanasytez-Schnellen sowie der auf der Dubow-Insel gelegenen Siedlung beteiligt war, organisatorische Arbeiten verrichtete, Konferenzen durchführte, Berichte an die Bauleitung des Dnepr-Staudamms und D.I. Jawornyzkyj verfasste und sich um die Finanzen der Expedition kümmerte. Nach einer im September 1931 erfolgten Neuordnung der Expedition und insbesondere der Aufstellung dreier auf die Altsteinzeit spezialisierter Einheiten erhielt Miller den Auftrag, die archäologische Erkundungsarbeiten flussaufwärts am linken Dnepr-Ufer zu leiten. Auf der Expedition begleitete ihn auch seine zweite Ehefrau Tatjana Neljudowa.

Nach seiner Rückkehr von der Expedition leitete Miller von Ende 1931 an die Archäologische Abteilung des Heimatmuseums in Dnepropetrowsk. Parallel war er in den Jahren 1931-32 als Dozent am Dnepropetrowsker Volksbildungs-Institut tätig. 1932 erforschte er im Rahmen der DneproGES-Expedition die auf der Halbinsel Igren gelegenen Fundstätten und fasste die Resultate der DneproGES-Expedition zusammen. Ende 1932 musste Miller nach Taganrog zurückkehren. In den Jahren 1933-34 war er als Dozent am Institut für Planung und Wirtschaft der Region Nordkaukasus tätig. Ungeachtet der Verhaftung seines Bruders wurde Miller 1934 die Leitung der Nowostroi-Expedition angetragen, die in der Bauzone des Wolga-Don-Kanals tätig war. 1935 übernahm er die Leitung der Mosdok- bzw. Nordkausus-Expedition der Staatlichen Akademie für Geschichte der Materiellen Kultur (die zuvor sein Bruder A.A. Miller innegehabt hatte) und kam nach Rostow am Don, wo er als Professor für Alte Geschichte am Rostower Staatlichen Pädagogischen Instituts sowie in Personalunion am Institut für Marxismus-Leninismus tätig war. 1936 wurde er zum korrespondierenden Mitglied der Staatlichen Akademie für die Geschichte der Materiellen Kultur gewählt. Nach der Umwandlung des Pädagogischen Instituts zur Staatlichen Universität Rostow wurde Miller Professor am Lehrstuhl für Ur- und Frühgeschichte und Archäologie und promovierte mit dem Thema „Die Stein- und Bronzezeit in der Don-Region“ zum Doktor der Historischen Wissenschaften.

Beim Einmarsch der Deutschen in die Sowjetunion blieb Miller in Rostow am Don, das Ende Juli 1942 von der Wehrmacht besetzt wurde. Anfang August 1942 wurde er von den Organisatoren der antibolschewistischen Kosaken-Bewegung zur Zusammenarbeit mit Hauptsturmführer Kubusch angeworben, der innerhalb des Hauptamts Persönlicher Stab Reichsführer-SS für die Erforschung der „Kosakenfrage“ zuständig war und Miller beauftragte, eine „Geschichte der Donkosaken“ zu verfassen. Einen weiteren Auftrag (die persönliche Bibliothek des ins Landesinnere evakuierten „Politkommissars Lunin“ zu sichten) erhielt Miller von dem Mitglied des Einsatzkommandos C6 der Sicherheitspolizei und des SD Obersturmführer Blumberg.

Anfang September 1942 wurde auch das Mitglied des „Sonderkommando Jankuhn“ (einer Unterabteilung des SS-“Ahnenerbes“, die in der der Heeresgruppe Süd unterstellten Zone agierte) Dr. K. Kersten auf Miller aufmerksam. Von Ende September 1942 an äußerte sich H. Jankuhn in seinen Berichten an das Hauptamt Persönlicher Stab Reichsführer-SS und das “Ahnenerbe“ mehrfach positiv über die Arbeit des Rostower Professors. Zum Zeitpunkt seiner Evakuierung aus Rostow am Don wurde Miller von den deutschen Diensten als ständiger Mitarbeiter der Unterabteilungen des Hauptamts Persönlicher Stab Reichsführer SS, der Sicherheitspolizei und des SD geführt, von denen er nicht nur Lebensmittel, sondern auch Geldzahlungen erhielt.

Im Februar 1943 hielt sich Miller mit seiner Familie in Dnepropetrowsk auf. Außerhalb des Sichtfelds des SD und der Sicherheitspolizei begann Miller auf Vermittlung von P.A. Kosar, der schon bei der DneproGES-Expedition mit ihm zusammengearbeitet hatte und nun bei der örtlichen Verwaltung tätig war, mit den Archäologen aus dem Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg zusammenzuarbeiten, und wurde zudem als Mitarbeiter der Hilfspolizei angestellt.

Im März 1943 nahm Miller die Zusammenarbeit mit dem SD und dem SS-„Ahnenerbe“ wieder auf, was beim Einsatzstab Rosenberg für Unmut sorgte. Im April 1943 besuchte Miller das Hauptquartier des „Ahnenerbes“ in Berlin, um die Details einer an den Stromschnellen des Dnepr geplanten archäologischen Expedition zu besprechen. Einen Monat später kehrte er als Mitglied einer vom „Ahnenerbe“ organisierten Expedition nach Dnepropetrowsk zurück, um die archäologische Ausgrabungen an den Dnepr-Stromschnellen auszuführen. Dass der Einsatzstab Rosenberg parallel bereits einige Monate eine eigene Expedition vorbereitete, brachte Miller in eine prekäre Lage, und sein Versuch, sich zwei ukrainischen Mitarbeitern der Expedition des Einsatzstabs Rosenberg anzubieten, provozierte einen Konflikt zwischen der SS und dem Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete, der bis in die höchste Führung des Reiches reichte.

Im Sommer 1943 führte Miller archäologische Feldforschungen in der Region Nadporoschje (Gebiet Dnepropetrowsk) durch, die allerdings im Herbst angesichts der vorrückenden Front eingestellt wurden. Nach seiner Evakuierung nach Lemberg (Lwiw) machte Miller die Bekanntschaft von Professor Ja. Pasternak, der ebenfalls für das „Ahnenerbe“ tätig war. 1944 wurden die Wissenschaftler mit ihren Familien nach Wien gebracht, wo sie ihre wissenschaftliche Forschungstätigkeit bis zum Ende des Krieges fortsetzten.

Nach Kriegsende war Miller mit seiner Familie in einem Lager für Displaced Persons in Göttingen, wo er in Frauenkursen unterrichtete.

1946 ließ sich Miller in München nieder, wo er an der Ukrainischen Freien Universität zu unterrichten begann. 1948 wurde ihm die Ehrendoktorwürde der Philosophie verliehen. 1951 wurde er ordinierter Professor der Universität.

Parallel wurde Miller 1947 Direktor des Ukrainischen Meeresinstituts und ordentliches Mitglied der Wissenschaftlichen Gesellschaft T.G. Schewtschenko. 1951 gehörte er zu den Gründern der in München ansässigen Außenstelle des amerikanischen „Instituts für Erforschung der UdSSR“, an dem er zehn Jahre als Wissenschaftssekretär tätig war. Millers Feder entstammen über 160 Monographien sowie wissenschaftliche und publizistische Arbeiten zu Geschichte, Historiographie und Archäologie.

Miller starb am 15 Februar 1968 und ist auf dem Münchner Waldfriedhof begraben.

Ausgewählte Veröffentlichungen

Археологические раскопки у сл. Покровской// Таганрогский вестник. – № VIII – 1906; Археологические разведки по течению р. Бузулука. Древности. // Труды Императорского Археолог. Об-ва. – Вып XII. – 1909; Самберское городище// Записки Сев.Кавказского об-ва археологии, истории и этнографии (СКОАИЭ). - № 5–6  - Ростов н/Д, 1928; Памятники родового общества на Игренском полуострове// Проблемы истории докапиталистических обществ. - № 9–10. – Ленинград, 1935; Танаис. – Ростов н/Д, 1938; Первобытный период в истории Дона// Ученые записки Рост. Гос. Пед. Ин-та. – Т. 1. - Ростов н/Д, 1941; Работы археологической экспедиции ГАИМК в 1934 г на Волго-Доне// Археологические исследования в РСФСР за 1934–1936 гг. – Ленинград, 1941; Работы археологичсеской экспедиции ГАИМК в Моздоке в 1935 г. // Археологические исследования в РСФСР за 1934–1936 гг. – Ленинград, 1941; Могила князя Святослава// Український морський інститут, 1946; Досліди Нижньо-Глинівського городища Український морський інститут, 1946; Сарматська матеріальна культура// Чорноморський збірник. – Вип. 11. – 1947; Палеоліт Надпоріжжя. – Авгсбург: УВАН, 1948; Славяне и их соседи в новейшей советской интерпретации// Вестник ин-та по изучению СССР. - № 4. – 1953; Археология в СССР. – Мюнхен, 1954; Archaeology in the USSR/ Research Monograph series – № 3. – New York, 1956; Дніпрельстанівська археологічна експедиція Наркомосу України (1927–1932)// Науковий збірник Українського вільного університету. Ювілейне видання – Т.VI. – Мюнхен, 1956; Дон и Приазовье в древности. І. Каменный и бронзовый века. – Мюнхен, 1958; Дон и Приазовье в древности. ІІ. Античный период. – Мюнхен, 1958; The Balkars some archaeological notes// Kaukasian Review. – № 5. – Munich, 1958; The Russians// Genocide in the USSR. – Munich, 1958; Дон и Приазовье в древности. ІІІ. Античный период. – Мюнхен, 1961; Кам’яні спорудження бронзового віку у Надпоріжжі (І. Лябіринти)//  Наукові записки філософічного факультету УВУ. – Ч. 8. – Мюнхен, 1965–1966.

Literatur

Науково-дослідчий шлях проф. д-ра М.О. Міллера // Український збірник. – Книга 14. – Мюнхен, 1958; Пастернак Я. Михайло Олександрович Міллер (у його 80-ліття)// Наукові записки УВУ – Ч. 7. – Мюнхен, 1963. Бібліографія наукових праць проф. д-ра Михайла Міллера// Наукові записки УВУ Ч. 7. – Мюнхен, 1963. – С. 88–94; Ковалева И.Ф. Очерки древнейшей истории племен Степной Украины (по материалам Днепрогэсовской экспедиции НКПроса УССР 1927–1932 гг.): Учеб. пособие. – Днепропетровск: ДГУ, 1980. – 71 с. Казачий словарь-справочник. – Т. 2: Ибн-Батута-Пятый Дон. каз. полк/ Сост. В.Г.Губарев. Ред. изд. А.И.Скрылов. – Репринт. Воспроизведение изд. 1968 г. – М., 1992. Курінний П. Історія археологічного знання про Україну. ­ Вид. 2-ге, репринтне. - Полтава, 1994; Freitag G., Grenzer A. Der deutsche Umgang mit sowjetischem Kulturgut während des Zweiten Weltkrieges: Ein Aspekt nationalsozialistischer Besatzungspolitik// Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. – 45. – Franz Steiner Verlag Wiesbaden GmbH. Sitz Stuttgart/Germany, 1997. Тесленко Д.Л., Фанигін Ю.Ю. Михайло Олександрович Міллер – людина і учений в епоху гуманітарних катастроф// Вопросы германской истории. - Днепропетровск, 2008; Антич К. Донской археолог Михаил Александрович Миллер - мой отец// http://sarkel.ru

Autoren: Teslenko D.L.

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