MOLIEN, Fjodor (Theodor Georg Andreas) Eduardowitsch (* 19. August/ 10. September 1861 in Riga, † 25. Dezember 1941 in Tomsk) – Mathematiker, Professor des Technologischen Instituts Tomsk (TTI) und der Universität Tomsk.
Moliens aus Göteborg (Schweden) stammender Großvater Johann siedelte Mitte des 18. Jahrhunderts in den Norden des Gouvernements Livland (Russland) über und ließ sich in der Nähe von Reval (Tallinn) nieder, wo er als Lehrer einer Gemeindeschule und Organist der örtlichen evangelischen Kirche tätig war. Einer seiner Söhne (Andrej) wurde Uhrmacher, ein anderer (Gustav) war im Handel tätig, der dritte (F. Moliens Vater) schloss die Philosophische Fakultät der Universität Dorpat ab, unterrichtete an Rigaer Privatgymnasien und war Direktor eines dieser Gymnasien. Mutter: Gertruda Molien, geb. Hartmann. Nach dem Tod des Vaters wurde Moliens Onkel Gustav, zu jener Zeit ein wohlhabender Rigaer Kaufmann, Vormund der Familie. Nach häuslicher Grundschulbildung schloss Molien 1879 das Gouvernementsgymnasium in Riga ab. Von 1880 an studierte er an der Physiko-Mathematischen Fakultät der Universität Dorpat bei Professor P. Helmling (analytische Geometrie, Differenzial- und Integralrechnung, Zahlentheorie), F. Minding (Mechanik, Elastizitätslehre, allgemeine Mathematik), A. Oettingen (Physik), K. Weihrauch (Physische Geographie und Meteorologie), K. Schmitt (Chemie) und anderen. Den größten Einfluss übten auf Molien der Direktor des Universitätsobservatoriums Professor L. Schwarz und der Astronom (beobachtende Astronomie) A. Lindstedt aus, in dessen mathematischem Seminar Molien seine erste, der Bestimmung der Umlaufbahn des Kometen 1880 III gewidmete wissenschaftliche Arbeit anfertigte. Nach Abschluss seines Studiums im Jahr 1883 blieb Molien als Kandidat der Astronomie an der Universität, um sich auf die Professorenlaufbahn vorzubereiten. In den folgenden zwei Jahren hörte er Vorlesungen zur analytischen Mechanik bei K. Neumann und zu elliptischen Funktionen und Oberflächentheorie bei F. Klein und lernte zudem im Wissenschaftlichen Seminar Kleins, des Verfassers des sog. Erlanger Programms und unermüdlichen Propagandisten der zu jener Zeit neuen Idee der Gruppentheorie zur Lösung wichtiger Aufgaben der Geometrie, Algebra und Analyse. Unter dem Einfluss Kleins verschoben sich Moliens wissenschaftliche Interessen endgültig in Richtung der reinen Mathematik. Seine damals erzielten Resultate zur Theorie der linearen Transformation elliptischer Funktionen auf Grundlage des Theorems von Weierstraß bildeten den Inhalt zweier Veröffentlichungen und seiner 1885 an der Universität Dorpat verteidigten Doktorarbeit. 1885–1900 war Molien als Privatdozent am Lehrstuhl für Reine Mathematik der Universität Dorpat (nach 1893 Jurjewo, heute Tartu) tätig, wo er Vorlesungen zur Theorie analytischer und elliptischer Funktionen, zur neuesten Geometrie und Algebra, zur Theorie algebraischer Gleichungen, zur Zahlentheorie, zur projektiven Geometrie, zur Theorie der Quaternionen und zur Geschichte der Mathematik hielt. Moliens Forschungsinteresse galt zu jener Zeit Fragen der Algebra (Theorie der Systeme höherer komplexer Zahlen, Theorie assoziativer Algebren und Theorie der Darstellung von Gruppen). Er beschäftigte sich mit Fragen des Aufbaus von Systemen hyperkomplexer Zahlen. Seine Forschungsergebnisse legte Molien in dem Aufsatz „Über Systeme höherer komplexer Zahlen“ dar, den er 1892 in den „Mathematischen Annalen” veröffentlichte und im September 1892 als Doktorarbeit zur Erlangung des Titels des Doktors der reinen Mathematik an der Universität Dorpat verteidigte. In dieser für die allgemeine Theorie des Systems hyperkomplexer Zahlen grundlegenden Arbeit bewies er, dass ein beliebiges einfaches Zahlensystem die Quadratzahl der Grundeinheiten besitzt. Molien stellte das nach ihm benannte Theorem auf, dem zufolge jede assoziative einfache Algebra über dem Körper der komplexen Zahlen isormoph zu einer Matrixalgebra über den komplexen Zahlen ist. Von ihm stammt auch ein erster Abriss der Theorie der Algebra. Molien legte in seinen Forschungsarbeiten die Grundlagen der Theorie des Aufbaus assoziativer Algebren, wofür er in mathematischen Fachkreisen sofort höchste Wertschätzung erfuhr. So konnte Molien nach Aussage von G. Frobenius „Licht in das diese Frage umhüllende Dunkel bringen und zugleich eine nahezu vollständige Lösung der wichtigsten diesen Bereich betreffenden Fragen geben“. Ähnlich anerkennend äußerten sich auch H. Weyl, Emmy Noether und andere. In den folgenden Jahren war Molien mit der Weiterentwicklung der Theorie der Systeme hyperkomplexer Zahlen und deren Anwendung auf eine Reihe von Fragen der Algebra befasst. Für seine Verdienste um die Wissenschaft wurde Molien 1892 in die Moskauer Mathematische Gesellschaft aufgenommen und erhielt 1894 eine dem 70. Geburtstag von Charles Hermite gewidmete Gedächtnismedaille. 1900 wurde Molien als ordinierter Professor an das Technologische Institut Tomsk berufen, wohin er Anfang 1901 kam. Als erster in Sibirien tätiger Mathematikprofessor baute Molien den Mathematikunterricht am Institut auf, erarbeitete ein Vorlesungs- und Kursprogramm und stellte einen Leitfaden zu den von ihm gehaltenen Kursen zusammen. Als überzeugter Verfechter einer fundierten mathematischen Grundausbildung von Ingenieuren führte Molien am Tomsker Technischen Institut regelmäßige praktische Übungen zur Lösung von Aufgaben ein. Er stellte eine eigene der Differential- und Integralrechnung gewidmete Vorlesungsreihe zusammen, die zunächst lithographiert wurde und später auch in gedruckter Form erschien. Auf Grundlage des von ihm gehaltenen Kurses gab das Tomsker Technische Institut jedes Jahr eine Aufgabensammlung heraus. Am Institut wurden ein mathematisches Kabinett und eine mathematische Bibliothek eingerichtet. Molien wurde zum Dekan der Abteilung für Ingenieur- und Bauwesen (1909-1911) und zum Vorsitzenden des Professorengerichts (1902–1903) gewählt. 1911 wurde Molien aufgrund seiner oppositionellen Haltung und Unterstützung revolutionär gesinnter Studenten unter einem Vorwand als „Verdienter Professor“ in den Ruhestand versetzt. Da allerdings das Dokument über die Zuerkennung des Status eines „Verdienten Professors“ erst mit einer Verzögerung von zwei Jahren eintraf, verlor Molien das Recht, seine Lehrtätigkeit am Tomsker Technischen Institut als außerordentlicher Professor fortzusetzen. So organisierte Molien für die Lehrkräfte und Wissenschaftlichen Mitarbeiter des Tomsker Technischen Instituts das erste wissenschaftliche Mathematische Seminar. Zudem war er an der Arbeit des 2. Gesamtrussischen Kongresses der Mathematiklehrer beteiligt. 1914 arbeitete Molien auf Bitten der Bezirksverwaltung Ufa einen Überblickskurs über die Arithmetik und Trigonometrie aus, den er in allgemeinbildenden Kursen für Volksschullehrer in Ufa hielt. Von Ende 1914 an lehrte Molien an den Sibirischen Höheren Frauenkursen, wo er einen Kurs über Differential- und Integralrechnung hielt. Nach der Februarrevolution bat der renommierte Ingenieur-Mechaniker Professor I.I. Bobarykow in einem Schreiben vom 5. April 1917 Molien im Namen des Rats des Tomsker Technischen Instituts, angesichts der geänderten Umstände seine akademische Tätigkeit am Institut wiederaufzunehmen, woraufhin dieser an das Tomsker Technische Institut zurückkehrte. Bereits Ende Dezember 1917 boten ihm die Professoren W. Nekrassow und A. Pospelow allerdings an, an die gerade eröffnete Physikalisch-Mathematische Fakultät der Universität zu wechseln, wo Molien von September 1918 als ordinierter Professor am Lehrstuhl für Reine Mathematik lehrte und zugleich das Astronomische (1922) und das Geometrische Kabinett (1922) leitete. Molien hielt mathematische Grundkurse sowie einige fakultative Kurse für besonders interessierte Studenten, führte von 1920 an unterschiedlichen Fragen der Mathematik gewidmete wissenschaftliche Seminare durch, betreute Diplomarbeiten und unterrichtete Aspiranturstudenten. In seinen letzten Lebensjahren war Molien physisch bereits so geschwächt, dass er seine Kurse in den im Erdgeschoss des Hauptgebäudes gelegenen Hörsälen oder bei sich zu Hause geben musste. Über einen Zeitraum von 25 Jahren blieb Molien der qualifizierteste in Sibirien tätige Mathematiker. Fast alle Studenten und wissenschaftlichen Mitarbeiter der Mathematik und viele Physiker sowohl der Universität als auch der anderen in Tomsk ansässigen Hochschulen lernten in seinen der Differentialgeometrie, der analytischen Theorie der Differentialrechnung, der Integralrechnung, der mathematischen Physik oder der Theorie der elliptischen Funktionen gewidmeten mathematischen Seminaren. In seiner Tomsker Zeit setzte Molien neben der Lehre und Organisationsarbeit auch seine wissenschaftliche Forschungstätigkeit fort, wobei er sich vor allem der Algebra, der algebraischen Geometrie, der Theorie der Funktionen und einigen Fragen der angewandten Mathematik widmete. Ein Teil seiner Forschungsergebnisse wurde veröffentlicht, ein Großteil seiner sonstigen Forschung ist in unvollendeten Manuskripten erhalten. Unter seinen unveröffentlichten Arbeiten sind vor allem ein nahezu abgeschlossener systematischer Überblick über die Theorie hypergeometrischer Funktionen, ein der Theorie der Darstellung der Galoisgruppe gewidmetes Manuskript und ein unvollendeter Artikel zur Interpretation der Geometrie Lobatschewskijs zu nennen. Im Archiv Moliens sind zudem zahlreiche Notizen wissenschaftsmethodischer Art zu Fragen der Erforschung algebraischer Tangentialkoordinaten, der Theorien von Kurven dritter Ordnung und ihrer Wendepunkte u.a. zu finden. Seine Theorie der Darstellung von Gruppen mit Hilfe linearer Transformationen hatte große Bedeutung nicht nur für die Entwicklung der mathematischen Wissenschaften, sondern auch für die theoretische Physik. Molien begründete in Tomsk keine eigene wissenschaftliche Schule, die seine Ideen und algebraische Forschungsarbeit hätte fortsetzen können. Nichtsdestotrotz hatte das von Molien gegründete Geometrische Seminar großen Einfluss auf die Entstehung der Tomsker geometrischen Schule, was insbesondere seinem Seminar zur Differentialgeometrie zu verdanken war. Über mehrere Jahre leitete Molien den Sektor Nr. 1 (Mathematik) des Wissenschaftlichen Forschungsinstituts für Mathematik und Mechanik (NIIMM), wo er als ordentliches Mitglied eine mit dem Problem der Näherungsanalyse befasste Gruppe leitete und als verantwortlicher Redakteur der „Mitteilungen des NIIMM bei der TGU“ tätig war. Parallel war Molien zu dieser Zeit Professor am Tomsker Pädagogischen Institut, wo er über mehrere Jahre die staatliche Prüfungskommission leitete. Er war Mitglied der Deutschen Mathematiker-Vereinigung und einiger weiterer wissenschaftlicher Gesellschaften sowie Teilnehmer zahlreicher mathematischer Tagungen und Kongresse. Im Frühjahr 1927 beteiligte sich Molien gemeinsam mit Professor W.A. Melejew, den Oberassistentinnen N.A. Nikolskaja und E.N. Arabiskaja sowie der Assistentin W.A. Sokolowa an der Arbeit des Allrussischen Mathematikerkongresses und gehörte dessen Präsidium an. 1929 nahm er an der Sitzung des Rats des Gesamtsowjetischen Mathematikerverbands teil. 1934 wurde Molien anlässlich des 50. Jahrestags der Gründung der Universität mit einer Schreibtischgarnitur und einer Prämie in Höhe von 1.500 Rubel ausgezeichnet. Am 25. Mai des gleichen Jahres wurde ihm der Titel eines „Verdienten Wissenschaftlers“ verliehen. 1936 wurde Molien, ohne eine Dissertation verteidigen zu müssen, im wissenschaftlichen Rang des Doktors der Physikalisch-Mathematischen Wissenschaften bestätigt. Molien war Mitglied des Redaktionskollegiums der „Arbeiten der TGU“ (Serie „Mathematik und Mechanik“), gehörte dem Promotionsrat an und war Vorsitzender der Physikalisch-Mathematischen Gesellschaft der Staatlichen Universität Tomsk. Molien war insbesondere zu seiner Dorpater Zeit ein passionierter Schachspieler, nahm an Turnieren teil und löste und schrieb Schachaufgaben. 1895 schrieb er im Rahmen eines Kurses zur Wahrscheinlichkeitstheorie die als Manuskript erhaltene Arbeit „Zur Theorie der Preisverteilung bei Turnieren“. Sein besonderes Interesse galt der Theorie des Endspiels. Molien wurde mit den Orden der Hl. Anna 2. Grades (1909), des Hl. Stanislaw 2. Grades (1903), des Hl. Stanislaw 3. Grades (1899) und der Gedächtnismedaille der Herrschaft Zar Alexanders III. ausgezeichnet und stand im Rang eines Staatsrats (1893-1917). Molien war mit Elisa Karlowna, geb. Baranius, verheiratet, die in Dorpat als Fremdsprachenlehrerin tätig war, und hatte zwei Kinder. Der Sohn Benedikt (1895–1919) studierte an der Physikalisch-Mathematischen Fakultät der Universität Tomsk. Die Tochter Elisa (1897–1988) arbeitete als Dozentin am Lehrstuhl für Klassische Philologie der TGU.
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