REISNER, Michail Andrejewitsch (7. März 1868, Wilejka, Gouvernement Wilna – 3. August 1928, Moskau), Jurist, außerordentlicher Professor der Universität Tomsk.
Reisner wurde in der Familie eines aus dem baltischen Adel stammenden Beamten geboren, schloss ein Gymnasium in St. Petersburg ab und absolvierte die Jura-Fakultät der Universität Warschau mit einer Berechtigung für Doktorgrad (1892). 1893–1896 unterrichtete er Rechtswissenschaften an der Nowo-Alexandrowskij Hochschule für Agrar- und Forstwirtschaft. Nach der Meisterprüfung und Promovierung mit einer Dissertation um die Erlangung des Grades eines Jura-Meisters verließ er die Hochschule und begab sich für 2 Jahre für wissenschaftliche Zwecke nach Heidelberg (Deutschland). Nach der Rückkehr wurde Reisner am 1. September 1898zum amtierenden außerordentlichen Professor am Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre der Jura-Fakultät der Universität Tomsk ernannt. Seit dem 1. Juli 1899 wurde Reisner auf den Posten eines außerordentlichen Professors am Lehrstuhl für Staatsrecht verlegt, welchen er bis zum 1. April 1903 leitete. Vom 20. Oktober 1898 bis 1. November 1900 war er Sekretär der Jura-Fakultät. Seine wissenschaftliche Tätigkeit während der Arbeit an der Universität Tomsk war mit der Untersuchung der Religionsgeschichte, der Verhältnisse zwischen Kirche und Staat verbunden. Im März 1901 unterstützte Reisner offen einen Studentenstreik, weswegen er beim Betreuer des westsibirischen Bildungskreises L. I. Lawrentjew in Misskredit geriet. Im gleichen Jahr wurde er für wissenschaftliche Zwecke auf eine Jahres-Auslandsdienstreise entsandt. Ein Ergebnis dieser Reise bildete seine Forschungsarbeit „Die Selbstherrschaft und das Allgemeinwohl“, in der Reisner die Grundlagen des Absolutismus in Russland und im Westen kritisierte. Am 1. April 1903 wurde Reisner auf eigenen Antrag hin aus dem Amt entlassen und ihm wurde das Recht entzogen, in Russland zu unterrichten. Im gleichen Jahr zog er nach Deutschland. Im Ausland wandte sich Reisner dem Studium des Marxismus zu, fand Kontakt zu den Funktionären der deutschen Sozialdemokratie A. Bebel, K. Liebknecht und nahm den Briefwechsel mit W. I. Lenin auf. In der Emigration arbeitete Reisner mit der sozialdemokratischen Zeitung „Vorwärts“ zusammen. 1904 trat er als Sachverständiger im Königsberger Gerichtsverfahren gegen russische Sozialdemokraten in Sachen Transport illegaler Literatur nach Russland auf. Ende 1905 kehrte Reisner nach Russland zurück und organisierte in Narwa eine Gruppe aus Sozialdemokraten und Bolschewiken, trat der RSDAP bei. Während seines Aufenthalts in Petersburg arbeitete er mit der legalen bolschewistischen Zeitung „Nowaja Schisn“ (Neues Leben) zusammen und veröffentlichte eine Reihe seiner Beiträge. Bei einer erneuten Auslandsreise nahm Reisner das Angebot der Pariser Höheren Schule für soziale Wissenschaften an, deren Leitung zu übernehmen, und versuchte, auf ihrer Basis ein Zentrales sozialistisches Institut zu gründen. Nach einem Kurzaufenthalt in Deutschland kehrte Reisner nach Petersburg zurück, wo er 1907 als Lektor zu Vorlesungen an der Universität im Rang eines Privatdozenten am Lehrstuhl für politische Doktrinen zugelassen und zum Professor der Höheren Frauenkurse und später der Jura-Fakultät des Psychoneurologischen Instituts gewählt wurde, an der er gleichzeitig den Posten eines Sekretärs der Fakultät innehatte. Neben pädagogischer und wissenschaftlicher Betätigung führte Reisner wissenschaftliche sozialistische Propaganda in den Arbeiterkreisen. 1915–1916 gab er zusammen mit seiner Tochter Larissa Reisner (1895–1916), der späteren aktiven Teilnehmerin des Bürgerkrieges und sowjetischen Schriftstellerin, die Zeitschrift „Rudin“ heraus, die gegen den Krieg und Sozialpatriotismus auftrat. 1916 unternahm er eine Reise durch Sibirien mit Vorlesungen, bei denen er sich für die Beendigung des Krieges und für soziale Revolution einsetzte. Reisner befasste sich aktiv mit atheistischer Propaganda. Nach der Oktoberrevolution entwickelte Reisner in seinen wissenschaftlichen Arbeiten die Idee des proletarischen intuitiven Rechts in Form eines „revolutionären Rechtsgefühls“. Auf Vorschlag Lenins leitete er die Abteilung für gesetzgeberische Projekte im Volkskommissariat der Justiz. Reisner erstellte das Dekret über die Trennung von Kirche und Staat, nahm an der Erarbeitung der ersten sowjetischen „Verfassung der RSFSR“ (1918) teil. Im Volkskommissariat für Bildung wirkte er bei der Durchführung der Hochschulbildungsreform mit und war zusammen mit M. N. Pokrowskij Begründer der Sozialistischen (später Kommunistischen) Akademie. Während des Bürgerkrieges leitete Reisner die politische Abteilung zuerst bei der Wolga-Kama-Flotte und später bei der Baltischen Flotte. Nach dem Krieg befasste er sich überwiegend mit wissenschaftlicher Arbeit und unterrichtete in der Militärakademie der Roten Armee, am Psychoneurologischen Institut in Moskau. Er veröffentlichte eine Reihe von marxistisch basierten Arbeiten über Staat und Recht, in denen er insbesondere die Theorie der Staatlichkeit aus der Sicht eines sozialpsychologischen Ansatzes entwickelte, sowie im Bereich der eigentlichen sozialen Psychologie, antireligiösen Propaganda, Geschichte orientalischer Religionen.
Er war verheiratet mit Jekaterina Alexandrowna Chitrowo. Neben der Tochter hatte er den Sohn Igor (1898–1958), hab. Doktor der historischen Wissenschaften, der sich als renommierter Orientalist, einer der Begründer der sowjetischen Indien- und Afghanistanforschung etablierte. Reisner wurde mit einer Medaille zum Gedenken der Regierungszeit des Kaisers Alexander III. ausgezeichnet.
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