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Vasmer Max Julius Friedrich Richard (Maxim Romanowitsch) (1886–1962). Sprachwissenschaftler, korrespondierendes Mitglied der AdW der UdSSR

Rubrik: Biographische Beiträge (Personalien) / Vertreter des sozialen Bereichs (Bildung, Medizin)

VASMER, Max Julius Friedrich Richard (Maxim Romanowitsch), * 15. Februar 1886 in Sankt Petersburg, † 30. November 1962 in West-Berlin. Sprachwissenschaftler, Slawist, korrespondierendes ausländisches Mitglied der Akademie der Wissenschaften der UdSSR (1928).

Vasmer wurde als Sohn einer deutschen Kaufmannsfamilie in St. Petersburg geboren. Auch wenn sein Vater bereits als junger Geschäftsmann in die Hauptstadt des Russischen Reichs gekommen war, verstand er sich nie als Russen, hielt die kulturelle, historische und geistige Verbindung zu seiner Heimat immer aufrecht und war auch bemüht, diese Gefühle seinem Sohn von klein auf weiterzugeben, worauf auch dessen häusliche Erziehung bewusst ausgerichtet war.

Im Jahr 1903 nahm Vasmer nach Ablegung seiner Reifeprüfung am Petersburger Karl May-Gymnasium (Klassisches Privatgymnasium des Dr. Karl May) im Alter von 17 Jahren ein Studium an der Historisch-Philologischen Fakultät der Universität St. Petersburg auf, wo er sich unter der Leitung des herausragenden Sprachwissenschaftlers und korrespondierenden Mitglieds der Petersburger Akademie der Wissenschaften I.A. Baudouin de Courtenay der Erforschung der Slawistik und der Vergleichenden Sprachwissenschaft widmete. In Gestalt des Begründers der Kasaner Linguistischen Schule (Baudouin de Courtenay hatte seine wissenschaftliche Karriere an der Universität Kasan begonnen) fand Vasmer einen verständnisvollen und höchst engagierten Lehrer und fürsorglichen älteren Freund, der ihm durch seinen weiten wissenschaftlichen Horizont, seine unermüdliche Zielstrebigkeit und die Entschiedenheit, mit der er für seine Überzeugungen eintrat, zum Vorbild und Maßstab eines wahren Wissenschaftlers wurde. Ein weiterer universitärer Mentor des später bekannten Sprachwissenschaftlers war das Mitglied der Akademie der Wissenschaften A.A. Schachmatow, der Vasmers wissenschaftliche Weltsicht maßgeblich prägte. Viele Jahre später erinnerte sich Vasmer, für jeden einzelnen Tag dankbar zu sein, den er in Gesellschaft Schachmatows und seiner Mitstreiter verbracht hatte.

Im zweiten Studienjahr nahm Vasmer die Arbeit an seinen „Griechisch-Slawischen Studien“ auf, seiner ersten, den griechischen Lehnwörtern in der kirchenslawischen und russischen Sprache gewidmeten lexikographischen Arbeit. Das Ergebnis übertraf selbst die kühnsten Erwartungen. Noch bevor er seine Abschlussprüfungen ablegte, veröffentlichte Vasmer 1906 den ersten Band, dem in den Jahren 1907 und 1909 ein zweiter und dritter Band dieses bis zum heutigen Tag unübertroffenen Werks folgten, das den gerade einmal zwanzigjährigen Vasmer in wissenschaftlichen Kreisen schlagartig berühmt machen sollte.

 

Im Herbst 1907 schloss Vasmer mit einem Diplom der ersten Stufe sein Studium ab und blieb auf einstimmigen Beschluss des Wissenschaftlichen Kollegiums der Historisch-Philologischen Fakultät an der Petersburger Universität, um sich innerhalb eines Zeitraums von zwei Jahren „ohne Stipendium“ auf die Professoren- und Lehrtätigkeit am Lehrstuhl für Vergleichende Sprachwissenschaft vorzubereiten.

Vom 1. Mai bis zum 20. September 1909 hielt sich Vasmer zu wissenschaftlichen Studien im Ausland auf, wo er seine bereits während seines Studiums begonnene Forschungsarbeit fertigstellte, die er am 8. November des gleichen Jahres auf einer öffentlichen Sitzung der Historisch-Philologischen Fakultät der Universität Petersburg als Magisterdissertation vorstellte. Zwei Monate später wurde er als Privatdozent an die Universität Petersburg berufen, wo er eine eigene Vorlesungsreihe zur vergleichenden Sprachwissenschaft halten durfte. Am 1. Juni 1910 wurde der junge, aber bereits allseits anerkannte Slawist ein zweites Mal auf Kosten des Ministeriums für Volksbildung ins Ausland entsandt, wo er sich mit Bezügen von 2.000 Rubel pro Jahr auf die Professorenlaufbahn vorbereiten sollte.

Nahezu zeitgleich mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs erschien Vasmers nächstes großes Werk „Forschungen im Bereich der altgriechischen Lautlehre“, das er auch als Habilitationsschrift einreichte. Ein Jahr nach der Verleihung des akademischen Grades eines Doktors für Vergleichende Sprachwissenschaft durch den Rat der Petrograder Universität (Entscheidung vom 18. Mai 1915) wurde Vasmer auf den Posten des Oberassistenten am Kabinett für Experimentelle Lautlehre berufen und blieb zugleich Privatdozent der Universität.

Nach dem Sturz der Autokratie und der Einführung der demokratischen Ordnung verkündete der Minister für Volksbildung A.A. Manuilow den Beschluss der Provisorischen Regierung, ab dem 1. Juli 1917 an der Universität Saratow drei neue Fakultäten einzurichten, unter denen auch eine Historisch-Philologische Fakultät sein sollte. Um dort einen funktionierenden Forschungs- und Lehrbetrieb gewährleisten zu können, musste in erheblichem Umfang Personal eingestellt werden, das sich vor Ort kaum finden ließ, so dass man auf talentierte Nachwuchswissenschaftler oder bereits etablierte ältere Wissenschaftler aus Petrograd, Moskau, Tomsk oder anderen großen Universitätsstädten zurückgreifen musste, die sich bereit erklärten, die Geisteswissenschaften in Saratow von Grund auf aufzubauen, um die Fakultät zu einem echten „Wissenschaftszentrum der Region“ zu machen und ihr „ein eigenes wissenschaftliches Antlitz zu verleihen“.

So wurden die Lebenspläne zahlreicher russischer Wissenschaftler durch die Februarrevolution von 1917 und die folgenden stürmischen Ereignisse radikal verändert, was auch für Vasmers weiteres Schicksal gelten sollte, der am 1. Juli 1917 von der Provisorischen Regierung als Ordentlicher Professor am Lehrstuhl für Vergleichende Sprachwissenschaft der Universität Saratow bestätigt wurde.

In dieser Position leistete der vielseitig profilierte Linguist bis 1918 nicht nur im Universitätshörsaal große pädagogische Arbeit, wo er Vorlesungen zu allgemeinen und Fachthemen hielt („Einführung in die Sprachwissenschaft“, Altslawische Sprache“, „Polnische Sprache“), sondern hielt auch populärwissenschaftliche Vorträge für das geschichtsinteressierte Publikum vor Ort. So wurde Vasmer beispielsweise gebeten, einige öffentliche Vorträge für die Mitglieder der Saratower Wissenschaftlichen Archivkommission zu halten, für die er das folgende Programm vorschlug: 1) Wechselbeziehungen zwischen den indoeuropäischen Sprachen. Die Heimat der Indoeuropäer; 2) Wechselbeziehungen zwischen den ugro-finnischen Sprachen; 3) Turk- und Tatarsprachen. Die Bulgaren-Frage; 4) Die Heimat der Slawen. Abgesehen von diesen Aktivitäten unterrichtete er an der Universität die deutsche Sprache.

Später erwähnte Vasmer häufiger, seinen ein Jahr währenden Aufenthalt in Saratow sowohl mit Blick auf den Umgang mit den Professoren und deren Familien (als guter Klavierspieler lud Vasmer regelmäßig zu Hauskonzerten) als auch mit Blick auf seine wissenschaftliche Forschungstätigkeit ungeachtet aller revolutionärer Wirren als überaus angenehm und fruchtbar in Erinnerung zu haben. Hier bot sich ihm die Gelegenheit, höchst seltene Sprachen wie beispielsweise das Kalmückische zu hören, was ihm als Etymologen neue geistige Nahrung gab. In der Nähe Saratows gab es zudem eine deutsche Kolonie, in der sich Lieder und Bräuche bewahrt hatten, die zum Teil bis ins 18. Jahrhundert zurückgingen, was Vasmer dazu inspirierte, ein dialektales Wörterbuch der Wolgadeutschen zu verfassen. Parallel war er bemüht, seine Arbeit an einem russischen dialektalen Wörterbuch der Region Saratow voranzutreiben, dessen Endversion er später der Saratower Wissenschaftlichen Archivkommission überließ.

Nach der Oktoberrevolution, deren Ausbruch Vasmer in Finnland erlebte, stand für ihn vom ersten Augenblick fest, dass er nicht nach Saratow zurückgehen werde. Diese Entscheidung war zweifelsohne durch zahlreiche Faktoren begründet. Eine gewisse Rolle dürfte dabei auch ein Zwischenfall gespielt haben,  der sich am 8. November 1917 ereignete, als nach den Worten seiner Frau acht Bewaffnete in ihr Haus eindrangen, um mit Genehmigung der Militärsektion eine Hausdurchsuchung durchzuführen. Sie erklärten, dass nach Zeugenaussagen beim Treppenaufgang ein Mann mit Kosakensäbel und Revolver gesehen worden sei, der einige Male geschossen habe. Durch die Hausdurchsuchung wollten sie Druck auf den Hauseigentümer ausüben, dessen Sohn, ein Armeeoffizier, sich geweigert hatte, dem Befehl nachzukommen, Säbel und Revolver abzugeben, da ihm die Waffen von den Militärbehörden anvertraut worden seien. Schließlich nahmen die Eindringlinge zwei Kisten mit Wein und anderen Sachen mit. Dabei legten sich ein grobes Verhalten an den Tag, fragten Professor Vasmer, ob er eine Waffe besitze (er hatte glücklicherweise keinen Revolver), schauten sich im Zimmer um, aber durchsuchten es nicht.

So schockierend dieses Erlebnis gewesen sein mag, war es wohl allenfalls äußerer Anlass, für Vasmers Entschluss, Russland den Rücken zu kehren. Letztlich dürfte ihm schon zu diesem Zeitpunkt klar gewesen sein, dass es für ihn als Wissenschaftler wie für alle anderen Geistesarbeiter auch, schwierig oder schlicht unmöglich sein werde, in der revolutionären Atmosphäre zu leben.

Noch im Jahr 1918 bewarb sich Vasmer als Privatdozent an der Landwirtschaftlichen Universität Tartu. 1919 wurde er auf Empfehlung von I.A. Baudouin de Courtenay und dem Professor der Universität Helsinki I.Ju. Mikoal als Professor für Vergleichende Sprachwissenschaft an die Universität Tartu berufen. So kam Vasmer nach Dorpat (Tartu), wo er die estnische Sprache mit Hilfe des Evangeliums und einiger Bücher gestützt auf seine Kenntnis der finnischen Sprache recht schnell erlernte, so dass er seine Vorlesungen an der Universität Dorpat schon sehr bald in der Landessprache halten konnte. Zur Zeit seines Aufenthalts in Dorpat (1919–21) beteiligte sich Vasmer an der Rückführung der während des Ersten Weltkriegs nach Woronesch evakuierten Universitätsbibliothek, was infolge des am 2. Februar 1920 zwischen Estland und der RSFSR geschlossenen Friedensvertrags möglich wurde. Gleichzeitig ließ er seine private Bibliothek aus Saratow überführen, die später eine wichtige Rolle für die Entwicklung der Slawistik in Deutschland spielen sollte.

Im Jahr 1921 nahm Vasmer das Angebot an, als Ordentlicher Professor am Lehrstuhl für Slawische Philologie der Historisch-Philologischen Abteilung der Philosophischen Fakultät an die Universität Leipzig zu gehen. Zugleich wurde er Konrektor des Instituts für Indogermanistik, des Instituts für Südosteuropa und Orientwissenschaften und des Staatlichen Wissenschaftlichen Forschungsinstituts für Indogermanistik. 1925 ging Vasmer nach Berlin, wo er in den folgenden 20 Jahren Ordentlicher Professor am Slawischen Institut der Berliner Friedrich-Wilhelm-Universität sein sollte.

In diesen Jahren arbeitete Vasmer intensiv an seinen 90-bändigen „Beiträgen zur slawischen Philologie und Kulturgeschichte“, von denen er in den Jahren 1925-33 aber nur zwölf Bände fertigstellen und veröffentlichen konnte. Außerdem gab er in den Jahren 1932–36 die vierbändigen „Beiträge zur historischen Völkerkunde Osteuropas“ heraus, die dem Thema der Siedlung finnischer Stämme in Zentralrussland gewidmet waren.

In den Jahren 1937–38 war Vasmer Gastprofessor an der Columbia University in New York. Außerdem hielt er in den Jahren 1930–31 in Uppsala und Stockholm sowie in den Jahren 1937–41 in Sofia, Budapest, Bukarest und Helsinki Gastvorlesungen. Zur Zeit seines Aufenthalts in New York begann Vasmer, systematisch Einträge für sein Etymologisches Wörterbuch der russischen Sprache zu verfassen, dessen Veröffentlichung aber erst in den Jahren 1950-58 realisiert werden konnte.

Auch in den Jahren des Zweiten Weltkriegs arbeitete Vasmer unvermindert weiter. Ungeachtet zahlreicher kriegsbedingter Schwierigkeiten konnte er eine ganze Reihe wissenschaftlicher Arbeiten verfassen und veröffentlichen: „Die Slaven in Griechenland“ (1941), „Die alten Bevölkerungsverhältnisse Russlands im Lichte der Sprachforschung“ (1941), „Griechische Lehnwörter im Serbo-Kroatischen“ (1944) und andere. Im Gegensatz dazu veröffentlichte Vasmer unmittelbar nach Kriegsende in den Jahren 1945-46 nicht einen einzigen Artikel und konzentrierte sich ganz auf die Wiederherstellung seiner für das etymologische Wörterbuch angelegten Kartothek, die im Januar 1944 durch eine auf sein Haus abgeworfene Fliegerbombe zerstört worden war. Dem gleichen Angriff fielen auch die überaus reiche Bibliothek und zahlreiche Manuskripte des Wissenschaftlers zum Opfer.

Im Wintersemester 1946–47 hielt Vasmer Vorlesungen am Slawischen Institut und nahm seine Tätigkeit im Ostteil der Stadt wieder auf. Aber der zunehmende politische Konflikt und eine sich verschlimmernde Augenkrankheit brachten ihn dazu, schon bald eine Professur an der Universität Stockholm anzunehmen. 1949 kehrte er nach Deutschland zurück, um als Ordentlicher Professor den Lehrstuhl für Slawistik der Freien Universität in Westberlin zu leiten. Nach seiner Emeritierung im Jahr 1956 konnte Vasmer in den Jahren 1956 und 1958 zweimal Moskau besuchen: Bei seinem ersten Besuch nahm er an der Arbeit des Internationalen Slawistenkomitees teil, bei seinem zweiten Besuch kam er als Teilnehmer des IV. Slawistenkongresses.

Vasmers Verdienste um die Wissenschaft fanden sowohl in als auch außerhalb Russlands hohe Wertschätzung. Im Jahr 1909 wurde Vasmer für seinen als Magisterdissertation eingereichten dritten Teil der „Griechisch-Slawischen Studien“ von der Petersburger Akademie der Wissenschaften mit dem M.I. Michelson-Preis ausgezeichnet. 1923 wurde ihm die Ehre zuteil, zum Ordentlichen Mitglied der Philologisch-Historischen Klasse der Sächsischen Akademie der Wissenschaften gewählt zu werden. 1928 wurde er zum ausländischen korrespondierenden Mitglied der Akademie der Wissenschaften der UdSSR gewählt. 1961 wurde ihm die Ehrendoktorwürde der Philosophischen Fakultät der Universität Bonn verliehen. Außerdem wurde Vasmer zur Zeit seiner Tätigkeit in Wissenschaft und Lehre in Russland 1913 mit der Medaille „300. Jahre Herrschaft des Hauses Romanow“ in Bronze am Band ausgezeichnet.

Vasmer starb am 30. November 1962. Er ist auf dem Westberliner Friedhof der Evangelischen Gemeinde Nikolassee begraben. 1987 erhielt seine Grabstätte auf Beschluss des Berliner Senats den Status eines Ehrengrabs.

Schriften

Греко-славянские этюды. Ч. I // Изв. ИАН. ОРЯС. 1906. Т. 11, вып. 2; Ч. II. Греческие заимствования в старославянском языке // Там же. 1907. Т. 12; Ч. III. Греческие заимствования в русском языке // Сб. ОРЯС. 1909. Т. 86; Исследование в области древнегреческой фонетики. Пг., 1914; Этимологический словарь русского языка: В 4 т. М., 1964–1973. 

Literatur

Корш Ф. Е. Отзыв о сочинении М. Р. Фасмера «Греко-славянские этюды. III. Греческие заимствования в русском языке» // Сборник отчетов о премиях и наградах за 1909 г. (Премии имени М. И. Михельсона). СПб., 1912; Куркина Л. В. Макс Фасмер и его этимологический словарь // РР. 1990. № 3; Трубачев О. Н. Из работы над русским Фасмером // ВЯ. 1978. № 6; Он же. Послесловие ко второму изданию «Этимологического словаря русского языка» М. Фасмера // Фасмер Макс. Этимологический словарь русского языка. Т. 1. М., 1986; Дневник русской гражданской войны. Алексис Бабин в Саратове. 1917–1922 гг. // Волга. 1990. № 5; Kiparsky V. Max Vasmer zum Gedenken // Akademische Gedenkfeier der Freien Universität Berlin fur Max Vasmer am 6 Februar im Osteuropa-Institut an der Freien Universität Berlin; Woltner М. Max Vasmer // Zeitschrift fur slavische Philologie. H. 1. 1963. Bd. XXXI.

Autoren: Solomonov V. A.

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