BUNGE, Alexander von (28. Oktober/9. November 1851, Derpt – 19. Januar, 1930, Tallin), Zoologe, Arzt, Marineoffizier, Arktisforscher, Geheimrat (1912). Adliger.
Vater – Alexander Andrejewitsch Bunge (Alexander Georg von Bunge) (1803–1890), Botanik-Professor und Direktor des Botanischen Gartens der Universität Derpt, korrespondierendes Mitglied (1833), Ehrenmitglied (1875) der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in der Kategorie Botanik, Abteilung für Physik und Mathematik. Mutter – geborene Jelisaweta von Pistohlkors, gest. 1858). Er bekam seine Bildung in Derpt: Blumbergsche Elementarschule (1858–1861), Gymnasium (1861–1870) und Universität (1870–1877). Er befasste sich mit vergleichender Anatomie unter Leitung von Dr. Emil Rosenberg. Noch als Student publizierte er eine kleine Studie „Ueber die Nachweisbarkeit eines biserialen Archipterygium bei Selachiern und Dipnoërn“ (1874). 1877 machte er sein Doktorexamen (examen rigorosum). Nach der Verteidigung der Doktorarbeit „Beiträge zur Kenntnis der Entwicklung des Beckens bei Vögeln, Reptilien und Amphibien“ erhielt er den Doktorgrad der Medizin (1880). Von 1877 bis 1879 leitete er das Derpter Asyl für Geisteskranke, gegründet durch den Chirurgie-Professor Dr. E.F. Wahl, der mit Bunges Schwester Maria verheiratet war.
Ende 1880 übersiedelte er nach Sankt Petersburg. Seit dem 14./26. Januar 1881 wurde er beim Heilige-Maria-Magdalena-Krankenhaus eingestellt. Seit November 1881 war er zuerst außeretatmäßiger Beamte und dann medizinischer Oberbeamter am Departement Medizin beim Ministerium des Inneren. Am 12./26. Mai 1881 wurde er auf einer Sitzung der Russischen Geographischen Gesellschaft für die Teilnahme an der Lena-Expedition mit ausgewählt: als Arzt und Assistent des Leiters einer Wetterwarte, die in der Mündung des Lena-Flusses auf der Insel Sagastyrj gemäß dem Programm des Ersten Internationalen Polarjahres funktionierte (1882–1884). Während seiner Vorbereitungen zur Expedition führte Bunge das ganze Jahr 1881 Wetter-und Magnetfeld-Beobachtungen in drei Sternwarten (Pulkowo, Glawnaja-Phisitscheskaja- und Pawlow-Sternwarte), studierte die Sibirien-Reisen der Akademiemitglieder A.F. Middendorf, F.B.Schmidt, und L.I.Schrenk, besichtigte die zoologischen und geologischen Sammlungen der Akademie der Wissenschaften. Das bei der Lena-Expedition gesammelte Forschungsmaterial gestattete es, die Karte des Lena-Deltas zu präzisieren, bereicherte das Wissen über Flora und Fauna in Mündung und Delta eines der Hauptströme Sibiriens, über die Völker, die in dieser Region leben, über die geologische Geschichte der Erde, über deren uralte Bewohner – die Mammuts.
Am 23. April/5. Mai 1884 wurde er als Unterschiffsarzt in die 5. Flottenbesatzung abkommandiert.
Bunge leitete eine im Auftrag der Akademie der Wissenschaften ausgerüstete Expedition zu den Flüssen Jana, Indigirka und Kolyma sowie zu den Neusibirischen Inseln (1885–1886). Auf dieser Reise begleitete ihn ein neulicher Absolvent der Universität Derpt, Kandidat der Zoologie und künftiger Artktis-Forscher Baron E.W. Toll. Die Forschungen begannen mit der Untersuchung der Prijanski-Region (1885): Deren Route verlief den Jana-Fluss stromauf- und abwärts, einschließlich der Zuflüsse, und führte dann zu den Flüssen Dulgalach, Bytantschai und Adytscha. Als Ergebnis gewann man interessante Erkenntnisse zur Geologie, Paläontologie, Zoologie und Botanik. Danach ging es zu den Neusibirischen Inseln im Nordpolarmeer (1886). Dabei entdeckte man Überreste von uralten Säugetieren, analysierte den geologischen Aufbau der Inseln sowie die Zusammensetzung der sogenannten „Holzberge“, die durch Überreste von Pflanzen entstanden sind. Man fand interessante Erkenntnisse über die Eigenschaften der Frostböden und Bedingungen, bei denen darin Überreste von historischen Tieren erhalten bleiben. Nach Ansicht des damaligen Präsidenten der Akademie der Wissenschaften Dmitri Tolstoi lieferten die Forschungen von Bunge und Toll „derart reichhaltiges Material, wie es bis heute keine der bisherigen Polarexpeditionen gebracht hat“.
Im März 1887 kehrte Bunge zurück nach Petersburg und verbrachte ein Jahr mit der Arbeit beim Krankenhaus, der Auswertung aus der Prinjanski-Region gebrachter Sammlungen und Erstellung eines Berichtes über die Ergebnisse der Expedition. Mit einem Rundschreiben des Marinehauptstabs wurde er ab 19. April/1. Mai 1887 für ein Jahr der 8. Flottenbesatzung beigeordnet. Im Januar 1888 wurde er in den Fernen Osten als Oberarzt auf das Kanonenboot „Korejez“ („Koreaner“) abkommandiert. Danach tat er Dienst auf den Klippern „Rasboinik“ („Räuber“) und „Krejsser“ („Kreuzer“) (1889). Im Winter 1889–1890 wurde er zum Leiter einer kleinen Expedition, die ausgerüstet wurde, um den Kriegsschoner „Krejserok“ (Kreuzerchen) ausfindig zu machen, der an der Nordküste Japans verschwunden war. Auf dieser Schifffahrt besuchte er außer Japan auch China, Korea und die Kamtschatka bis hin zu Anadyr. Im Mai 1891 kehrte er nach Petersburg zurück und widmete ein ganzes Jahr der ärztlichen Praxis in den Krankenhäusern der Stadt.
Im August 1892 nahm er teil am II. Internationalen Zoologenkongress in Moskau und hielt dort einen Vortrag über die Expedition in die Prijanski-Region und zu den Neusibirischen Inseln. Zur selben Zeit befasste er sich neben medizinischer Praxis mit dem Sammeln von anthropologischem, zoologischem und botanischem Material; Bunge übergab alle zusammengestellten Sammlungen in die Akademie der Wissenschaften. Im Herbst 1892 wurde Bunge auf eine Dienstreise nach Neapel geschickt, wo er sechs Monate lang in einer zoologischen Station die pelagische Fauna erforschte sowie die Methoden zur Konservierung von Seetieren kennenlernte. Im Mai 1893 nahm er an einer Expedition zum Jenissej-Mündungsgebiet teil. Die Expedition wurde vom Marineministerium ausgerüstet, um Baustoffe für die Sibirische Eisenbahn zuzustellen.
Im Dezember 1893 wurde er zum Oberarzt auf dem noch nicht fertiggebauten Panzerschiff „Rjurik“ ernannt und blieb dort bis Herbst 1898. Während seiner Dienstzeit auf dem „Rjurik“ wurde er Zeuge bei der Eröffnnung des Nord-Ostsee-Kanals bei Kiel und machte eine Weltreise, von der er eine reichhaltige Sammlung von Seetieren für die Akademie der Wissenschaften mitbrachte. Im Januar 1898 besuchte er Port Arthur, nachdem er von den Schiffen der russischen Marine eingenommen wurde.
Ende 1898 wurde er auf Empfehlung von Akademiemitglied F.N. Tschernyschew zum Wirtschaftsleiter der künftigen russisch-schwedischen Höhere-Breiten-Expedition zwecks Gradmessungen auf Spitzbergen. In den verbliebenen sechs Monaten bis zur Abreise in die Arktis bestellte Bunge in Helsingfors den Bau der Häuser und einer Sternwarte, sorgte für die Bevorratung des nötigen Proviants und Equipments, rüstete medizinische Abteilung aus und bereitete sich darauf vor, Wissenschaftssammlungen vor Ort zusammenzustellen. Als Ergebnis verlief die Expedition reibungslos und war mit allem gut versorgt. Nach seiner Rückkehr nach Petersburg wurde er Anfang Oktober 1900 Zweigstellenleiter des Marinespitals in Ochta. Kaum hatte er alles mit der Spitzbergen-Expedition abgeschlossen, da wurde er schon zum Oberarzt des Kreuzers „Diana“ ernannt. Nunmehr bestand für ihn die Aussicht, in naher Zukunft zum Chefarzt des russischen Geschwaders im Pazifik befördert zu werden.
Im Herbst verlegte das ganze Geschwader einschließlich der „Diana“ in den Fernen Osten und kam nach langer und ermüdenden Seefahrt in Port Arthur an. Hier wechselte Bunge als Chefarzt zuerst auf das Panzerschiff „Poltawa“ und dann auf das Panzerschiff „Sewastopol“. An dessen Bord erlebte er den Ausbruch des Japankrieges. Er blieb in Port Arthur bis Kriegsende und gehörte Ende Dezember 1904 der russisch-japanischen Kommission an, die sich mit der Evakuierung kranker und verwundeter russischer Soldaten aus der Festung beschäftigte. Im März 1905 verließ er Port Arthur und ging nach Shanghai. Dort war er verantwortlich für die Organisierung des Seerücktransports in die Heimat jener Militärangehörigen, die im Ergebnis der Kriegshandlungen Nervenstörungen erlitten hatten.
Als er im Juni 1905 nach Russland zurückkehrte, erfuhrt er über die revolutionären Meutereien auf den Kriegsschiffen der Schwarzmeerflotte. Nach den Schrecken des Krieges, die er erlebt hatte, sträubte er sich mit ganzem Herzen gegen die Gewalt – umso mehr bei der Flotte, der er bereits so lange treu und redlich gedient hatte. Zugleich aber hielt er sich für nicht berechtigt, die am Aufstand Beteiligten zu richten. Er litt moralisch schwer darunter und sah als echte Rettung das Angebot, als Arzt an einer Expedition in das Jenissej-Mündungsgebiet teilzunehmen. Die Expedition wurde vom Verkehrsministerium ausgerüstet und sollte Frachtgüter für den Bau einer Eisenbahn an Ort und Stelle bringen. Für die Vorbereitungen bekam er nur 19 Stunden Zeit. Am 3./16. August 1905 ging Bunge auf eine neue Schiffsfahrt zur Küste des Nordpolarmeeres. Während der Expedition erfuhr er über den Abschluss des Portsmouth-Friedensvertrags (23. August/5. September 1905.) zwischen Russland und Japan. Als Teilnehmer der Belagerung von Port Arthur bekam er nach seiner Rückkehr nach Petersburg im Oktober 1905 einen 6-Monate-Urlaub. Den Urlaub verbrachte er größtenteils in Deutschland in Breslau und Kiel: Er wollte sich damit bekannt machen, wie das Kasernenleben organisiert ist.
Im Frühjahr 1906 wurde Bunge zum Chefarzt der Baltischen Flotte ernannt. 1907 nahm er teil am XIV. Internationalen Kongress über Hygiene und Demographie in Berlin und hielt dort einen Vortrag über die Hygiene auf den Schiffen. Im Winter 1908–1909 befand er sich auf einem der Schiffe des Baltischen Geschwaders im Mittelmeer und gehörte mit zu jenen russischen Seeleuten, die als erste den Einwohnern der italienischen Stadt Messina zu Hilfe kamen, die am 15./28. Dezember 1908 von einem schweren Erdbeben zu Schaden kamen. Im Sommer 1909 kehrte er nach Kronstadt zurück und wurde zum Chefarzt im Stab des Kommandeurs der Baltischen Flotte Admirals Nikolai von Essen ernannt. Auf diesem Posten blieb er bis zum 1./14. Mai 1914, als er wegen zu hohen Alters seinen Rücktritt einreichen musste.
Nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges leitete er zwei Privatlazarette (bis 1917 und 1918) und arbeitete anschließend als Arzt auf der Got-Seilfabrik in Petrograd. 1918 ging er ins Exil, siedelte sich auf seinem Gehöft in Estland an und beschäftigte sich mit Landwirtschaft. Im Frühjahr 1924 verkaufte er das Gehöft und lebte seitdem in Tallinn auf das bescheidene Einkommen aus dem Landverkaufserlös. Um diese Zeit beschäftigte er sich weitgehend mit literarischer Tätigkeit.
Mitgliedschaft an wissenschaftlichen Gesellschaften: Russische Geographische Gesellschaft (ordentliches Mitglied, Graf-Lütke-Medaille 1889), Naturforscher-Gesellschaft bei der Universität Derpt (korrespondierendes Mitglied), Hauptsternwarte Pulkowo, Estnische Literaturgesellschaft (Ehrenmitglied)
Auszeichnungen:
Russische Orden: Orden des Heiligen Wladimir 4. Grades (für die Expedition zur Lena-Mündung und den Neusibirischen Inseln), Orden des Heiligen Stanislaw 2. Grades (für die erste Weltreise 1886–1891 und die Expedition nach Nordjapan), Orden der Heiligen Anna 2. Grades (für die Jenissej-Expedition, 1893), Orden des Heiligen Wladimir 3. Grades (für Port Arthur, 1904), Orden des Heiligen Stanislaw 1. Grades (für Messina, 1908), Orden der Heiligen Anna 1. Grades (1913).
Auszeichnungen anderer Staaten: Offizierskreuz des Polarsternordens (Schweden, 1899), Stern und Kreuz der Italienischen Krone (1909), Messina-Gedenkmedaille (Italien, 1909).
Gedenkzeichen: Port-Arthur-Zeichen, Gedenkzeichen der Spitzbergen-Expedition.
Heiratete am 18. November/1. Dezember 1908. Ehefrau – Flora Michailowskaja (geborene Young; Witwe Michailowskaja; geb. 6./18. Januar – gest. ?). Keine Kinder.
Ueber die Nachweisbarkeit eines biserialen Archipterygium bei Selachiern und Dipnoërn // Jenaische Zeitschrift für Naturwissenschaft herausgegeben von der medicinisch-naturwissenschaftlichen Gesellschaft. 1874. 8. Band. S. 293–307; Nachrichten aus der Polarstation Lena-Mündung // Bulletin scientifique publié par l’Académie Impériale des Sciences de St.-Pétersbourg par son secrétaire perpétuel. 1883. Vol. XXVIII. P. 517–546; Naturhistorische Beobachtungen und Fahrten im Lena-Delta. Aus Briefen an den Akademiker L. v. Schrenck. Lu le 28 août. // Bulletin scientifique publié par l’Académie Impériale des Sciences de St.-Pétersbourg par son secrétaire perpétuel. Vol. XXIX. 1884. P. 422–476; Bericht ueber die Ausgrabung eines angeblich vollständigen Mammuthcadavers im Lena-delta im Sommer 1884 // Mélanges Biologiques tirés du “Bulletin Physico-Mathématique” et du “Bulletin” de l’Académie Impériale des Sciences de St.-Pétersbourg. 1884. Vol. XI. P. 581–622; Bericht ueber fernere Fahrten im Lena-Delta und die Ausgrabung eines angeblich vorständigen Mammuthcadavers. Aus Briefen an den Akademiker L. v. Schrenck. Lu le 23 avril 1885. // Bulletin scientifique publié par l’Académie Impériale des Sciences de St.-Pétersbourg par son secrétaire perpétuel. Vol. XXX. 1886. P. 228–282; Bunge A., Toll E. Die von der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften ausgerüstete Expedition nach den Neusibirischen Inseln und dem Jana-Lande // Beiträge zur Kenntnis des Russischen Reiches und der angrenzenden Länder Asiens. 3. Folge, 3. Band. 1887. S. 65–412; Предварительный отчет об экспедиции на Ново-Сибирские острова (читано в Общем собрании И.Р.Г.О. 13 мая 1887 г.). – [СПб., 1887]; О болезнях между инородцами северной части Якутской области. – СПб., 1888; Описание путешествия к устью р. Лены 1881–1884 гг. / Пер. с нем. Е. Гейнца // Тр. Русской полярной станции на устье Лены. Ч. 1. Астрономические и магнитные наблюдения за 1882–1884 гг. / Обработаны В.Е. Фусом, Ф.Ф. Миллером и Н.Д. Юргенсом; под ред. А.А. Тилло. – СПб.: Тип. Имп. АН, 1895. – Приложение.
Русские арктические экспедиции XVII–XX вв. Вопросы истории изучения и освоения Арктики / Под ред. М.И. Белова. – Л.: Гидрометиздат, 1964; Шенрок А. Александр Александрович Бунге // Климат и природа. – 1930. – № 4; Ширина Д.А. Экспедиционная деятельность Академии наук на северо-востоке Азии. 1861–1917 гг. – Новосибирск: Наука, 1993.
Документы из фондов Санкт-Петербургского филиала Архива РАН (СПбФ АРАН); Записки Имп. АН. Т. 65. 1891; Известия Имп. РГО. Т. 16. 1880; Т. 17. 1881; Т. 18. 1882; Т. 19. 1883; Т. 21. 1885; Т. 25. 1889; Baltisches Biographisches Lexikon.