WULFFIUS, Pawel Alexandrowitsch, * 15. April 1908 in St. Petersburg, † 16. September 1977 in Leningrad. Musikwissenschaftler, Quellenkundler und Volkskundler.
Wulffius war der Sohn des Historikers Professor Alexander Germanowitsch Wulffius (1880-1941) und seiner Ehefrau Elisa Maria (Jelisaweta Antonowna), geborene Schisel-Moskolo.
Der Petersburger Zweig der Familie Wulffius lässt sich auf den Rigaer Kaufmann Alexander Emmanuel Wulffius (1784-1868) zurückverfolgen, dessen Sohn German Alexandrowitsch (1823-1884), nachdem er als Unternehmer nicht hatte reüssieren können, aus Riga nach St. Petersburg umzog und im Eisenbahnamt zu dienen begann. Dessen Sohn Alexander Germanowitsch wiederum blieb nach Abschluss seines Studiums an der Petersburger Universität, um sich auf seine Magisterdissertation und Lehrtätigkeit vorzubereiten. Zum Zeitpunkt der Verteidigung seiner Dissertation (1915) war er bereits ein bekannter und anerkannter Mittelalterhistoriker und Spezialist für die Geschichte der europäischen religiösen Strömungen des Mittelalters, der Reformation und der Zeit der Aufklärung. Er lehrte als Professor an der St. Petersburger Universität, am Pädagogischen Fraueninstitut und an den Bestuschewschen Höheren Frauenkursen und unterrichtete parallel von 1903 an 25 Jahre lang an der Petrischule, deren Studienleiter er später wurde.
Pawel Alexandrowitsch Wulffius besuchte die Petrischule (1917-24) und lernte zugleich Geige und Klavier bei dem Organisten der St. Peter und Paul-Kirche R.K. Bertoldy. Von 1924 an studierte er an den Staatlichen Kursen für Musikgeschichte (später Höhere Staatliche Kurse für Kunstgeschichte) des Russischen Instituts für Kunstwissenschaft (umgangssprachlich auch als Subow-Institut bekannt, da es 1912 von Graf W.P. Subow in seinem Stadthaus am Isaak-Platz gegründet worden war). Nach Abschluss seines Studiums (das einem Hochschulstudium gleichgestellt war) (wissenschaftlicher Betreuer - Professor R.I. Gruber ) war Wulffius in den folgenden drei Jahren (1930-33) als Musikkritiker bei der Zeitschrift „Leben der Kunst“ tätig und lernte (auf Rat von P. Hindemith, der bei ihm zu Hause verkehrte) parallel an der 1. Zentralen Musikfachoberschule Kontrabass (bei M.W. Krawtschenko) und Komposition (bei P.B. Rjasanow) (mit Unterbrechungen von 1928-33). Als Kontrabassist spielte er im Orchester des Lichtspieltheaters „Olympia“ sowie vier Saisons auf Gastspielen in Sommerorchestern (Saporoschje, Jerewan, Siwerskaja). Seine ersten öffentlichen Schritte als Komponist machte er als Autor der Musik zu D. Charms Stück „Jelisaweta Bam“, das im Januar 1928 im Rahmen des von den Oberiuten veranstalteten Abends „Drei linke Stunden“ uraufgeführt wurde. Nach den Erinnerungen des Komponisten selbst wurde seine Musik ungeachtet des provokanten Charakters der Veranstaltung wohlwollend aufgenommen.
1933 nahm Wulffius ein Aspiranturstudium am Institut für Kunstgeschichte auf und schrieb unter der wissenschaftlichen Leitung von R.I. Gruber eine dem Thema „Franz Schubert und seine Lieder“ gewidmete Dissertation, die er am 23. Juni 1937 (als erster in Leningrad nach der Neuordnung der Höchsten Attestierungskommission) im Grünen Saal des Instituts vor dem gemeinsamen Rat des Instituts und des Konservatoriums verteidigte. Von 1936 an lehrte er am Lehrstuhl für Musikgeschichte des Konservatoriums (der vorübergehend dem Institut unterstellt war) und arbeitete parallel als Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Abteilung für Musikkultur und Musiktechnik der Staatlichen Ermitage, wo er an der Zusammenstellung des Katalogs der Instrumente beteiligt war (der späteren Ausstellung der Musikinstrumente der Völker der Welt am Institut für Kunstgeschichte) und eine aus dem 16. Jahrhundert stammende handschriftliche Liedsammlung der Geuzen entzifferte.
Im Herbst 1938 wurde Wulffius zusammen mit seinen beiden jüngeren Brüdern verhaftet und für angebliche antisowjetische Tätigkeit und Spionage zugunsten des faschistischen Deutschland zu drei Jahren Arbeitsbesserungslager verurteilt. Zuvor war im Februar 1937 bereits sein Vater A.G. Wulfius, der 1941 in Workuta verstarb, zum wiederholten Male verhaftet worden. Der mittlere Bruder Alexei starb 1942 in Magadan; der jüngste Bruder Andrei kehrte nach seiner Rehabilitierung 1956 nach Leningrad zurück. Da das Militärtribunal des Leningrader Militärbezirks, vor dem Wulffius Fall zunächst verhandelt wurde, keinen Straftatbestand finden konnte, wurde der Fall an die Sondersitzung beim NKWD weitergeleitet, die in ihrem Urteil erklärte, dass Wulfius bereits 1930 als Mitarbeiter des deutschen Konsulats für Spionage- und Sabotagetätigkeit angeworben worden und einer der Anführer einer konterrevolutionären Jugendgruppe gewesen sei, die Spionagetätigkeit und nationalistische konterrevolutionäre Propaganda betrieben habe. Aus den Reihen der Mitglieder dieser Gruppe habe er 1931-32 ein aus sieben Personen bestehendes Agentennetz aufgebaut, das bis 1936 Spionagematerial zusammengetragen, Sabotageakte vorbereitet und nationalistische Propaganda unter der Leningrader Bevölkerung betrieben habe.
Statt der drei Jahre, zu denen er ursprünglich verurteilt worden war, verbrachte Wulfius fast acht Jahre im Lager Usol (Solikamsk), bevor er im April 1946 nach der Formel „Minus 100“ auf Bewährung entlassen wurde und sich in Solikamsk (Gebiet Molotow, heute Gebiet Perm) niederließ. Dort organisierte und leitete er im Klub der Bergarbeiter des Solikamsker Kali-Kombinats einen Chor sowie ein Vokal- und Instrumentalensemble (dem viele Häftlinge der in der Umgebung von Solikamsk gelegenen Lager angehörten), führte eine Klavierklasse und gründete im Haus der Pioniere eine Kindermusikschule. Im Januar 1950 wurde er erneut verhaftet und zu unbefristeter Verbannung in die Siedlung Dolgi Most (Region Krasnojarsk) verurteilt. Wie schon nach Solikamsk folgte ihm auch dieses Mal seine Ehefrau Olga Georgijewna Kudrina-Wulffius in die Verbannung. Im Juli 1954 wurde Wulfius nach der Formel „Minus 15“ entlassen und ließ sich mit seiner Frau in der im Gebiet Wladimir gelegenen Siedlung Karabanowo nieder. Im November 1955 erhielt Wulfius schließlich eine Mitteilung des Militärtribunals des Leningrader Militärbezirks, der zufolge die Urteile der Sondersitzung beim NKWD (1939) und der Sondersitzung beim Ministerium für Staatssicherheit (1950) wegen fehlenden Straftatbestands aufgehoben wurden. Nach dem 20. Parteitag der KPdSU durfte er im Sommer 1956 nach Leningrad zurückkehren.
Am Konservatorium wurde Wulfius zunächst als Laborant aufgenommen und hielt später auf Vorschlag von F.A. Rubzow Vorlesungen zur russischen musikalischen Folklore, zur sowjetischen Musik und schließlich zur Geschichte der ausländischen Musik und zur westlichen Musikgeschichte. In den Jahren 1962-68 war er Leiter des Lehrstuhls für Musikgeschichte des Leningrader Staatlichen Konservatorium.
Wissenschaftliche Interessen: Geschichte der ausländischen Musik; die Werke L. van Beethovens, F. Schuberts und H. Wolfs; russische musikalische Folklore und Geschichte der russischen musikalischen Volkskunde; Geschichte des sowjetischen musikalischen Bildungswesens.
Wulffius war Mitglied des Sowjetischen Komponisten-Verbands seit 1935.