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Neuhaus Heinrich Gustavowitsch (1888–1964). Pianist, Doktor der Kunstwissenschaften, Professor am Moskauer Konservatorium, Volkskünstler Russlands

Rubrik: Biographische Beiträge (Personalien) / Vertreter des sozialen Bereichs (Bildung, Medizin)

Heinrich Neuhaus (russ. Genrich Nejgauz) – bedeutender sowjetischer Pianist und Klavierpädagoge, Professor des Moskauer Konservatoriums. Heinrich Neuhaus wurde am 12. April 1888 in Elizavetgrad, Gouvernement Cherson (bis 2016 Kirovograd, heute Kropivnickij, Ukraine) in einer Familie von professionellen Musi kern geboren. Sein Großvater stammte aus Kalkar am Niederrhein und war Klavierbauer, der in Kalkar eine kleine Klavierbaufabrik „Neuhaus & Söhne“ gegründet hatte. Sein Vater Gustav Neuhaus war ebenfalls Pianist und Musiklehrer. Gustav Neuhaus absolvierte das Kölner Konservatorium und ging, dem Rat seines Lehrers, des damaligen Direktors des Konservatoriums, Ferdinand Hiller, folgend ins Russische Zarenreich nach Elizavetgrad, um als Klavierlehrer für eine adelige Familie zu arbeiten. Dort heiratete er Olga Blumen feld, gleichfalls eine begabte Pianistin, deren Familie ebenfalls herausragende Musiker hervorgebracht hat (darunter den Komponisten, Pianisten und Dirigenten Felix Blumen feld, späteres Mitglied des „Mächtigen Häufleins“) und mütterlicherseits mit der Familie Szymanowski verwandt war. Heinrich Neuhaus war somit ein Vetter und guter Freund des bedeutenden polnischen Komponisten Karol Szymanowski, mit dem er in jungen Jahren

viel zusammen musizierte. Zusammen mit seiner Frau Olga gründete Gustav Neuhaus in Elizavetgrad eine private Musikschule, die als die beste in Südrussland galt. Auch die Kin der der Familien Blumenfeld und Szymanowski wurden dort unterrichtet und erhielten so den Grundstein für ihre weitere musikalische Entwicklung. Seinem Sohn Heinrich vermittelte der Vater ebenfalls die ersten Grundlagen des Klavierspiels.

Heinrich Neuhaus wuchs damit in einer multikulturellen Umgebung und im Umfeld außergewöhnlicher Musikerfamilien heran – Blumenfeld, Szymanowski und Taube. Zu Hause sprachen Heinrich und seine ältere Schwester Natalija (Tala) mit dem Vater Deutsch, mit der Mutter Polnisch. Wenn alle zusammenkamen, wurde Französisch gesprochen. Die gegenseitige Verwandtschaft der Familien Neuhaus, Blumenfeld und Szymanowski und deren Verbundenheit mit der deutschen, polnischen, ukrainischen und russischen Kultur prägten entscheidend auch die Entwicklung von Heinrich Neuhaus als Pianist und Lehrer sowie als Persönlichkeit insgesamt.

 Bereits im Alter von zwölf Jahren trat Heinrich Neuhaus zum ersten Mal in einem Konzert in seiner Heimatstadt auf. 1906 wurde er und seine Schwester Natalija nach Berlin geschickt, um beim berühmten Musiker Leopold Godowski Klavier zu studieren. Nach nur zehn Privatstunden endete jedoch die Ausbildung bei Godowski vorläufig, und für Neu haus begannen erfahrungsreiche sechs Jahre, in denen er viel in Europa reiste und unterschiedliche Impulse europäischer Kultur aufnahm. In diesen Jahren gab Neuhaus viele Konzerte in Städten Deutschlands, Italiens, Österreichs und Polens, die wohlwollend von Publikum und Kritikern aufgenommen wurden.  

1912 lud ihn Leopold Godowski zu seiner Meisterklasse an der Wiener Musikakademie ein, wo Neuhaus zwei Jahre später, 1914, sein Studium mit Auszeichnung abschloss. Der Beginn des Ersten Weltkrieges riss jedoch Gräben zwischen dem nun verfeindeten Russland und Österreich-Ungarn auf, was unter anderem auch dazu führte, dass Neuhaus’ Diplom der Wiener Musikakademie in Russland nicht anerkannt wurde. Er beschloss, nach Petrograd zu gehen, wo er am dortigen Konservatorium 1915 erneut alle Prüfungen bestand und das Diplom eines „freien Künstlers“ erhielt. Seine Darbietung im Kleinen Saal des Konservatoriums wurde ein bemerkenswertes Ereignis im musikalischen Leben Petrograds, das Neuhaus schnell zu einem der großen neuen Namen der Musikszene Petrograds machte.

 Im Herbst 1916 erhielt Neuhaus die Einladung des Rektors des Konservatoriums in Tiflis (nach 1936 Tbilisi), die Professur für Klavier zu übernehmen. Neuhaus nahm die Einladung an, unter anderem auch in der Hoffnung, von seinem Gehalt dort genug anzusparen, um wieder in eine der Hauptstädte, Petrograd oder Moskau, zurückzukehren. Die Jahre in Tiflis wurden von aktiver Konzerttätigkeit begleitet, die seine Reputation als außergewöhn licher Pianist bestätigten.

Von Oktober 1919 bis Oktober 1922 arbeitete Neuhaus als Professor am Kiever Konservatorium. Auch hier verband Neuhaus seine pädagogische Tätigkeit mit zahlreichen Konzerten, die verschiedene Programme (von Bach bis Prokof’ev und Szymanowski) umfassten.  Die Jahre des russischen Bürgerkriegs waren dabei eine schwere Zeit für die Familie Neu haus und ihre Verwandten. Szymanowskis gelang immerhin die Ausreise über Rumänien ins freie Polen. Neuhaus, der seine Eltern nicht verlassen wollte, blieb in Russland.  

1922 bestellte ihn und seinen Onkel Feliks Blumenfeld der Volkskommissar für Bildung Lunačarskij nach Moskau, wo Neuhaus die Stelle des Professors für Klavier am Konservatorium antrat. Seitdem begann seine 42-jährige pädagogische Tätigkeit an dieser traditions reichen Institution, die erheblich zur Anerkennung der sowjetischen Klavierschule in der ganzen Welt beitrug. In den Jahren 1935–1937 war Neuhaus Direktor des Moskauer Kon servatoriums, von 1935 bis 1941 und seit 1944 bis zu seinem Tod 1964 hatte er die Leitung des Lehrstuhls für Klavier inne. Seine Klavierklasse am Konservatorium erlangte über die Grenzen der Sowjetunion Bekanntheit. Zu seinen Schülern zählten unter anderem Emil Gilels, Svjatoslav Richter, Jakov Zak, Evgenij Malinin, Vladimir Krajnev, Aleksej Ljubimov, Vera Gornostaeva. Während viele seiner Schüler in den Nachkriegsjahren international Erfolge in der ganzen Welt feierten, durfte Neuhaus selbst nie wieder in den Westen rei sen. Auch blieb ihm die Möglichkeit verwehrt, nach Deutschland zu fahren, um seine dorti gen Verwandten, darunter auch seine Schwester Natalija zu besuchen.

1933 erkrankte Neuhaus schwer an Diphtherie. Als Nebenwirkung dieser Erkrankung entwickelte sich bei ihm die Parese, eine für einen Pianisten besonders schwere Krankheit – die unvollständige Lähmung des Ellbogennervs, der Neuhaus viele Jahre trotzte.  

Nach Beginn des Krieges wurde Neuhaus im November 1941 verhaftet und für acht Monate inhaftiert. Ihm wurde vorgeworfen, auf den Einmarsch der Deutschen zu warten, da er die ihm angebotene Evakuierung ablehnte. Tatsächlich versuchte Neuhaus in den Osten des Landes zu ziehen, wo sich bereits seine beiden Söhne befanden. Seine zweite Ehe frau lehnte jedoch die Evakuierung ab, da sie ihre kranke Mutter nicht verlassen wollte, die nicht mit evakuiert werden konnte. Im Juli 1942 wurde Neuhaus zwar aus dem Gefängnis entlassen, musste aber in die Verbannung am Nordural gehen, da ihm im Zuge der Untersuchung antisowjetische Gesinnung und Tätigkeit zur Last gelegt wurde. Nur dank des Ei satzes einiger einflussreicher Musiker durfte er in Sverdlovsk bleiben, wohin auch das Kie ver Konservatorium evakuiert wurde, und dort unterrichten. Erst im Oktober 1944 kehrte er nach Moskau zurück. Die Kriegsjahre hinterließen einen tiefen Einschnitt im Leben von Heinrich Neuhaus, der neben Verhaftung und Verbannung auch den Tod seines Sohnes Adrian, der nach langer Krankheit 1945 an Knochentuberkulöse starb, zu beklagen hatte.

Neuhaus betätigte sich auch publizistisch und schrieb seit 1935 regelmäßig Beiträge über aktuelle Probleme der Musik und Klavierkunst. 1958 erschien sein inzwischen klassisch gewordenes Werk „Die Kunst des Klavierspiels“, das mehrere Auflagen und Übersetzun gen in andere Sprachen erfuhr.  

1958 gab Neuhaus anlässlich seines 70. Geburtstages ein Abschiedskonzert im Großen Saal des Moskauer Konservatoriums. Bis zu diesem Zeitpunkt verband er seine pädagogische Tätigkeit am Konservatorium mit breitem Konzertrepertoire sowie dem Bestreben,  neue Musik kennenzulernen und neue Erkenntnisse zu gewinnen, die er auch in seine Un terrichtsklasse zu integrieren suchte (Paul Hindemith, Anton von Webern und die „Neue Wiener Schule“). Im Zuge dieser Auseinandersetzung schrieb er 1958 den Artikel „Über die zeitgenössische und klassische Musik“.

Das letzte Jahrzehnt seines Leben war vor allem der pädagogischen Tätigkeit gewidmet,  die für ihn zur einzigen Möglichkeit wurde, aktiv am künstlerischen Leben teilzuhaben. Bereits seit den 1930er Jahren ging von seiner Klavierklasse eine enorme Anziehungskraft aus, die auf seinem Verständnis von Kunst und Musik und seiner Art, dies zu vermitteln, gründete. Für viele angehende und professionelle Pianisten war Neuhaus zum Symbol der hohen Kunst schlechthin geworden. Das Wesentliche an der Pädagogik von Neuhaus war das Streben nach dem Klangbild, das seiner Meinung nach in der Seele des Künstlers entsteht und wichtiger als die technische Vollkommenheit sei. Er verband die Fähigkeit, dem Klavier einen individuellen, schönen Klang zu entlocken, mit der hohen inneren Kultur des Künstlers, weshalb der Klang immer das Produkt der ganzen Persönlichkeit eines Pianisten sei. Dieses Verständnis bestimmte auch seine eigenen Musikinterpretationen, als Päd agoge jedoch versuchte er weniger seine Erfahrungen auf die Schüler zu übertragen als viel mehr deren eigene Kapazitäten für den künstlerischen Ausdruck zu wecken. Der Ein fluss von Heinrich Neuhaus auf seine Umgebung war enorm, sein Tod 1964 markierte das Ende einer ganzen Epoche der sowjetischen Musikkultur.  

Mit seinem künstlerischen und pädagogischen Schaffen leistete Neuhaus einen immensen Beitrag zum Musikleben des Landes und zur Bedeutung der berühmt gewordenen Klavierschule der Sowjetunion. Seine Schüler verschiedener Generationen erlangten sowohl als konzertierende Pianisten als auch spätere Pädagogen Anerkennung und Respekt.

Literatur

Razumovskaya, Maria: Heinrich Neuhaus. A Life beyond Music. Rochester 2018; Niemöller, Klaus / Koch, Klaus-Peter (Hg.): Heinrich Neuhaus (1888–1964) zum 110. Geburtsjahr. Aspekte interkultureller Beziehung in Pianistik und Musikgeschichte zwischen dem östlichen Europa und Deutschland. Konferenzbericht Köln 23.-26. Oktober 1998. Sin zig 2000; Richter, Elena (Hg.): Genrich Nejgauz. Vospominanija o G.G. Nejgauze. Stat’i [Heinrich Neuhaus. Erinnerung an H. Neuhaus]. Moskva 2002.

Archive

Genrich Nejgauz: Ob iskusstve fortep’iannoj igry. Zapiski pedagoga. [Über die Kunst des Klavierspiels]. Moskva 1961; Genrich Nejgauz: Razmyšlenija, vospominanija, dnevniki. Izbrannye stat’i. Pis’ma k roditeljam [Gedanken, Erinnerungen, Tagebücher. Ausgewählte Aufsätze. Briefe an die Eltern]. Hg. von Stanislav Nejgauz. Moskva 1975 (Neuausgabe: 2000).  

Autoren: Donig Natalia, (Passau)

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