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PFEFFER Nora Gustavowna (1919–2012), Lyrikerin, Übersetzerin, Autorin von Essays und Aufsätzen

Rubrik: Biographische Beiträge (Personalien) / Vertreter des sozialen Bereichs (Bildung, Medizin)

PFEFFER, Nora Gustawowna, * 31. Dezember in Tiflis, † 15. Mai 2012 in Köln. Dichterin, Übersetzerin, Essayisten, Autorin von Reportagen und literarischen Skizzen, eine der bekanntesten russlanddeutschen Kinderbuchautorinnen. Mitglied des Schriftstellerverbands der UdSSR seit 1974 und des deutschen Schriftstellerverbands seit 1994.

Pfeffers Vater Gustaw Jakowlewitsch war Direktor der deutschen Schule in Tiflis, die sie auch selbst besuchte. Nach Abschluss der Schule und Besuch der Musikschule am Tifliser Konservatorium studierte Pfeffer am Tifliser Pädagogischen Fremdspracheninstitut Anglistik. Nach der im Jahr 1935 erfolgten Verhaftung ihrer Eltern durch den NKWD wurde sie von der Hochschulleitung aufgefordert, sich von ihren als „Volksfeinde“ geltenden Eltern zu distanzieren, gab dem Druck aber nicht nach und wurde für ein Jahr vom Studium suspendiert. Nach Abschluss der Hochschule (als externe Studentin machte Pfeffer auch einen Abschluss in Germanistik) unterrichtete sie am Staatlichen Medizinischen Institut in Tiflis Deutsch und absolvierte parallel ein Fernstudium am 1. Moskauer Staatlichen Fremdspracheninstitut.

1939 heiratete Pfeffer Georgi Schotajewitsch Karalaschwili, den Enkel des Katholikos der Georgischen Kirche. 1940 wurde ihr Sohn Rewas geboren. Im Juni 1941 ging ihr Mann an die Front.

1943 wurde Pfeffer verhaftet und war bis 1952 als „Volksfeindin“ in Lagerhaft. Ihr minderjähriger Sohn Rewas (Rufname Bubi) wuchs bei einer Bekannten des Katholikos auf. 1943 wurde ihr Mann an der Front schwer verwundet. Pfeffer selbst verbrachte zehn Jahre im Lager Norilsk (Dudinka) und wurde anschließend für fünf Jahre nach Nordkasachstan verbannt, wo sie zunächst als Kalbsbäuerin tätig war und später an der Schule des Rayons Deutsch unterrichtete. Ihren Sohn sah Pfeffer erst nach 14 Jahren Trennung wieder. Rewas Karalaschwili wurde später Professor für Germanistik und Doktor der Philologischen Wissenschaften. Pfeffer überlebte ihren einzigen Sohn, der 1989 verstarb.

Nach ihrer Freilassung lebte Pfeffer zunächst in Dschambul und später in Alma-Ata (Kasachstan). Da ihr Hochschuldiplom verloren war, nahm sie im Jahr 1953 am Fremdspracheninstitut in Alma-Ata erneut ein Studium auf.

Pfeffer arbeitete als Lehrkraft an der Kasachischen Staatlichen Al Farabi-Universität, als Direktorin des deutschen Programms des Kasachischen Radios und als Korrektorin der deutschen Redaktion des Verlags „Kasachstan“. Nach ihrer Pensionierung lebte sie in Russland (Moskau), wo sie für die Zeitung „Neues Leben“ tätig war. 1992 emigrierte sie nach Deutschland (Köln).

Von 1958 an veröffentlichte sie regelmäßig, nicht zuletzt als Kinderbuchautorin. Nora Pfeffer schrieb sowohl für Kinder als auch für erwachsene Leser. 1998 kam ihr Gedichtband „Zeit der Liebe“ mit Unterstützung des Internationalen Verbands der deutschen Kultur im Moskauer Verlag „Gotika“ heraus. Ihre Gedichte erschienen in den Zeitschriften „Weiten“ und „Völkerfreundschaft“, im Almanach „Heimatliche Weiten“, in den Sammelbänden „Mein Kasachstan“ (Alma-Ata, 1978), „Erschaffung“ (Moskau, 1981), „Ich habe teil an deinem Schicksal“ (Alma-Ata, 1990) und „Unterirdische Glocken“ (Moskau, 1997) sowie in den Anthologien „Zwischen Kirgisen-Michel und Wolga. Wiege unserer Hoffnung“ und „Der argwöhnischen Sonne entgegen“. In Deutschland veröffentlichte Pfeffer unter anderem in den Publikationen “Ost-West-Dialog”, “Wir selbst. Russlanddeutsche Literaturblätter” (1996, 1997, 1998) und “Heimatbuch der Deutschen aus Russland” (2000).

Pfeffers lyrisches Ich ist ein Mensch, der viel erleidet und viel mitleidet. Pfeffer schreibt über ihre eigenen und die Leiden ihrer Nächsten zu ihrer Zeit in den Stalinschen Lagern, leidet mit allem Belebten und Unbelebten mit. Die biographische Nähe des lyrischen Ich zur Autorin selbst ist klar zu erkennen – sowohl mit Blick auf die Familiengeschichte und die Wendepunkte des Lebens (so geht es in Pfeffers Gedichten u.a. um die Etappen der Lagerhaft und den Tod des erwachsenen Sohnes) als auch Aussehen („sonnenhaarig“, „goldhaarig“, „blauäugig“) und einzelne Figuren (in dem Buch figurieren eine ganze Reihe von Verwandten, Freunden und Bekannten Pfeffers). Pfeffer schreibt über Georgien, Kasachstan und Russland. Parallelen zum Leben der Autorin zeigen sich auch bei den Titeln der Gedichte („Mein Bruder Kurt“), den Orten und Zeiten sowie in den Widmungen („Kriegstribunal Tbilissi, 5.-12. April 1944. Für Tschabua Amiredshibi“ in dem Gedicht „Gericht“).

Ihr eigenes Erleben vermittelt Pfeffer oft durch die Darstellung der „Innenwelt“ von Tieren, Pflanzen, Gegenständen und Geschehnissen. So etwa in dem Gedicht „Das Tannenbäumchen“, dessen Heldin einem im Hof liegenden „sterbenden“ Tannenbaum aus Mitleid die fröstelnden Zweige ablöst, um sie im Haus zu wärmen - so wie auch der Mensch auflebt, wenn er seelische Wärme erfährt. Oder in ihrem Gedicht „Kleiner Regenwurm“, in dem sich ein blinder und stummer Regenwurm sein Leben lang zum Nutzen der Erde durch das Erdreich bohrt, um schließlich der Grund für den Tod eines Fisches zu werden. Die überraschenden Vergleiche des Lebens eines Menschen mit dem eines Blattes, einer Blume, einer Tanne, eines Waldes, eines Tonkrugs, einer Schneeflocke oder anderen Gegenständen lassen einen besonderen Typus von „Gedicht über ein Ding“ entstehen.

In ihren Gedichten „An die Wolgadeutschen“ und „Den Namenlosen“ wendet sich Pfeffer ihren Landsleuten zu, die mit ihr das schwere Los des unschuldig Schuldigen teilen.

Pfeffers Lyrik weist eine vielseitige Tonalität auf und ist reich an liedhaften Intonationen. In ihrem Gedicht „Das Lied“ besingt sie die Entstehung eines Liedes, das aus einem „nicht auszudrückenden Schweigen geboren“ wird und dann „leise im Herbstwind zu klingen“ und „aus dem Herzen“ der Heldin zu fließen beginnt. In ihrem „Lied von der Wüste“ singt die Autorin eine Hymne auf die Wüste, die dem Menschen nach allem Leiden das Gefühl einzigartiger Freude schenkt. Das lyrische Ich eilt einem paradoxen Wunsch folgend in die Wüste, um dort das Gefühl der Harmonie der Oase zu erleben

Eines der bekanntesten Werke Nora Pfeffers ist „Die Ballade vom Besen“, die ganz dem Genre entsprechend narrativ ist: Das lyrische Ich hat im Lager unglaubliches Leid zu ertragen, nimmt sich aber einen phantasierten Zauberbesen zum Helfer, mit dessen „Stäbchen“ sie auf dessen Weisung den Dreck von Tisch und Boden kratzt und sich durch diese Arbeit davor bewahrt, den Verstand zu verlieren. Die Autorin gibt ein breites Spektrum der Gefühle, Gedanken und Ahnungen des Gegenstands wider: Der Besen hat Angst um die Heldin, erahnt, wie ihr zu helfen ist, wird sich bewusst, dass sich in Gestalt des imaginierten Sohnes der Wahnsinn anschleicht, verrät seine Vorgeschichte (der Hirsehalm war sich nicht seiner Bestimmung bewusst, dass er zum Gefängnisbesen verarbeitet zu Lagerhaft verurteilt wird).

In ihren lyrischen Miniaturen (Fünf- und Dreizeiler) stellt Nora Pfeffer oft ungewöhnliche visuelle Paradoxien dar.

Pfeffers Essays und Reportagen sind meist den Russlanddeutschen gewidmet. Einen besonderen Stellenwert hat dabei das Thema der im Kaukasus lebenden Deutschen – so etwa in ihrem sowohl auf Deutsch als auch auf Russisch erschienenen Text „Das jüngste der kaukasischen Völker. Zur Geschichte der Russlanddeutschen in Transkaukasien“, der von Deutschen handelt, die aus Schwaben in den Kaukasus übersiedelten und in dieser multiethnischen Region eine sichtbare Spur in Kultur, Kunst, Wissenschaft und Alltag hinterließen.

Neben ihrer eigenen literarischen Tätigkeit übersetzte Pfeffer auch zahlreiche Werke russischer, georgischer und kasachischer Autoren ins Deutsche (A. Barto, B. Sachoder, N. Domowitow, R. Sef, A. Schmidt, B. Dubrowin, M. Pljazkowski, O. Suleimenow, T. Muldagalijew, A, Schamkenow, A. Taschibajew, Sch. Sain, K. Koladse, M. Lebanidse). Pfeffers Gedichte wurden ins Russische, Kasachische und Lettische übersetzt.

Pfeffer ist zweifache Trägerin des M. Dulatow-Preises des Kasachischen Schriftstellerverbands (1981, 1990).

Veröffentlichungen

Nur nicht heulen über Beulen. Verserzählungen für Kinder. – Alma-Ata: Kasachstan, 1968; Otars Entdeckungsreise. Versmärchen für Kinder. – Alma-Ata, 1971 (на немецком языке), Рига: Лиесма, 1976 (на латышском языке), Алма-Ата, 1977 (на русском языке); Vom Blöken, Bellen und Brüllen. Plaudereien über die Sprache. Sprachspiele. – Alma-Ata: Kasachstan, 1972; Sonnenregen. Kinderlieder (Musik: Oskar Geilfuß). – Alma-Ata: Kasachstan, 1973; Viele gute Kameraden. Poem für Kinder. – Alma-Ata: Kasachstan, 1974; Mick, das Äfflein. Versmärchen für Kinder. – Alma-Ata: Kasachstan,  1976 (на немецком языке), 1980 (на русском языке); Fraki, der Kaiserpinguin. 15 lustige Tiermärchen. – Alma-Ata: Kasachstan, 1978; Фраки, императорский пингвин. – A-Ата: Казахстан, 1987; Jahresringe. Lyrik. Alma-Ata, 1984; Meister Hase ist Friseur. Kinderbuch. – Alma-Ata: Kasachstan, 1981, 1989; У синего Черного моря. – А.-Ата, 1984; Wie Schauzerl sich selbst wiederfand. Verse und Märchen. Alma-Ata, 1987; Volksmärchen aus Thailand. Übersetzung aus dem Englischen. Alma-Ata: Kasachstan, 1989; Meine Freunde. Nachdichtungen. – Alma-Ata, 1990; Чем дальше, тем ближе. Стихи. – А-Ата, 1991; Samenkörner der Tage. Nachdichtungen. – Alma-Ata, 1992; Dicke Freunde / Михаил Пляцковский. Пер. Н. Пфеффер. – Лейпциг, 1994; Wie viel goldene Teller...? Spielend lernen mit der russlanddeutschen Dichterin Nora Pfeffer. Lieder, Spiele und Rätsel für Kinder. – Bonn, 1994, 1995, 1998; Sieben junge Schnatterenten. – Bonn, 1994, 1998; Zeit der Liebe/Время любви. Lyrik, deutsch und russisch. Moskau: Gotika, 1998; Heimatbuch der Deutschen aus Russland. Ab 1954 bis 2012 / Herausgegeben von der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland. – Stuttgart, 2000. – S. 238-243; Roman Seff. Durch die Straße streunt ein Hund / Пер. с руского на немецкий Норы Пфеффер. – Lage-Horte: BMV Verlag Robert Burau, 2001; Der Tanz der Schmetterlinge. – Lage-Horste, BMV Verlag Robert Burau, 2002; Нора Пфеффер в оригинале и переводах. Подарок для Норы. Книга для чтения / Сост. и общ. ред. докт. филол. наук Е. Зейферт; подгот. текст. докт. филол. наук Е. Зейферт и И. Скворцовой. – М.: МСНК-пресс, 2011.  (Nora Pfeffer in Original und in Übersetzungen. Ein Geschenk für Nora. Lesebuch / Zusammenstellung und Gesamtlektorat: Dr. habil. E. Seifert; Textvorbereitung: Dr. habil. E. Seifert und I. Skwortzowa.  – Moskau: IVDK-Medien, 2011.)

Literatur

Keil, R. Russland-Deutsche Autoren. Weggefahrten, Weggestalter 1764-1990. – Mannheim, 1994.  – S. 156; Паульзен, Н. Russlanddeutsche Literatur: Etappen der Entwicklung/Российская немецкая литература: этапы развития. – Славгород, 1995. – С. 30, 33; Бельгер, Г.К. Российские немецкие писатели. Биобиблиографический справочник. – А-Ата, 1996. – С. 86-87; Mangold, W. Russlanddeutsche Literatur. Lesebuch. – Stuttgart, 1999. – S. 10, 178-179, 322-323; Warkentin, I. Geschichte der russlanddeutschen Literatur. – Stuttgart: Landsmannschaft der Deutschen aus Russland e.V., 1999. – S. 149, 156, 194, 210, 273, 325, 357; Moritz, A. Lexikon der russlanddeutschen Literatur. – Düsseldorf: Klartext Verlag, 2004. – S. 141-144; Бельгер, Г.К. Нора // В поисках своего ритма. О судьбе, литературе и культуре российских немцев. – Алматы, 2006. – С. 237-281; Корсунская, А. Не печалью единой… // Deutsche Allgemeine Zeitung. Die Deutsch-Russische Wоchenzeitung in Zentralasien. – 13.02.09. – S. 5. [Немецкая всеобщая газета. Немецко-русский еженедельник в Центральной Азии. – 13.02.09. – С. 5]; Зейферт, Е.И. Нора Пфеффер: визитная карточка // Подарок для Норы //  Нора Пфеффер в оригинале и переводах. Подарок для Норы. Книга для чтения / Сост. и общ. ред. докт. филол. наук Е. Зейферт; подгот. текст. докт. филол. наук Е. Зейферт и И. Скворцовой. – М.: МСНК-пресс, 2011. – C. 6-7. (Seifert E.I. Nora Pfeffer: Steckbrief // Nora Pfeffer in Original und in Übersetzungen. Ein Geschenk für Nora. Lesebuch / Zusammenstellung und Gesamtlektorat: Dr. habil. E. Seifert; Textvorbereitung: Dr. habil. E. Seifert und I. Skwortzowa.  – Moskau: IVDK-Medien, 2011. – S. 8–9.); Курт, В. Твои немцы, Россия. Russland, deine Deutschen. Очерки истории российских немцев. – Augsburg: Waldemar Weber Verlag, 2012. – С. 390, 391, 396, 510; Мартенс, О.К. О, если я б смогла все удивление детства вдруг воскресить в себе. O könnte ich dass grosse Wunder meiner Kindheit im mir noch einmal auferstehen lassen // Навстречу недоверчивому солнцу. Антология литературы российских немцев второй половины XX – начала XXI в. Der misstrauischen Sonne entgegen/ Anthologie der Literatur der Russlanddeutschen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – Anfang des 21. Jahrhunderts / Под общ. ред. Е.И. Зейферт. Ред. коллегия: О.К. Мартенс, С.В. Ананьева, Г.И. Данилина и др. – М.: МСНК-пресс, 2012. – C. 412–416.

Autoren: Zejfert E.

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