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BANGERDT , (Saumorje, Samorje, Saus-Morje, Ussowka), heute Dorf Saumorje (Rayon Engels, Gebiet Saratow)

Rubrik: Geschichte und Geographie der Ansiedlung der Deutschen im Russischen Reich, in der UdSSR und GUS / Geschichte der Ansiedlung
Pastor Johann Wilhelm Allendorf (1827-1990)
Evangelisch-lutherische Kirche (1859) im Dorf Bangerdt
Dorf Saumorje. Erhaltene deutsche Häuser. Foto Je. Moschkow. 2009.
Dorf Saumorje. Gebäude des früheren Küster- und Schulmeisterhauses. Foto Je. Moschkow. 2009.
Dorf Saumorje. Standort der heute nicht mehr erhaltenen lutherischen Kirche. Foto Je. Moschkow. 2009.

BANGERDT (Saumorje, Samorje, Saus-Morje, Ussowka), heute Dorf Saumorje (Rayon Engels, Gebiet Saratow). Auf dem linken Ufer der Wolga, in unmittelbarer Nähe des Flusses gelegene frühere deutsche Kolonie. Von 1871 bis Oktober 1918 gehörte das Dorf zum Amtsbezirk Stepnoje (Bezirk Nowousensk, Gouvernement Samara).

Nach der Gründung der Arbeitskommune der Wolgadeutschen war Bangerdt bis 1941 Verwaltungszentrum des im Kanton Marxstadt gelegenen gleichnamigen Dorfsowjets. In den Jahren 1922-27 gehörte das Dorf zum Kanton Kukkus (Wolskoje). Im Zuge der 1927 in der ASSR der Wolgadeutschen vollzogenen Gebiets- und Verwaltungsreform wurde der Kanton Wolskoje (Kukkus) aufgelöst und an den Kanton Rownoje (Seelmann) angeschlossen. 1935 wurde der Kanton Kukkus wiedererrichtet.

Die deutsche Kolonie Bangerdt wurde am 1. Juli 1767 gegründet. Für die Anwerbung der Kolonisten und den Aufbau der Kolonie waren die aus Genf bzw. Frankreich stammenden Privatunternehmer Pictet und le Roy verantwortlich.

Ihren Namen erhielt die Kolonie zu Ehren ihres ersten Vorstehers Johann Heinrich Bangerdt, eines 28-jährigen Ackerbauern aus Nassau-Usingen (Niederlauken), der mit seiner Frau Katharina-Dorothea nach Russland gekommen war. Bis 1798 war ein Kolonist namens Eckhert Vorsteher. Ihren zweiten offiziellen russischen Namen Saumorje erhielt die Kolonie durch den die Benennung der deutschen Kolonien regelnden Erlass vom 26. Februar 1768.

Gründer der Kolonie waren 32 aus Hessen, Darmstadt, Sachsen Nassau, Preußen und anderen deutschen Ländern stammende Familien. Die ersten 83 Kolonisten waren größtenteils Lutheraner. Nur zwei Personen (Heinrich Beil und seine Ehefrau) gehörten dem reformierten Zweig des Protestantismus an. Hinzu kamen sieben Katholiken, die infolge der Besonderheiten des Ansiedlungsprozesses nicht in einer eigenen, konfessionell homogenen Kolonie angesiedelt werden konnten: der aus Darmstadt stammende Johann Boneker mitsamt Ehefrau und zwei Kindern, der aus Kurmainz stammende Johannes Heiland mitsamt Ehefrau sowie der aus Nassau-Weilburg stammende Junggeselle Johann Just. Angesichts dieser Konstellation waren gemischt-konfessionelle Ehen für sie Zukunft absehbar.

Jeder Kolonist erhielt vom Fürsorgekontor in Saratow 25 Rubel, ein Pferd und eine Kuh. Die meisten ersten Übersiedler waren Ackerbauern und entsprachen somit hinsichtlich ihrer in der der alten Heimat ausgeübten Beschäftigung in vollem Maße dem Hauptziel der Anwerbung der Kolonisten, die in den Grenzregionen Russlands gelegenen Steppengebiete landwirtschaftlich zu erschließen. Neben den Ackerbauern waren unter den ersten 83 Kolonisten ein Schneider, ein Bäcker, ein Fleischer und ein Strumpfweber.

1774 wurde die Kolonie Opfer eines mit Raub, Gewalt und Totschlag einhergehenden Überfalls der aufständischen Truppen Jemeljan Pugatschows, die in den Jahren 1773-75 in den Wolgasteppen höchst aktiv waren. Die im Zuge dieses gegen die Leibeigenschaft gerichteten Aufstands vollzogenen Plünderungen fügten den Kolonien einen erheblichen Schaden zu, konnten ihre Entwicklung aber nicht dauerhaft aufhalten.

Die Kolonisten waren vor allem im Ackerbau und in der Mehlproduktion tätig und bauten Weizen, Roggen, Hafer, Gerste und Kartoffeln an. Die Zeitgenossen wiesen immer wieder auf den Umstand hin, dass die deutschen Kolonisten im Vergleich zu den russischen Bauern einen deutlich höheren Lebensstandard aufwiesen. Nach den Daten der Revision von 1834 waren den Kolonisten Landstücke in der Größe von 15 Desjatinen pro Kopf zugeteilt. Mit dem rapiden Bevölkerungswachstum verringerte sich die Größe der zugeteilten Landstücke erheblich, was immer zu Konflikten führte. So zog sich ein Rechtsstreit, der die zwischen den Kolonisten und den Bauern der Dörfer Mordowoje und Achmat umstrittenen Besitzverhältnisse einiger auf den Inseln gelegener Landstücke klären sollte, über mehrere Jahrzehnte hin. Der Landmangel hatte auch zur Folge, dass die Kolonisten immer wieder versuchten, jenseits der Grenzen ihrer Siedlungen Tochtersiedlungen zu gründen. 1861 wurden eigenmächtige Umsiedlungen aufgrund eines Erlasses des Fürsorgekontors mit Vagabundentum gleichgesetzt und streng bestraft. Aber selbst davon ließen sich die Kolonisten nicht aufhalten. 1866 mussten die in Saumorje ansässigen Kolonisten schriftlich bestätigen, über das Verbot einer Übersiedlung in den Kaukausus in Kenntnis gesetzt worden zu sein.

Mit der Zeit entstanden in Bangerdt unterschiedliche Gewerbebetriebe. Anfang des 20. Jahrhunderts gab es im Dorf eine der größten in den deutschen Kolonien des Wolgagebiets bestehenden Sonnenblumenpressen. In Bangerdt wurden Häckselmaschinen produziert, die zur Bearbeitung von Fasern in der Textilindustrie genutzt wurden.

Die Machtübernahme der Sowjets markierte in der Geschichte der deutschen Siedlungen einen drastischen Einschnitt. Im April 1921 wurden mehrere Dorfbewohner repressiert, weil sie einen antisowjetischen Aufstand organisiert hatten. In den Jahren der Sowjetmacht gab es im Dorf eine Konservenfabrik. Es wurde eine Maschinen-Traktoren-Station aufgebaut und eine landwirtschaftliche Kreditgenossenschaft gegründet. Am 5. September 1941 wurden alle Bewohner des Dorfes in das Gebiet Nowosibirsk deportiert. 1942 wurde das Dorf in Saumorje umbenannt.

Schule und Erziehungswesen

Wie in allen anderen lutherischen Kolonien gab es auch in Bangerdt schon seit der Gründung der Kolonie selbst eine kirchliche Gemeindeschule, in der Kinder im Alter von 7-15 Jahren lernten. Eine große Rolle spielte für Hebung des Bildungsniveaus der Dorfbewohner die in den 1880er Jahren eingerichtete Semstwo-Schule, an der die Kinder Russisch, Religion, Lesen, Schreiben, Rechnen und Singen lernten und Grundkenntnisse in Naturkunde, Geographie und Geschichte erwarben. An der Schule, die von insgesamt 50 Kindern besucht wurde und zwei Lehrer hatte, lernten die Schüler vier Jahre in zwei Zügen.

Nach den von Pastor J. Erbes, dem Probst des linksufrigen Wolgagebiets, zum Stand des deutschen Schulwesen zusammengetragenen Daten besuchten im Jahr 1906 in Bangerdt nicht alle Kinder im schulpflichtigen Alter auch wirklich eine Schule. 49 Kinder blieben dem Unterricht fern, weil ihre Eltern arm und auf die tägliche Mithilfe ihrer Kinder in Handwerk oder Gewerbe angewiesen waren. Im Jahr 1906 besuchten 113 Jungen und 100 Mädchen die Semstwo-Schule, an der zu diesem Zeitpunkt fünf Lehrer tätig waren. In der Kirchenschule lernten 143 Jungen und 189 Mädchen. Beide Schulen wurden aus Mitteln der Kirchengemeinde unterhalten. Nach 1917 wurden die kirchliche Gemeindeschule und die Semstwo-Schule geschlossen und zu einer Grundschule zusammengelegt.

Religionszugehörigkeit der Bevölkerung und Kirche

Die Kolonisten waren größtenteils evangelisch-lutherischer Konfession und in einigen Fällen reformiert. Bis 1821 gehörte die Kolonie Bangerdt zum Pfarrsprengel Warenburg (Priwalnoje), nach 1821 wie auch die Gemeinden Kukkus (Wolskaja), Jost (Popowkina), Lauwe (Jablonowka) und Bangerdt (Saumorje) zum lutherisch-reformierten Pfarrsprengel Kukkus (Wolskaja), wobei die Gemeindemitglieder der zentralen Gemeinde Kukkus (Wolskaja) reformiert waren. In den ersten Jahren nach der Gründung der Kolonie wurden die Gottesdienste im Schul- und Bethaus abgehalten, das den Status einer Filialkirche hatte. Das genaue Datum seiner Errichtung ist nicht bekannt, aber es wurde in den ersten ein bis zwei Jahren nach der Ansiedlung der Kolonisten auf Staatskosten gebaut, wobei die Kolonisten die entsprechenden Mittel innerhalb einer Frist von zehn Jahren zurückzahlen mussten. Im Jahr 1815 errichteten die Kolonisten bereits auf eigene Kosten ein neues Bethaus. Da sie in den ersten Jahren keinen großen Wert auf architektonische Feinheiten legten, waren alle zu dieser Zeit in den Kolonien errichteten Gebäude äußerst schlicht gehaltene Holzbauten, so dass sich auch das neue Bethaus nur durch seine Größe und die abgerundeten Fenster von den umliegenden Wohnhäusern unterschied. Als das Gebäude später einer umfassenden Reparatur bedurfte, wurde es vollständig umgebaut. 1859 entstand in der Kolonie eine vergleichsweise kleine Holzkirche, die 684 Gläubigen Platz bot. Die zweistöckige Kirche war im zeittypischen Stil des Spätklassizismus errichtet, hatte Ausgänge an den Seitenachsen und im Obergeschoss kleine Galerien mit Gestühl für die Gemeindemitglieder. Im Innenraum war das Kirchengestühl in vier durch Längs- und Quergänge geteilten Quadraten aufgestellt. 1890 wurde die Kirche restauriert. Neben der Kirche befand sich ein geräumiges Küsterhaus mit einem Anbau und einer Leichenhalle.

Die letzten in der Gemeinde Bangerdt tätigen Pastoren der Pfarrgemeinde Kukkus wurden allesamt repressiert. Pastor Johann Erbes (*1868, †1932), der in den Gemeinden des Pfarrsprengels seit dem Jahr 1902 Gottesdienste abgehalten hatte, wurde 1930 wegen angeblicher antisowjetischer Tätigkeit und Spionage verhaftet und starb in einem bei Semipalatinsk gelegenen Lager. Ebendort starb auch Otto Heinrich Harff (*1872, † nach 1932), der 1930 verhaftet und unter der Anschuldigung, konterrevolutionäre Tätigkeit betrieben zu haben, ins Lager gebracht wurde. Am 15. September 1934 informierte die Kommission für Kultfragen beim Zentralexekutivkomitee der ASSR der Wolgadeutschen das Präsidium der ASSR der Wolgadeutschen, dass das Gebäude der Holzkirche in Bangerdt von den Gläubigen schon nicht mehr genutzt werde und es in der Kirche zwei Glocken mit einem Gewicht von 16 Pud gebe, weswegen die Frage der Umwandlung des Kirchengebäudes und Abnahme der Glocken besonders geprüft werden müsse. Die Kommission teilte ferner mit, dass das hölzerne Bethaus des Dorfes schon nicht mehr als Gotteshaus genutzt werde und zu einem Volkshaus umgebaut worden sei. Am 19. Mai 1934 wurde die Kirche auf Weisung des Präsidiums des Zentralexekutivkomitees der ASSR der Wolgadeutschen offiziell geschlossen, da sich angeblich 608 der 723 Mitglieder der Kirchengemeinde für eine Schließung ausgesprochen hatten. Die Kirchenglocken wurden abgenommen und „für eine Traktoren-Kolonne“ eingeschmolzen.

Liste der Pastoren

Pastoren der Pfarrgemeinde Warenburg (Priwalnaja), die in Bangerdt Gottesdienst hielten: Pohlmann (1770-77), Friedrich Konrad Strenge(l,r) (1785-88), Bernhard Wilhelm Litfas (1797-1821), in den Jahren 1777-85 und 1788-97 hatte die Gemeinde keinen Pastor. Pastoren der Pfarrgemeinde Kukkus, die in Bangerdt Gottesdienst hielten: Johann Martin Otto (1820-35), Hilfspastor Peter August Pundani (1836-40). Ernst Wilhelm David (1840-52), Johannes Wilhelm Michail Allendorf (1854-1900), Johannes Erbes (1902-30), Otto Heinrich Harff (1929-30).

Entwicklung der Einwohnerzahlen: 1767 lebten in Bangerdt 83 ausländische Kolonisten, 1773 waren es 102, 1788 - 149, 1798 - 206, 1816 - 239, 1834 - 444, 1850 - 706, 1859 - 899, 1883 - 1.222 und 1889 - 1.233 Personen. Nach den Daten der Volkszählung von 1897 hatte Bangerdt 1.281 Einwohner, von denen 1.257 Deutsche waren. Nach Stand zum Jahr 1904 lebten im Dorf 1.985 und im Jahr 1910 - 1.844 Personen. Nach den Daten der Allrussischen Volkszählung von 1920 lebten im Dorf 1.623 Personen, die ausnahmslos alle Deutsche waren. 1921 gab es 156 Sterbefälle und 82 Geburten. Nach den Daten des Gebietsamts für Statistik des Autonomen Gebiets der Wolgadeutschen hatte Bangerdt zum 1. Januar 1922 1.336 Einwohner. Laut Volkszählung von 1926 lebten im Dorf 1.430 Personen.1931 hatte das Dorf 1.632 Einwohner, die allesamt Deutsche waren.

Das Dorf heute. Heute Dorf Saumorje (Rayon Engels, Gebiet Saratow). Nach Fläche und Einwohnerzahl ist das heutige Dorf Saumorje deutlich kleiner als die frühere deutsche Kolonie Bangerdt. Von dem im Ortskern gelegenen früheren Kirchengebäude sind nur noch Reste der Grundmauern in einer Höhe von 5-7 Backsteinen erhalten. Die Umrisse des Altarraums und die Seitenschiffe sind noch gut zu erkennen. Neben den Resten des Kirchenfundaments steht das verfallene Gebäude des Küsterhauses mit einem dreieckigen Giebel. Seine Fenster sind mit Brettern vernagelt, hinter dem abfallenden Putz scheinen die alten Backsteine hervor. In früheren Zeiten befand sich an dieser Stelle der zentrale Dorfplatz, in dessen Umgebung auch heute noch einige von den Kolonisten errichtete Holzhäuser aus dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert erhalten sind.

Literatur

Герман А.А. Немецкая автономия на Волге. 1918–1941. Часть II. Автономная республика. 1924–1941. – Саратов, 1992–1994; Дитц Я. История поволжских немцев-колонистов. – М., 1997; Князева Е.Е., Соловьева Ф. Лютеранские церкви и приходы ХVIII – ХХ вв. Исторический справочник. – СПб., 2001. Часть I; Amburger E. Die Pastoren der evangelischen Kirchen Russlands vom Ende des 16. Jahrhunderts bis 1937. Ein biographisches Lexikon. – Martin-Luther-Verlag, 1988; Einwanderung in das Wolgagebiet: 1764–1767 / Hrsg.: Alfred Eisfeld. Bearb.: Igor Pleve. Bd. 1. Kolonien Anton – Franzosen. Göttingen: Göttingenger Arbeitskreis, 1999.

Archive

ГАСО. Ф. 180. Оп. 1. Д. 2332; Оп. 4. Д. 35; ГИАНП. Ф. 163. Оп. 1. Д. 1; Д. 890. Л. 6, 77; Д. 934. Л. 223; Д. 1062. Л. 300; Ф. 1831. Оп. 1. Д. 299. Л. 40.

Autoren: Lizenberger O.A.

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