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CANEAU (Kano, Kana, Andrejewka), heute Dorf Andrejewka (Rayon Marx, Gebiet Saratow)

Rubrik: Geschichte und Geographie der Ansiedlung der Deutschen im Russischen Reich, in der UdSSR und GUS / Geschichte der Ansiedlung
Heutiger Zustand des Dorfes Andrejewka, Gebiet Saratow (ehemals Caneau). Foto Je. Moschkow,2010
Heutiger Zustand des Dorfes Andrejewka, Gebiet Saratow (ehemals Caneau). Foto Je. Moschkow,2010
Heutiger Zustand des Dorfes Andrejewka, Gebiet Saratow (ehemals Caneau). Foto Je. Moschkow,2010
Heutiger Zustand des Dorfes Andrejewka, Gebiet Saratow (ehemals Caneau). Foto Je. Moschkow,2010
Heutiger Zustand des Dorfes Andrejewka, Gebiet Saratow (ehemals Caneau). Foto Je. Moschkow,2010

CANEAU (Kano, Kana, Andrejewka), heute Dorf Andrejewka (Rayon Marx, Gebiet Saratow); im linksufrigen Wolgagebiet am rechten Ufer des Flusses Maly Karaman, 320 Werst von Samara, 165 Werst von der Bezirksstadt Nikolajewsk und fünf Werst vom Hauptort des Amtsbezirks Katharinenstadt an der Handelsstraße von Nikolajewsk nach Saratow gelegene deutsche Kolonie. Von 1871 bis Oktober 1918 gehörte das Dorf zum Amtsbezirk Katharinenstadt (Bezirk Nikolajewsk, Gouvernement Samara). Nach der Gründung der Arbeitskommune der Wolgadeutschen war Caneau bis 1941 Verwaltungszentrum des im Kanton Marxstadt gelegenen gleichnamigen Dorfsowjets, zu dem 1926 neben dem Dorf selbst die Vorwerke Metschetka, Susly, Roorgraben und Lesnaja Storoschka gehörten.

Die Kolonie wurde am 7. Juni 1767 von dem Anwerber Baron Caneau de Beauregard gegründet, von dessen Vornamen sich auch der Name der Kolonie herleitet. Aufgrund des die Benennung der deutschen Kolonien regelnden Erlasses vom 26. Februar 1768 behielt die Siedlung den Namen Caneau. Im Zuge der nach 1915 im Land entfesselten antideutschen Propagandakampagne wurde das Dorf in Andrejewka umbenannt.

Die Gründer der Kolonie waren 87 größtenteils aus Hessen, Dessau, Isenburg, Zerbst und anderen deutschen Ländern stammende Familien (283 Kolonisten). Weitere 56 Familien sowie sieben unverheiratete Männer und eine Witwe wurden bis zur im Jahr 1768 erfolgten Gründung weiterer Kolonien vorübergehend in Caneau untergebracht. Bei den 283 ersten dauerhaften Kolonisten handelte es sich größtenteils um Lutheraner. 21 Familien (66 Personen) waren reformiert. Wie in vielen anderen Kolonien wurden auch in Caneau neben den Protestanten einige wenige Katholiken angesiedelt. So waren drei der insgesamt 90 in Caneau ansässigen Familien (acht Personen) katholisch. Auch die „vorübergehend“ in der Kolonie untergebrachten Siedler waren mehrheitlich Protestanten, hatten aber neben zwölf reformierten Familien (29 Personen) mit 28 Familien (86 Personen) auch einen recht hohen katholischen Anteil.

Unter den ersten 90 Kolonisten waren vier Schuhmacher, drei Müller, jeweils zwei Zimmermänner, Bürstenbinder und Schneider, ein Maurer, ein Tischler, ein Schmied, ein Brotbäcker, ein Jäger, ein Schlosser, ein Hutmacher, ein Leinweber, ein Husar, ein Korporal sowie als Vertreter eher seltener Berufe auch ein Porzellanmacher und ein Arzt. Alle übrigen ersten Übersiedler waren Ackerbauern. Nach den Daten der Revision von 1834 waren den Kolonisten Landstücke in der Größe von 15 Desjatinen pro Kopf zugeteilt. Nach den Daten der 1857 durchgeführten 10. Revision besaßen 480 männliche Kolonisten Land in der Größe von etwa 6,3 Desjatinen pro Kopf.

Eine nicht unerhebliche Rolle spielte für die von den Kolonisten betriebene Landwirtschaft Ende des 18. Jahrhunderts der Tabakanbau. So wurden in Caneau allein im Jahr 1780 1.574 Pud Tabak geerntet. Unter den von den Bewohnern Caneaus ausgeübten Gewerken nahm das Flechthandwerk eine besondere Rolle ein. Die Namen der Vorsteher der Kolonie sind größtenteils nicht überliefert. Aus den uns zur Verfügung stehenden Quellen ist nur bekannt, dass in den 1810er Jahren ein gewisser Lichtner und in den 1820er Jahren ein gewisser Lang Vorsteher war. Nach Angaben des Zentralen Statistik-Komitees gab es 1859 in der Kolonie 90 Höfe und eine Mühle. Nach Angaben des Statistik-Komitees des Gouvernements Samara gab es im Dorf 1910 235 Höfe und eine Ziegelei.

In den Jahren der Sowjetmacht gab es im Dorf einen Genossenschaftsladen, eine landwirtschaftliche Kooperationsgenossenschaft, eine Landmaschinenkooperative, eine Lesehütte sowie die Kolchosen „Bolschewik“, „Stoßbrigadler“ und „Komsomolez“. Im März 1921 kam es im Dorf zu einem Aufstand, dessen Ziel darin bestand, „das werktätige Volk vom Joch der kommunistischen Gewaltherrscher und Kommissare“ zu befreien. Auch wenn es den Aufständischen zwischenzeitlich gelang, die Sowjetmacht aus Caneau zu vertreiben, wurde der Aufstand im April 1921 niedergeschlagen. Hunderte Aufständische wurden von der auswärtigen Sitzung des Revolutionstribunals verurteilt und erschossen. Im Februar-März 1930 provozierte die mit zahlreichen Gewaltakten einhergehende Entkulakisierungskampagne den massenhaften Widerstand der Dorfbewohner, die die zur Aussiedlung bestimmten Kulakenfamilien vier Tage lang mit Forken und Äxten verteidigten und erst durch den Einsatz des Militärs überwunden werden konnten. Im September 1941 wurden die Deutschen aus Caneau deportiert, das seit 1942 den Namen Andrejewka trägt.

Schule und Erziehungswesen. Die erste Kirchenschule entstand praktisch zeitgleich mit der Gründung der Kolonie. Bis zum im Jahr 1795 erfolgten Bau der ersten Kirche fanden Gottesdienste und Schulunterricht im Schul- und Bethaus statt. Im Dezember 1823 prüfte das Fürsorgekontor die Frage „Über die der Gemeinschaft der Kolonie Caneau zu erteilende Genehmigung, ein neues Schulhaus zu bauen“, das dann in den Jahren 1824-25 errichtet wurde. Die Namen der in der Kolonie tätigen Schulmeister sind größtenteils nicht überliefert. In den 1820er Jahren war ein Kolonist namens Bachmann als Schullehrer tätig, dessen Name in den Dokumenten überliefert ist, weil ihn das Fürsorgekontor 1829 wegen „Trunksucht und amoralischen Verhaltens“ überprüfte und wenig später durch einen anderen Lehrer ersetzte. Mitte des 19. Jahrhunderts wurde die kirchliche Gemeindeschule als Kirchenschule akkreditiert. In den 1870er Jahren wurde im Dorf eine Semstwo-Schule eröffnet.

Nach den von Pastor J. Erbes, dem Probst des linksufrigen Wolgagebiets, zum Stand des deutschen Schulwesens zusammengetragenen Daten waren im Jahr 1906 307 Einwohner des Dorfes Kinder im Alter von 7-15 Jahren, die zum Besuch einer Elementarschule verpflichtet waren. Allerdings besuchten nicht alle Kinder im entsprechenden Alter auch wirklich eine Schule. 33 Kinder blieben dem Unterricht fern, weil ihre Eltern arm oder auf die tägliche Mithilfe ihrer Kinder in Handwerk und Gewerbe angewiesen waren. Im Jahr 1906 besuchten 80 Jungen und 118 Mädchen die kirchliche Gemeindeschule, in der ein einziger Lehrer tätig war. An der Semstwo-Schule lernten 76 Jungen und kein einziges Mädchen bei ebenfalls einem Lehrer. Beide Schulen wurden aus Mitteln der Kirchengemeinde unterhalten. Die Semstwo-Schule war lange Zeit in einem angemieteten Privathaus untergebracht, bis die Gemeinde im März 1910 beschloss, auf eigene Kosten ein neues Schulgebäude zu errichten. In den Jahren der Sowjetmacht wurden beide Schulen geschlossen und durch eine vierklassige Grundschule ersetzt.

Religionszugehörigkeit der Bevölkerung und Kirche. Die Kolonisten waren evangelisch-lutherischer Konfession. Die Gemeinde Caneau gehörte bis 1905 zum Pfarrsprengel Nord-Katharinenstadt und wurde anschließend mit den lutherischen Gemeinden Boisroux und Ernestinendorf sowie der reformierten Gemeinde Philippsfeld zum am 29. Oktober 1905 gegründeten evangelisch-lutherischen Pfarrsprengel Boisroux zusammengeschlossen.

In den ersten Jahren des Bestehens der Kolonie fanden die Gottesdienste im Schul- und Bethaus statt. Die 1795 in Caneau erbaute Kirche war eines der ersten lutherischen Gotteshäuser im Wolgagebiet, das die Kolonisten auf eigene Kosten errichteten. Es handelte sich um einen Holzbau, der den Status einer Filialkirche hatte. Im Jahr 1832 wurde in Caneau eine neue Holzkirche errichtet, die mit der Zeit aber auch nicht mehr allen Gemeindemitgliedern Platz bieten konnte. Am 7. Juli 1885 fand in Caneau die feierliche Grundsteinlegung eines neuen Kirchengebäudes statt, zu der neben den Pastoren der benachbarten Pfarrsprengel auch zahlreiche weltliche Gäste geladen waren. Geleitet wurde die Zeremonie von Gotthilf Karl Friedrich Walber, dem Pastor der Pfarrgemeinde Nord-Katharinenstadt. Das am 5. Juli 1887 geweihte neue Kirchengebäude bot Platz für 800 Betende, so dass nahezu alle Bewohner der Kolonie auf den geschnitzten Eichenbänken Platz fanden. In der Kolonie gab es zudem ein Schul- und Bethaus.

Der letzte im Pfarrsprengel tätige Pastor Johannes Blum, der 1913 in die Gemeinde gekommen war, emigrierte 1918 aus Sorge vor Repressionen nach Deutschland. Pastor Gotthold Hahn, der zu einem früheren Zeitpunkt in der Gemeinde gedient hatte, wurde nach Angaben des deutschen Außenministeriums Anfang der 1930er Jahre verhaftet und war bis 1934 inhaftiert. 1926 schloss sich die verwaiste Gemeinde Caneau wie auch vierzehn weitere im Wolgagebiet gelegene lutherische Gemeinden der von der offiziellen Kirche abgespaltenen Freien Evangelisch-lutherischen Kongegrationskirche an, die mit der Sowjetmacht kollaborierte und in den Jahren 1927–35 bestand (eine vergleichbare Erneuerungsbewegung gab es auch in der Russisch-Orthodoxen Kirche).

1931 informierte die regionale Kommission für die Prüfung religiöser Angelegenheiten das Präsidium des Zentralexekutivkomitees der ASSR der Wolgadeutschen in einem geheimen Bericht, dass die Kirche noch nicht geschlossen sei und es in der Kirchengemeinde noch 723 Gläubige gebe, von denen 56 den Status von „Lischenzy“ hätten, ihnen also das Wahlrecht und andere bürgerliche Rechte aberkannt waren.

Im Zuge der forcierten antireligiösen Offensive wurde in den 1930er Jahren jegliche religiöse Unterweisung der Kinder verboten. Als sich die Kirchengemeinde Caneau im Mai 1932 mit der Bitte an das Sekretariat des Zentralexekutivkomitees der ASSR der Wolgadeutschen wandte, den Kindern im Zeitraum vom 6.-18. Juni 1932 Konfirmandenunterricht für die am 19. Juni des gleichen Jahres geplante Konfirmation erteilen zu dürfen, wurde das Material an die GPU weitergeleitet, die Listen aller konfirmierten Kinder anforderte.

Am 1. Juni 1934 informierte die Kommission für Kultfragen beim Zentralexekutivkomitee der ASSR der Wolgadeutschen das Präsidium der ASSR, dass die Kirche in Caneau von den Gläubigen noch immer genutzt werde, während zahlreiche andere Kirchen bereits geschlossen seien. Am 10. Juli 1936 wurde die Kirche auf offizielle Anordnung des Präsidiums des Zentralexekutivkomitees geschlossen, da sich die Mitglieder der Kirchengemeinde mehrheitlich für deren Schließung ausgesprochen hatten.

Liste der Pastoren. Pastoren der Pfarrgemeinde Nord-Katharinenstadt, die in der Gemeinde Caneau Gottesdienst hielten: Johann Georg Herwig (1768–69). In den Jahren 1769-79 hatte die Gemeinde keinen Pastor. Hartmann von Moos (1779-1803). Johann Samuel Huber (1807-20). Immanuel Dr. Grünauer (1820-23). Abraham Haag (1827-48). Heinrich Thomas (1851-60). Friedrich Wilhelm Dsirne (1860-72). Isaak Theophil Keller (1873–1903). Pastoren der Pfarrgemeinde Boisroux, die in der Gemeinde Caneau Gottesdienst hielten: Gotthold Eduard Hahn (1906-12). Johannes Nikolaus Blum (1913-18).

Entwicklung der Bevölkerungszahlen. Im Jahr 1767 lebten in Caneau 283 und im Jahr 1773 263  ausländische Kolonisten. Dieser Rückgang ist unter anderem dadurch zu erklären, dass die Kolonisten in nahegelegene Kolonien umsiedelten. So zogen allein im Jahr 1768 neun Personen in die Kolonie Schaffhausen (heute Dorf Wolkowo), drei Personen nach Glarus/Biberstein (heute Dorf Georgijewka) und jeweils vier Personen nach Basel (heute Dorf Wassiljewka) und Hockerberg (heute Dorf Alexandrowka). 1788 lebten in Caneau 163, 1798 - 229, 1816 - 383 und 1834 - 662 Personen. 1848 gründeten einige Bewohner der Kolonie zusammen mit Kolonisten aus den Kolonien Katharinenstadt, Orlowskoje, Boisroux, Philippsfeld, Ernestinendorf und Paulskoje die im Amtsbezirk Nischni Karaman (Bezirk Nowousensk, Gouvernement Samara) gelegene Tochterkolonie Lilienfeld/Nowo-Orlowskoje (heute aufgegeben). 1850 hatte Caneau 826, 1859 – 986 und 1889 - 1.333 Einwohner. Nach den Daten der Allgemeinen Volkszählung des Russischen Reiches von 1887 lebten in Caneau 1.703 Personen, von denen 1.692 Deutsche waren. Im Jahr 1904 lebten im Dorf 2.303 und im Jahr 1910 – 2.196 Personen. Nach den Daten der Allrussischen Volkszählung von 1920 hatte das Dorf 2.132 Einwohner. 1921 gab es im Dorf 78 Geburten und 362 Sterbefälle. Nach Angaben der Gebiets-Statistikbehörde des Autonomen Gebiets der Wolgadeutschen lebten in Caneau zum 1. Januar 1922 1.138 Personen. 1923 war die Bevölkerungszahl auf 1.121 Einwohner gesunken. Nach den Zahlen der Volkszählung von 1926 gab es im Dorf 213 Haushalte (davon 212 deutsche) mit einer Bevölkerungszahl von 1.060 Personen (507 Männer und 553 Frauen), von denen 1.057 Deutsche waren (507 Männer und 550 Frauen). 1931 lebten im Dorf 1.714 Personen, von denen 1.704 Deutsche waren.

Das Dorf heute. Das heutige Dorf Andrejewka (Rayon Marx, Gebiet Saratow) ist nach Fläche und Einwohnerzahl um ein Vielfaches kleiner als das vorrevolutionäre Caneau. Nur ein geringer Teil der vorrevolutionären Bebauung ist bis heute erhalten. An die deutschen Lutheraner erinnert in Andrejewka praktisch gar nichts mehr. Das Kirchengebäude ist schon seit langem zerstört, das Bethaus und beide Schulen existieren nicht mehr. Wo deutsche Holzhäuser erhalten sind, wurden diese umgebaut oder mit neuen Steinen verklinkert. Das einzige mehr oder weniger gut erhaltene Objekt der deutschen Architektur ist ein im Ortskern stehendes kleines Backsteinhaus.

Literatur

Герман А.А. Немецкая автономия на Волге. 1918–1941. Часть II. Автономная республика. 1924–1941. – Саратов, 1992–1994; Дитц Я. История поволжских немцев-колонистов. – М., 1997; Князева Е.Е., Соловьева Ф. Лютеранские церкви и приходы ХVIII – ХХ вв. Исторический справочник. – СПб., 2001. Часть I; Список населенных мест Самарской губернии. – Самара, 1910; Плеве И.Р. Немецкие колонии на Волге во второй половине ХVIII века. – М., 1998; Amburger E. Die Pastoren der evangelischen Kirchen Russlands vom Ende des 16. Jahrhunderts bis 1937. Ein biographisches Lexikon. – Martin-Luther-Verlag, 1988; Подсчитано по изд.: Einwanderung in das Wolgagebiet: 1764–1767 / Hrsg.: Alfred Eisfeld. Bearb.: Igor Pleve. Bd. 2. Kolonien Galka – Kutter. Göttingen: Göttingenger Arbeitskreis, 2001.

Archive

ГАСО. Ф. 180. Оп. 1. Д. 10681, 11607, 13868; Ф. 637. Оп. 22. Д. 79–81; ГИАНП. Ф. 849. Оп. 1. Д. 834. Л. 81; Д. 890. Л. 36; Д. 1139. Л. 138; Ф. 1831. Оп. 1. Д. 299. Л. 106.

Autoren: Lizenberger O.A.

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