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MESSER (Ust-Solicha, Ust-Salicha), heute Dorf Ust-Solicha (Rayon Krasnoarmeisk, Gebiet Saratow)

Rubrik: Republik der Wolgadeutschen

MESSER (Ust-Solicha, Ust-Salicha), heute Dorf Ust-Solicha (Rayon Krasnoarmeisk, Gebiet Saratow); im rechtsufrigen Wolgagebiet, an der Mündung des Flusses Solicha in den Goly Karamysch, 79 Werst von Saratow und 100 Werst von Kamyschin, rechtsseitig der großen Poststraße von Saratow nach Astrachan gelegene deutsche Kolonie, die von 1871 bis Oktober 1918 zu den Amtsbezirken Sosnowka, Ust-Solicha bzw. Lesnoj Karamysch (Bezirk Kamyschin, Gouvernement Saratow) gehörte und zeitweise Hauptort des Amtsbezirks war.

Nach der Gründung der Arbeitskommune der Wolgadeutschen war Messer bis 1941 Verwaltungszentrum des in den Kantonen Goly Karamysch bzw. Balzer (ab 1927) gelegenen gleichnamigen Dorfsowjets.

Die Kolonie wurde am 7. Juli 1766 als Kronkolonie gegründet. Ihr Name geht auf den ersten Vorsteher Johannes Messer zurück, einen aus der Kurpfalz stammenden 41-jährigen Ackerbauern, der mit Ehefrau und Tochter in die Kolonie gekommen war. Der zweite offizielle russische Name Ust-Solicha, den die Kolonie aufgrund des Erlasses vom 26. Februar 1768 erhielt, leitet sich vom Fluss Solicha ab. Die Gründer waren 85 aus Hessen, Preußen und der Pfalz stammende Familien (308 Personen).

Die Bewohner der Kolonie waren mehrheitlich Reformierte. 23 Familien gehörten zum lutherischen Zweig des Protestantismus. Angesichts der Besonderheiten der Ansiedlung kam es praktisch nicht vor, dass die Kolonien konfessionell homogen waren. So wurden auch in der mehrheitlich protestantischen Kolonie Messer neben Reformierten und Lutheranern vier Katholiken angesiedelt: die Familie des aus der Kurpfalz stammenden Heinrich Lorenz und der aus Darmstadt stammende Junggeselle Johann Heinrich Emmerling.

Die meisten der 85 ersten Siedler waren Ackerbauern. Hinzu kamen fünfzehn Zunfthandwerker, die in ihrer neuen Heimat allerdings ebenfalls verpflichtet waren, Ackerbau zu betreiben. Jeder der im Juli 1766 in die Kolonie gekommenen Kolonisten erhielt von der Wojewodschaftskanzlei in Saratow 150 Rubel, die nach Ansicht der Beamten aber zu schnell und nicht zweckgebunden ausgegeben wurden, so dass den im November 1766 in die Kolonie kommenden Familien nur noch jeweils 75 Rubel ausgezahlt wurden. Wer wiederum im Juni 1767 ankam, bekam 25 Rubel, zwei Pferde, eine Kuh und Zaumzeug.

Unter den im rechtsufrigen Wolgagebiet gegründeten Siedlungen galt Ust-Solicha als Musterkolonie. Anders als in den meisten anderen Siedlungen stammten die ersten Kolonisten größtenteils aus der gleichen Region Deutschlands. Diese in den deutschen Wolgakolonien eher selten anzutreffende gemeinsame regionale Herkunft trug maßgeblich dazu bei, den Zusammenhalt unter den Kolonisten zu stärken, Konflikte zwischen einzelnen Kolonisten auf ein Minimum zu reduzieren und in der Folge schnelle Erfolge beim Aufbau der Landwirtschaft zu erzielen. Es erlaubte den Kolonisten allerdings auch, im Konfliktfall gegenüber der Regierung geschlossen aufzutreten und einträchtig die eigenen Interessen zu vertreten. Als etwa das Fürsorgekontor im Jahr 1775 auf Erlass Katharinas II. beschloss, in den Kolonien die kollektive Haftung einzuführen, der zufolge alle Mitglieder der Dorfgemeinschaft für von einzelnen Kolonisten verübte Rechtsbrüche oder Verfehlungen einzustehen hatten, stellten sich die in Ust-Solicha ansässigen Kolonisten dem unter Führung des Beisitzers geschlossen entgegen. Letztlich blieb der Protest aber erfolglos und die Anstifter des Aufruhrs wurden öffentlich ausgepeitscht.

Später gründete der gute Ruf der Kolonie auf der in der Region verbreiteten Vorstellung, die Bewohner von Ust-Solicha seien besonders fleißig. Nach Angaben für das Jahr 1769 erklärten 84 der insgesamt 85 in Ust-Solicha ansässigen Familien, in der Landwirtschaft arbeiten zu können. In der die Kolonie umgebenden Steppe bauten die Kolonisten Weizen, Roggen, Hafer, Gerste, Hirse, Sonnenblumen und Hanf an. Die Aussaat von Mais brachte in den 1880er Jahren keine großen Erträge, so dass die Kolonisten von dessen Anbau schon bald wieder absahen. Die in der Nähe der Kolonie gelegenen Wälder waren angesichts des für den Hausbau benötigten Bedarfs schnell abgeholzt. Später kauften die Kolonisten ihr Bauholz am Schiffsanleger in Sosnowka.

Auch wenn die Kolonisten in den ersten Jahren des Bestehens der Siedlung größtenteils Ackerbauern waren, widmeten sich viele auch der Produktion von Sarpinka-Gewebe, so dass sich Ust-Solicha schnell zu einem der führenden Standorte der Baumwollspinnerei und Textilproduktion im Wolgagebiet entwickelte. 1894 waren etwa 600 Bewohner von Ust-Solicha mit der Herstellung von Sarpinka-Gewebe befasst. Mit der Zeit konzentrierte sich das Textilgewerbe in den Händen der sogenannten „Sarpinka-Könige“ Schmidt, Boreli und Reineke, die über ihre Heimatkolonien Balzer, Ust-Solicha und Kutter hinaus im gesamten Wolgagebiet Sarpinka-Webereien gründeten. Die aus Ust-Solicha stammende Händler- und Fabrikantenfamilie Schmidt gründete in den 1840er Jahren in ihrem Heimatdorf die „Handels- und Gewerbegesellschaft Gebrüder Schmidt“, die ihren Sitz in den 1850er Jahren nach Saratow verlegte.

Unter den deutschen Kolonisten erzählte man sich, dass ein in Ust-Solicha ansässiger Kolonisten namens Riet (oder Riesch) die sogenannten „Dung-Briketts“ erfunden habe, ein gepresstes Gemisch aus Dung und Stroh, das in Stücke geschnitten und in der kalten Jahreszeit statt Brennholz für die Beheizung der Häuser genutzt wurde. Allerdings machte im Jahr 1803 auch der aus Splawnucha stammende Kolonist Bohl gegenüber dem Fürsorgekontor sein Urheberrecht an der Erfindung geltend.

Bereits im Jahr 1784 eröffnete das Schatzamt in Messer ein Schankhaus mit „Vorhalle und Eiskeller“. Nach Angaben des Zentralen Statistik-Komitees gab es in der Kolonie 1859 zwölf Sarpinka-Webereien und Färbereien, vier Mühlen und eine Poststation. Die erste Poststelle entstand in Messer bereits 1816, nachdem das Kontor den zwischen Messer und Saratow verkehrenden Postverkehr offiziell geregelt hatte. In den Jahren 1869-71 wurde in der Kolonie eine Wassermühle errichtet.

Nach den von A.N. Minch ausgewerteten Daten der im Jahr 1886 von den Semstwo-Organen durchgeführten Volkszählung gab es in der Kolonie zu diesem Zeitpunkt 359 Haushalte und insgesamt 3.102 Einwohner (1.574 männliche und 1.528 weibliche), 318 Wohnhäuser (100 Holzhäuser, sieben mit Blech, 82 mit Holzbohlen und 299 mit Stroh gedeckte Häuser), 23 Gewerbebetriebe, zwei Schankhäuser und sechs Läden. Die Siedler verfügten über 242 Pflüge, 26 Windsichten, 1.112 Arbeits- und sonstige Pferde, 13 Ochsen, 717 Kühe und Kälber, 1.641 Schafe, 579 Schweine und 547 Ziegen. 1896 wurde im Dorf ein Krankenhaus gebaut. Anfang des 20. Jahrhunderts gab es in Messer das Handelshaus „Gebrüder Schmidt“ und eine Landmaschinenfabrik. 1911 gab es 432 Höfe. Die Bauern verfügten über 946 Stück Arbeitsvieh, 692 Stück Milchvieh, 1.138 Stück Zugvieh und 4.399 Stück Kleinvieh sowie 225 Eisenpflüge, 89 Erntemaschinen und 66 Windsichten.

Bekannt ist Ust-Solicha auch als Geburtsort von Eduard Huber (1814–1847), der dort als Sohn des Pastors Johann Huber zur Welt kam, seine Ausbildung in Saratow und St. Petersburg erhielt, ein herausragender Dichter und Freund A.S. Puschkins war und im Jahr 1838 als Erster Goethes „Faust“ und die Werke Schillers ins Russische übersetzte.

In den Jahren der Sowjetmacht gab es im Dorf einen Genossenschaftsladen, eine Landwirtschaftliche Kreditgenossenschaft, eine Landmaschinen-Kooperative und eine Lesehütte. Ende der 1920er Jahre begann im Dorf der Bau einer neuen Weberei. 1931 kam es angesichts der anhaltenden Schwierigkeiten  zu Protesten der Bauern. Im September 1941 wurden die Deutschen aus dem Dorf deportiert, das seit 1942 den Namen Ust-Solicha trägt.

Schule und Erziehungswesen. In den ersten Jahren des Bestehens der Kolonie fand der Schulunterricht

im Haus des Schulmeisters statt. Wann genau die erste kirchliche Gemeindeschule gebaut wurde, ist nicht bekannt, aufgrund der vorhandenen Quellen ist jedoch davon auszugehen, dass dies zwischen 1768 und 1771 geschah. Mitte des 19. Jahrhunderts wurde die Kirchenschule vom Ministerium akkreditiert.

Neben der kirchlichen Gemeindeschule wurde in der Kolonie 1870 auch eine private sogenannte „Genossenschaftsschule“ eröffnet, die bereits wenige Jahre später den Status einer akkreditierten privaten Elementarschule erhielt. Anfang der 1870er Jahre wandte sich der Friedensrichter des 3. Reviers des Bezirks Kamyschin mit dem Vorschlag an das Fürsorgekontor, die private Elementarschule in Ust-Solicha nach Baron D.F. Osten-Saken zu benennen, dem nach Weiterleitung an das Ministerium für Staatsdomänen schließlich auch stattgegeben wurde. 1886 lernten in der Schule 40 Jungen und zwei Mädchen, die dort in russischer und deutscher Sprache, Rechnen und Religion unterrichtet wurden. 1891 wurde an der Schule eine Handwerksklasse eröffnet.

Im Jahr 1886 waren 1.870 der insgesamt 3.102 Bewohner der Kolonie alphabetisiert: 948 Männer und 922 Frauen. Nach den von Pastor J. Erbes, dem Probst des linksufrigen Wolgagebiets, zum Stand des deutschen Schulwesens zusammengetragenen Daten waren im Jahr 1906 617 der insgesamt 5.307 Einwohner Kinder im Alter von 7-15 Jahren, die zum Besuch einer Elementarschule verpflichtet waren. Allerdings besuchten nicht alle Kinder im schulpflichtigen Alter auch tatsächlich eine Schule. 93 Kinder (größtenteils im Alter von sieben Jahren) gingen nicht zur Schule, da ihre Eltern arm und auf die tägliche Mithilfe ihrer Kinder in Handwerk oder Gewerbe angewiesen waren. Bei der Überprüfung der Schule verwiesen die Gemeinschaft der Kolonie und die Eltern darauf, dass die Kinder die Schule nach Erreichen des 8. Lebensjahrs vom Folgejahr an besuchen würden.1906 besuchten 253 Jungen und 271 Mädchen die Kirchenschule, an der vier Lehrer tätig waren. In der privaten Schule lernten 28 Jungen und fünf Mädchen bei einem einzigen Lehrer. Beide Schulen wurden aus Mitteln der Dorfgemeinschaft unterhalten. Nach Stand zum Jahr 1911 gab es im Dorf zwei Kirchenschulen und eine private Schule. In den Jahren der Sowjetmacht wurden alle zuvor bestehenden Schulen geschlossen und durch eine Grundschule ersetzt.

Religionszugehörigkeit der Bevölkerung und Kirche. Eine Besonderheit Ust-Solichas bestand darin, dass die Kolonisten mehrheitlich der reformierten Kirche angehörten. Lange Zeit gab es für Reformierte und Lutheraner getrennte Bethäuser. Ende des 19. Jahrhunderts gab es im Dorf zudem eine kleinere Gruppe Baptisten, der im Jahr 1879 16 Personen angehörten.

Der lutherisch-reformierte Pfarrsprengel Ust-Solicha, zu dem zu diesem Zeitpunkt neben Messer (Ust-Solicha) auch die Gemeinden Moor (Kljutschi), Anton (Sewastjanowka), Balzer (Goly Karamysch) und Kauz (Werschinka) gehörten, wurde 1765 gegründet. Später änderte sich mehrfach die Zusammensetzung der dem Pfarrsprengel zugehörigen Gemeinden. So kam die Gemeinde Kauz (Werschinka) 1767 zum Pfarrsprengel Dittel (Oleschna). In den Jahren 1777-90 bestand in Anton (Sewastjanowka) eine eigene Pfarrgemeinde. In den Jahren 1799-1820 wurden die Gemeinden Anton und Kauz (Werschinka) zu einem eigenen Pfarrsprengel zusammengeschlossen, in den Jahren 1820-55 gehörten sie erneut zum Pfarrsprengel Ust-Solicha. 1855 prüfte das Fürsorgekontor die Frage der „Teilung des Pfarrsprengels Ust-Solicha in die Kolonien Ust-Solicha, Popowka, Kljutschi, Goly Karamysch und Sewastjanowka“. Am 15. November 1855 wurde der Pfarrsprengel Ust-Solicha mit den drei Kolonien Messer (Ust-Solicha), Moor (Kljutschi) und Kutter (Popowka) bestätigt, während die übrigen Gemeinden (Balzer und Anton) dem 1856 bestätigten Pfarrsprengel Balzer (Goly Karamysch) zugeteilt wurden. Der Pfarrsprengel Ust-Solicha ging als einer der nach der Bevölkerungszahl größten Pfarrsprengel in die Geschichte der Evangelisch-lutherischen Kirche Russlands ein. 1905 lebten dort 14.535 Gemeindemitglieder.

Eine erste Holzkirche wurde in Messer im Jahr 1767 auf Staatskosten errichtet, womit man dem Erlass Katharinas II. vom 28. Februar 1765 Rechnung trug, dem zufolge vorgeschrieben war, für die deutschen Kolonisten in jedem Kreis jeweils eine Kirche zu errichten, diese mit dem nötigen Inventar auszustatten und den Pastoren ein „schickliches Haus“ und staatliche Zuwendungen zu gewähren. Die dafür verwendeten Mittel mussten die Kolonisten innerhalb der folgenden zehn Jahre an den Staat zurückzahlen. Die erste Kirche wurde von örtlichen Handwerkern in aller Eile ohne offiziell eingereichten Bauplan unter Aufsicht eines Ingenieurs des Fürsorgekomitees errichtet und wies keinerlei bemerkenswerte architektonische Besonderheiten auf. In den ersten Jahren des Bestehens der Kolonie ging es den Kolonisten ausschließlich darum, mitten in der russischen Steppe überhaupt ein protestantisches Gotteshaus errichten zu können, das nicht nur zur Feier der Gottesdienste genutzt wurde, sondern auch Zentrum des Gemeindelebens war.

Die nächste hölzerne Kirche, die Platz für 500 Gläubige bot, errichteten die Gemeindemitglieder 1825 auf eigene Kosten. Die architektonisch stark von der russischen Baukunst beeinflusste neue Kirche hatte eine quadratische Vorhalle und einen achteckigen Turm mit einer zwiebelförmigen Kuppel, was für die deutschen protestantischen Kirchen absolut untypisch, in der russischen Zeltdacharchitektur aber seit dem späten 16. Jahrhundert weit verbreitet war. Über der Kuppel erhob sich ein protestantisches Kreuz. Neben der Kirche befanden sich das Pfarrhaus sowie ein hölzerner dreistufiger Glockenstuhl. 1771 wurde das Pfarrhaus aus der Kolonie Anton (Sewastjanowka) nach Ust-Solicha verlegt. Der bis heute erhaltene Steinbau des Pfarrhauses wurde in den Jahren 1895-96 errichtet.

Mit der Zeit konnte die alte Holzkirche dem Status der Gemeinde Ust-Solicha als Zentrum des Pfarrsprengels nicht mehr gerecht werden. Zwei Jahrzehnte lang sammelten die mehrere Tausend Gemeindemitglieder Geld für den Bau einer neuen steinernen Pfarrkirche, der letztlich mehrere zehntausend Rubel kosten sollte und 1911 abgeschlossen wurde.

Das Gotteshaus wurde nach der letzten architektonischen Mode errichtet und war zweifelsohne der Stolz der Kolonisten und eine Zierde des ganzen Kreises. Die Gemeindemitglieder von Ust-Solicha, die ihr Heimatdorf für alles andere als unbedeutend und provinziell hielten, entschieden sich dafür, ein für die deutschen Wolgakolonien ungewöhnliches Gotteshaus zu errichten und neuen stilistischen Motiven den Vorzug zu geben. Die Kirche begeisterte durch ihre dynamische Komposition, ihre ausgefeilten Formen, das gelungene Verhältnis der Dimensionen, die eleganten Proportionen und das Spiel des Maßwerks. Repräsentativen Charakter verlieh der Kirche das virtuose Backsteinornament der Mauern. Der massive Glockenturm mit seinen vier symmetrisch angeordneten kleinen Spitztürmchen wurde von einem spitzen hölzernen Turmhelm mit einem drei Meter hohen Kreuz gekrönt. Über den an den Haupt- und Seitenfassaden des Gebäudes gelegenen Eingängen lagen Dreiecksgiebel. Zudem schmückten geschnitzte Simse und bunte Rundbogenfenstern das Gotteshaus.

In den ersten Jahren ihres Bestehens sahen sich die Kolonien mit dem Problem konfrontiert, dass es kaum Geistliche gab, die die Pastorenstellen in den Gemeinden hätten besetzen können. Lange Zeit war der ursprünglich aus der Schweiz stammende Johann Janet (1729–1803), der mit den ersten Kolonisten in die Kolonie Sewastjanowka gekommen war, der einzige im ganzen Wolgagebiet tätige protestantische Pastor. Am 10. März 1765 hielt er seine erste Predigt im Wolgagebiet. Nach seiner Wahl zum Pastor der Pfarrgemeinde Ust-Solicha zog er zunächst in die dortige Gemeinde. Nachdem seine Residenz 1767 zwischenzeitlich nach Anton verlegt worden war, kehrte er 1771 nach Ust-Solicha zurück. Sein Nachfolger Pastor Jauch war Oberpastor aller Wolgakolonien. Dass die Arbeit der Geistlichen nicht nur von den Kolonisten, sondern auch von den staatlichen Organen hoch geschätzt wurde, lässt sich daran ablesen, dass die Kinder von Pastor Jauch vom Fürsorgekontor auch noch 1820 ein Salär für ihren 1804 verstorbenen Vater erhielten.

Symptomatisch für den in den Kolonien herrschenden Predigermangel war das Beispiel des in Ust-Solicha tätigen Pastors Johann Huber, der gleich in 21 Kirchen predigen musste. Huber schrieb: „Mein geliebter Pfarrsprengel liegt über drei lutherische und eine katholische Siedlung verstreut, so dass ich sagen kann, dass ich eine Gemeinde zugleich habe und nicht habe. In meinem Sprengel gibt es 23 Kirchen und in jeder von diesen muss ich predigen. Es gibt keinen anderen Sprengel, in dem die Arbeit so schwer ist wie in meinem.“ So hatte jeder Pastor jeweils zehn Gemeinden zu betreuen und konnte in den einzelnen Kolonien nicht öfter als fünf Mal pro Jahr predigen. Unter solchen Bedingungen konnte von einer täglichen Seelsorge für die Gemeindemitglieder nicht einmal ansatzweise die Rede sein. 1819 wurde J. Huber zum Vizepräsidenten des im Oktober in Saratow gegründeten evangelisch-lutherischen Konsistoriums gewählt. Später war er als Superintendent des Moskauer evangelisch-lutherischen Konsistoriums der zweithöchste Würdenträger der Evangelisch-lutherischen Kirche Russlands.

Im 19. Jahrhundert waren die Geistlichen nicht nur für das Seelenheil ihrer Gemeindemitglieder zuständig, sondern auch als Ackerbauern, Obstbauern oder Ärzte tätig. Angesichts der schwachen Entwicklung der Medizin kam es in den Kolonien immer wieder zu Epidemien. Als der Sprengel im August 1830 von einer Cholera-Epidemie heimgesucht wurde, kamen die aus St. Petersburg in das Gouvernement Saratow entsandten Ärzte erst im Oktober, als die Epidemie bereits auf dem Rückzug war. Pastor J. Huber schrieb über die 1830 im Wolgagebiet ausgebrochene Epidemie: „Die Not ist so schnell und unerwartet hereingebrochen, dass man nicht einmal daran denken konnte, irgendwelche Maßnahmen zu ergreifen… Ich bin von Haus zu Haus gegangen, habe Gesunde und Kranke aufgesucht, ermahnt, ermuntert und geraten, auf Gott zu vertrauen...“.

Sein Nachfolger Immanuel Grünauer suchte während der in den Jahren 1947/48 wütenden nächsten Cholera-Epidemie regelmäßig die Kranken seiner Kirchengemeinde auf, spendete seinen Gemeindemitgliedern unermüdlich Trost und widmete sich ihnen mit ganzem Herzen. Zur Zeit der Epidemie blieb die Kirchenschule geschlossen und wurde zu einem Krankenhaus umfunktioniert. Besonders verheerend war für die Gemeinde die Cholera-Epidemie von 1892, die die von Missernten und Dürre ohnehin geschwächten Kolonien unmittelbar nach der Hungersnot von 1891 heimsuchte und über 500 Menschen das Leben kostete. Im Sprengel gab es sogar einen eigenen kirchlichen Feiertag, den sogenannten Cholera-Tag, der am ersten Freitag nach dem 1. September begangen wurde, um der Erlösung von der Epidemie zu gedenken.

Eduard Eichhorn, der bereits im 20. Jahrhundert als Pastor in Ust-Solicha diente, hatte mit noch weit größeren Problemen zu kämpfen. In den Jahren 1921-22 wurde das Wolgagebiet wie viele andere Landesteile auch von einer durch die Politik des „Kriegskommunismus“ provozierten schrecklichen Hungersnot heimgesucht, die durch die Launen der Natur (Dürre und Missernten) noch verschärft wurde. Der Hunger war Folge des undurchdachten Vorgehens des Staates und der kommunistischen Experimente, in deren Verlauf sämtliche Getreideüberschüsse der Bauern gewaltsam beschlagnahmt wurden. Es wirkte, als wolle die Natur die Menschen als göttliches Gericht für ihre Sünden strafen. Nach vorsichtigen offiziellen Schätzungen hungerten landesweit 28 Millionen Menschen.

Nicht selten kam es zu Hungerödemen, dem Verzehr von Aas und sogar zu Fällen von Kannibalismus. Infolge des Hungers brachen Epidemien aus. Da die von Seiten der Organe der Sowjetmacht geleistete Hilfe nur langsam und inkonsequent erfolgte, kam der Kirche bei der zu leistenden Hungerhilfe eine zentrale Rolle zu, was die Sowjetorgane allerdings nicht davon abhielt, unter Verweis auf die Notwendigkeit der Bekämpfung des Hungers eine Kampagne zur Beschlagnahmung der Kirchenschätze durchzuführen, der Kirche ihre ökonomische Basis zu entziehen und gegen die Pastoren gerichtete Repressionen einzuleiten. Pastor Liborius Bening (1862–1933) wurde 1931 zusammen mit seiner Ehefrau in Saratow verhaftet, erkrankte im Gefängnis an einer Lungenentzündung und erlitt einen Herzinfarkt, woraufhin er auf Bitten des Schwedischen Roten Kreuzes und der Deutschen Botschaft aus gesundheitlichen Gründen vorzeitig entlassen wurde. Er verstarb kurz nach seiner Freilassung.

Anfang der 1930er Jahre begann im ganzen Land die massenhafte Schließung der Gotteshäuser aller Konfessionen. 1931 informierte die regionale Kommission für die Prüfung religiöser Angelegenheiten das Präsidium des Zentralexekutivkomitees der ASSR der Wolgadeutschen in einem geheimen Bericht, dass die Kirche im Dorf noch nicht geschlossen sei und es in der Kirchengemeinde noch 1.998 Gläubige gebe, von denen 32 den Status von „Lischenzy“ hätten, ihnen also das Wahlrecht und andere bürgerliche Rechte aberkannt waren. Am 28. August 1934 informierte die Kommission für Kultfragen beim Zentralexekutivkomitee der ASSR der Wolgadeutschen das Präsidium der ASSR der Wolgadeutschen, dass das Bethaus im Dorf Messer bereits geschlossen sei, während die Frage der Schließung der Kirche einer speziellen Prüfung bedürfe, da der Steinbau von den Gläubigen noch genutzt werde. Am 21. Dezember 1937 wurde die Kirche auf offizielle Anordnung des Präsidiums des Zentralexekutivkomitees geschlossen, nachdem sich 947 der insgesamt 1.165 Gemeindemitglieder für eine Schließung der Kirche ausgesprochen hatten. Das Präsidium des Zentralexekutivkomitees empfahl eine Nutzung des Kirchengebäudes als Lesehütte.

 

Liste der Pastoren der Pfarrgemeinde Messer (Ust-Solicha): Johannes Janet (1765-99). Aloysius Jauch (1798–1804). Josua Graf (1804-18). Johann Samuel Huber (1820-22). Immanuel Grunauer (1823-50). Jakob Friedrich Dettling (1853-91). Liborius Herbord Behning (1888-89). Johann Kaminsky (1894-97). Eduard Seib (1898–1909). Woldemar Lankau (1909-14). Eduard Eichhorn (1917-29).

 

Entwicklung der Bevölkerungszahlen. 1766 wurden in Messer 397 ausländische Kolonisten angesiedelt, 1767 lebten in der Kolonie 308, 1773 - 397, 1788 - 581, 1798 - 619, 1816 - 960, 1828 – 1.834, 1850 — 2.704, 1859 – 3.403 und 1886 – 3.149 Personen. Nach den Daten der Allgemeinen Volkszählung des Russischen Reiches von 1887 lebten in Ust Solicha 3.403 Personen, von denen 3.375 Deutsche waren. Nach Stand zum Jahr 1905 lebten im Dorf 5.057 und im Jahr 1911 5.961 Personen. Nach den Daten der Allrussischen Volkszählung von 1920 hatte das Dorf 4.344 Einwohner; es gab 611 Haushalte, davon 605 deutsche. 1921 gab es im Dorf 177 Geburten und 796 Sterbefälle. Nach Angaben der Gebiets-Statistikbehörde des Autonomen Gebiets der Wolgadeutschen lebten zum 1. Januar 1922 in Ust-Solicha 3.425 Personen. Nach den Zahlen der Volkszählung von 1926 gab es im Dorf 649 Haushalte mit einer Bevölkerungszahl von 3.716 Personen, von denen 3.712 Deutsche waren. 1931 lebten im Dorf 3.706 Einwohner, von denen 3.703 Deutsche waren.

 

Das Dorf heute. Heute gehört das Dorf Ust-Solicha (Rayon Krasnoarmeisk, Gebiet Saratow) wie auch die Bahnstation Karamysch zur Landgemeinde Karamysch, die nach den Zahlen der Allrussischen Volkszählung von 2002 insgesamt 1.708 Einwohner hatte, was nur noch einem Bruchteil der vorrevolutionären Einwohnerzahlen entspricht. Stark zurückgegangen ist auch die Zahl der Höfe. Im Dorfkern ist aber noch immer die lutherische Kirche erhalten, die nicht nur ein Schmuckstück der deutschen Architektur darstellt, sondern geradezu beispielhaft für die deutsche Baukunst im Wolgagebiet steht.

Dank ihrer markanten Silhouette und den charakteristischen Schmuckelementen auf der Fassade bleibt die Kirche von Ust-Solicha gut in Erinnerung. In dem heutigen von nur wenigen Einwohnern bewohnten russischen Dorf wirkt die außergewöhnlich schöne Kirche wie ein Fremdkörper, der sich nicht in seine Umgebung einfügen will und wie eine Fata Morgana mitten in der Steppe steht. Die Kirche stellt einen guten Orientierungspunkt dar, der von der Fernstraße Saratow-Wolgograd bereits lange vor dem Abzweig ins Dorf zu sehen ist. Abgesehen davon ist die Kirche ein unter Touristen und Einheimischen gleichermaßen beliebtes Fotomotiv, das im Internet auf zahlreichen von Schatzsuchern oder Reisenden betriebenen Internetseiten verewigt ist. Beeindruckend ist schon die schiere Größe des Baus, der heute das mit Abstand größte Gebäude der weiteren Umgebung darstellt.

Heute ist es schwierig zu beurteilen, wie die Kirche 1911 ausgesehen haben mag, denn sowohl die Sowjetmacht als auch der Zahn der Zeit haben dem Gebäude schwer zugesetzt: Vor einigen Jahrzehnten gingen die geschnitzten Eichentüren verloren und die Glasmalereien wurden zerschlagen. In den vergangenen 75 Jahren wurde das Gebäude als Lager genutzt. Im Altarbereich und in der Apsis wurde Zement gelagert und angemischt. Der Kirchturm ist praktisch nur als Ruine erhalten, im Jahr 2008 fiel der hölzerne Turmhelm ab. Einen immer noch erhabenen Eindruck hinterlassen die das Gotteshaus umgebenden deutschen Steinbauten. Am früheren Kirchplatz bilden die Kirche, das frühere Pfarrhaus und das frühere Schulgebäude, in dem heute die Bibliothek und das Kulturhaus des Dorfes untergebracht sind, ein einheitliches Ensemble.

Literatur

Герман А.А. Немецкая автономия на Волге. 1918–1941. Часть II. Автономная республика. 1924–1941. – Саратов, 1992–1994; Дитц Я. История поволжских немцев-колонистов. - М., 1997; Минх А.Н. Историко-географический словарь Саратовской губернии: Южные уезды: Камышинский и Царицынский. Т. 1. Вып. 3. Лит. Л–Ф. Печатан под наблюдением С. А. Щеглова. Саратов: Тип. Губ. земства, 1901. Приложение к Трудам Саратовской Ученой Архивной Комиссии. С. 1069–1072; Князева Е.Е., Соловьева Ф. Лютеранские церкви и приходы ХVIII – ХХ вв. Исторический справочник. – СПб., 2001. Часть I; Немецкие населенные пункты в Российской Империи: География и население. Справочник / Сост. В.Ф. Дизендорф. М., 2002; Русские поэты за сто лет (с пушкинской эпохи до наших дней) в портретах, биографиях и образцах. Сборник / Сост. А.Н. Сальников. СПб., 1901; Списки населенных мест Саратовской губернии. Саратов: Земская типография, 1912; Amburger E. Die Pastoren der evangelischen Kirchen Russlands vom Ende des 16. Jahrhunderts bis 1937. Ein biographisches Lexikon. Martin-Luther-Verlag, 1988; Einwanderung in das Wolgagebiet: 1764–1767 / Hrsg.: Alfred Eisfeld. Bearb.: Igor Pleve. Bd. 3. Kolonien Laub – Preuss. Göttingen: Göttinger Arbeitskreis, 2005; Schnurr J. Das protestantische Gotteshaus // Die Kirchen und das religiöse Leben der Russlanddeutschen. Ev. Teil. Bearbeitung J. Schnurr. Stuttgart, 1978; Woltner M. Das wolgadeutsche Bildungswesen und die russische Schulpolitik. Leipzig: Komissionverlag Otto Harrassowitz, 1937. S. 29.

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Autoren: Lizenberger O.A.

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