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SICHELBERG (Siegelberg, Serpogorje, Martischka, Martjaschka bzw. Mortjaschka), heute das Dorf Serpogorje im Fjodorowskij-Verwaltungskreis des Verwaltungsgebietes Saratow, deutsche Kolonie auf dem linken Wolgaufer

Rubrik: Geschichte und Geographie der Ansiedlung der Deutschen im Russischen Reich, in der UdSSR und GUS / Geschichte der Ansiedlung
Все, что осталось от с. Зихельберг (Серпогорье). Фото автора. 2010 г.
Немецкая могила на кладбище с. Серпогорье. Фото автора. 2010 г.

SICHELBERG (Siegelberg, Serpogorje, Martischka, Martjaschka bzw. Mortjaschka), heute das Dorf Serpogorje im Fjodorowskij-Verwaltungskreis des Verwaltungsgebietes Saratow, deutsche Kolonie auf dem linken Wolgaufer, 4 Kilometer nordöstlich vom Dorf Fjodorowka. Von 1871 bis Oktober 1918 gehörte das Dorf zum Werchnekaramanskij-Bezirk (benannt nach dem Fluss Oberer Karaman) des Ujesds Nowousensk im Gouvernement Samara.   

Nach der Bildung einer Arbeitskommune von Wolgadeutschen gehörte Sichelberg zum Kanton Fjodorowka (Mokrous). Ab 1935, nach der Herauslösung des Kantons Gnadenflur aus dem Fjodorowka-Kanton gemäß dem Beschluss des Allrussischen Zentralen Exekutivkomitees der RSFSR „Über das neue Netz von Kreisen und Kantons der Region Saratow und der ASSR der WD“, gehörte Sichelberg zum Kanton Gnadenflur.

Die Kolonie ist 1849 gegründet worden. Die Siedlung wurde aus Kolonisten gebildet, die in den Mutterkolonien Zürich und Basel gewohnt und unter Landmangel gelitten hatten. Zusammen mit Sichelberg waren in diesen Jahren am linken Ufer der Wolga noch mehrere andere Kolonien gegründet worden. 1855 hatte das Fürsorgekontor die Frage „nach der Bildung der neuen Kolonien Rosendamm, Wiesenheim, Fresental, Neu-Boaro, Siegelberg, Lilienfeld, Alexanderdorf und Weizenfeld“ behandelt.   

Von der Übersetzung des deutschen Namens Sichelberg wurde auch der russische Name der Kolonie – Serpogorje – abgeleitet. Der wurde der Kolonie nach 1915 gegeben, als im Land eine antideutsche Propaganda betrieben wurde. Die feindselige Haltung gegenüber den Deutschen war eine Folge des 1914 ausgebrochenen Ersten Weltkrieges, in dem Deutschland der militärische Hauptfeind Russlands war. Es wurde eine Reihe diskriminierender Gesetze bezüglich der deutschen Bevölkerung Russlands verabschiedet. 1914 wurden in vielen Verwaltungsgebieten des Landes die deutschsprachigen Printmedien und Gesellschaften geschlossen, die Verwendung der deutschen Sprache in der öffentlichen Kommunikation und im Alltagsleben eingestellt. Durch einen Erlass vom 18. August 1916 wurde die Vermittlung der deutschen Sprache in allen Lehreinrichtungen des Russischen Reichs verboten. Damals wurden auch viele deutsche Siedlungen umbenannt. Und das Dorf Sichelberg erhielt den Namen Serpogorje. Nach der Bildung der Arbeitskommune der Wolgadeutschen 1918 wurden den Dörfern die deutschen Namen zurückgegeben.

Entsprechend der 10. Bevölkerungszählung von 1857 besaßen die 61 Familien (307 Personen) Land mit einer Fläche von 2460 Desjatinen (ca. 2706 Hektar). Gemäß der „Wirtschaftsbeschreibung der Kolonie Sichelberg“ lebten mit Stand von 1871 165 Einwohner männlichen Geschlechts im Dorf, die 4719 Desjatinen (ca. 5191 Hektar) Land besaßen. Beim System der Bodennutzung handelte es sich um eine Dreifelderwirtschaft. Von den ganzen Bodenflächen wurden 59,5 Desjatinen (66 Hektar) durch Kolonistengüter eingenommen, darunter 19,2 Desjatinen (21,12 Hektar) durch Bauten und Höfe sowie 0,4 Desjatinen (0,44 Hektar) durch Gärten. Wie Kontrolleure auswiesen, „hatten die Güter kleine Gärten, in denen Gemüse für den häuslichen Bedarf angebaut wurde. Die Güter brachten den Kolonisten keinen Gewinn…“. Daher bauten die Dorfbewohner Tabak und Wassermelonen an. Von den ganzen Bodenflächen waren 16,5 Desjatinen (18,15 Hektar) mit Melonen bestellt worden, und 11,2 Desjatinen (12,32 Hektar) nahmen Tabakplantagen ein. 1871 wohnten 55 Familien (164 Männer und 164 Frauen) in Sichelberg. Im Dorf gab es 180 Pferde, 49 Fohlen, 2 Bullen, 86 Kühe, 55 Kälber, 107 Schafe, 105 Schweine und 6 Ziegen.

Die Kolonisten befassten sich vornehmlich mit dem Anbau von Brotgetreide. In den 1920ern gab es im Dorf einen Konsumladen, es arbeitete eine landwirtschaftliche korporative Genossenschaft. Im September 1941 wurden die Deutschen aus dem Dorf deportiert. Seit 1942 trägt es den Namen Serpogorje.

Schule und Ausbildung der Kinder. In die Kirchenschule, die ab dem Zeitpunkt der Dorfgründung 1849 eingerichtet wurde, gingen Kinder im Alter von 7 bis 15 Jahren. Die Unterrichtsstunden wurden in einem Schul- und Gebetshaus durchgeführt, in dem es einen Gebetssaal gab. Laut statistischen Angaben über die Schulsituation in den deutschen Kolonien, die durch den Propst des linken Wolgaufers Johannes Erbes zusammengetragen worden waren, lebten 1906 142 Kinder im Alter von 7 bis 15 Jahren im Dorf, die eine Grundschulausbildung zu erhalten hatten. Im Unterschied zu anderen deutschen Siedlungen wurde in Sichelberg die Schule durch die schulpflichtigen Kinder nicht zu 100 Prozent besucht. Elf Kinder konnten aufgrund der Armut ihrer Eltern oder der täglichen Arbeit für unterschiedliche Gewerke nicht zur Schule gehen. 1906 wurden in der Kirchenschule 81 Jungen und 61 Mädchen durch einen einzigen Lehrer unterrichtet. Die Schule wurde aus Mitteln der Kirchengemeinde finanziert. In den Jahren der Sowjetmacht wurde die Kirchenschule dem Volkskommissariat für Bildungswesen unterstellt und in eine Grundschule umgewandelt und im Dorf wurde überdies ein Punkt für die Beseitigung des Analphabetentums eröffnet.

Konfessionelle Bindung der Einwohner und Kirche. Die Kolonisten bekannten sich zum evangelisch-lutherischen Glauben. Das Dorf Sichelberg gehörte zum evangelisch-lutherischen Kirchenspiel Gnadenflur, das am 5. Oktober 1861 gegründet wurde. Zu ihm gehörten neben Sichelberg die Gemeinden Gnadenflur, Mannheim und Rosendamm. Das erste Gebetshaus wurde im Dorf erst 1885 eingerichtet. Bis dahin hatten die Gottesdienste im alten Schulgebäude stattgefunden, in dem es einen geräumigen Gebetssaal gab. Das Gebetshaus war aus Holz und hatte den Status einer Filiale.  

Das Kirchenspiel Gnadenflur, zu dem die Gemeinde Sichelberg gehörte, war dank langjähriger Bemühungen des Propstes vom linken Wolgaufer Alexander Karl August Allendorf, der die Propstei 1851–1866 leitete, geschaffen worden. Allendorf konzipierte und realisierte eine Reformierung des Propstbezirkes und nahm dessen Neugliederung in Kirchenspiele vor, indem er die Bildung von sieben neuen Kirchenspielen – Krasnyj Jar (1855), Gnadenflur (1861), Fresental und Weizenfeld (1862), Morgentau (1863), Schöntal (1864) sowie Eckheim (1865) – initiierte.

Das Kirchenspiel Gnadenflur vereinte Gemeindemitglieder nicht nur deutscher, sondern auch lettischer Nationalität. Die Gemeindepastoren zelebrierten nicht nur in den deutschen Ortschaften Gnadenflur, Mannheim, Sichelberg und Rosendamm, die über eintausend Gemeindemitglieder zählten, Gottesdienste, sondern auch in den nahegelegenen deutschen Vorwerken Orlowskoje, Poljewodino, Terlikowo, Kamyschowka, Schestjanka, auf den Landsitzen Erstes Züricher und Zweites Züricher sowie in den Vorwerken Birjutschje, Jablonja, Basel-Mius, Schweder und Alexandertal. Sie betreuten aber auch die lettischen Siedlungen Alexandrowsk des Wolksij-Ujesds im Gouvernement Saratow und Tschekalino des Gouvernements Simbirsk.

Nach 1917 zerfiel die einst einheitliche Lutherische Kirche Russlands infolge der Revolution, des Bürgerkriegs, der Umsetzung einer kirchfeindlichen Gesetzgebung und massenhaften Auswanderung von Geistlichen. Zur Wiedervereinigung der eigenständigen Gemeinden war 1920 an alle Kirchenspiele des Landes der Entwurf für eine neue Kirchensatzung „Zeitweilige Beschlüsse über die Selbstverwaltung der Evangelisch-lutherischen Kirche“, der durch die Moskauer Gemeinden vorbereitet worden war, geschickt worden. Von den 138 Wolga-Gemeinden akzeptierten jedoch nur die Gemeinden des Kirchenspiels Gnadenflur den Entwurf der neuen Kirchensatzung. Lediglich Pastor Otto Harff, der zu jeder Zeit das Kirchenspiel Gnadenflur leitete, stimmte 1922 zu, dem wiedergeborenen Moskauer Konsistorium beizutreten. Die übrigen Kirchenspiele des Wolgagebietes bildeten eine eigenständige Kirchenorganisation, die den Pastoren des Wolgagebietes durch die Bolschewiken aufgezwungen worden war. 

Der Wunsch anderer Kirchenspiele des Wolgagebietes, sich der geeinten lutherischen Kirche anzuschließen, konnte auch aufgrund der nachfolgenden heftigen Reaktion der politischen Instanzen, die die Führung der Kirchenverwaltung in ihren Händen hielten, nicht realisiert werden. Erst 1924 hatten die meisten der Kirchenspiele des Wolgagebietes auf den Appell des Moskauer Konsistoriums reagiert und ihre Zustimmung erteilt, der aufs Neue zum Leben erweckten einheitlichen Kirchenorganisation unter Leitung der Bischöfe von Moskau und Sankt Petersburg beizutreten.  

Das Gebetshaus in Sichelberg wurde entsprechend einem offiziellen Beschluss des Präsidiums des Zentralen Exekutivkomitees von 1928 geschlossen, da sich die meisten Mitglieder der Kirchengemeinde für dessen Beseitigung ausgesprochen hatten.

Der Probst vom linken Wolgaufer, Pastor Otto Heinrich Harff (1872 – nach 1937), der in einem Seminar des US-Staates South Dakota seine Ausbildung und Ordination erhalten hatte, wirkte in Gnadenflur mit einigen Unterbrechungen von 1913 bis einschließlich 1931 und betreute ab 1929 gleichzeitig auch die Gemeinden des Kirchenspiels Kukkus (heute: Jablonowka im Verwaltungsgebiet Saratow). 1930 wurde er das erste Mal verhaftet. Nach der zweiten Verhaftung 1931 wurde er verurteilt und bis 1937 verbannt. Nach der Freilassung 1937 unterrichtete er Englisch und Deutsch an der Universität von Perm.

Liste der Pastoren des Kirchenspiels Gnadenflur, die in der Gemeinde Sichelberg wirkten. 1862–1888 – Carl Erich Wahlberg. 1890–1891 – Hans August Leyst. 1894 – Ernst Theophil David. 1895–1909 – Johannes Pastrauts. 1909–1912 – Alexander Rothermel. 1913–1931 – Otto Harff.

Bevölkerungszahl. 1850 betrug die Bevölkerungszahl in Sichelberg 227 Einwohner, 1857 – 307, 1883 – 687 und 1889 – 680 Menschen. Laut Angaben der Allgemeinen Bevölkerungszählung des Russischen Reichs von 1897 lebten in Sichelberg 849 Menschen, davon waren 842 Deutsche. Mit Stand von 1904 gab es im Dorf 1090 Einwohner, 1910 – 1416 Einwohner. Gemäß den Daten der Gesamtrussischen Bevölkerungszählung von 1920 lebten in Sichelberg 1202 Menschen. Sie alle waren Deutsche. 1921 wurde im Dorf 71 Menschen geboren, 168 Menschen verstarben. Nach Angaben der Statistischen Gebietsverwaltung des Autonomen Gebietes der Wolgadeutschen lebten mit Stand vom 1. Januar 1922 983 Menschen in Sichelberg, 1923 – 956 Menschen. Laut Angaben der Gesamtrussischen Bevölkerungszählung von 1926 machten die Bevölkerung des Dorfes 864 Menschen aus, darunter 861 Deutsche. 1931 lebten in Sichelberg 1005 Einwohner, davon – 997 Deutsche.

Das Dorf heute. Nunmehr das Dorf Serpogorje im Fjodorowskij-Verwaltungskreis des Verwaltungsgebietes Saratow. Es ist recht schwierig, Serpogorje als ein richtiges Dorf zu bezeichnen. Derzeit leben hier nur zwei Familien von Landwirten. Doch auf dem verbliebenen Territorium des einstigen Sichelbergs sind deutlich die Standorte der früheren Häuser, Fundamentreste, Anhöhen und Gruben auszumachen. Es sind keinerlei deutsche Bauten erhalten geblieben. Auf dem kleinen Friedhof ist inmitten mehrerer Grabstätten der 1970er und 1980er Jahre ein der Form des Kreuzes nach zu urteilen namenloses deutsches Grab erhalten geblieben. 

INHALT

Archive

Staatliches Archiv des Saratower Verwaltungsgebietes. F. 180. Op. 1. D. 279; F. 637. Op. 38. D 62; Staatliches Historisches Archiv der Wolgadeutschen. F. 849. Op. 1. D. 1263. L. 1; F. 1831. Op. 1. D. 299. L. 47.

Literatur

German, A. A.. Nemeckaja avtonomija na Volge (Die deutsche Autonomie an der Wolga). 1918–1941. Teil II. Avtonomnaja respublika (Die Autonome Republik). 1924–1941. – Saratow, 1992–1994; Knjazeva, E. E., Solov’eva, F. Ljuteranskie zerkvi i prichody ХVIII – ХХ vv. Istoričeskiy spravočnik  (Lutherische Kirchen und Kirchenspiele des 18. – 20. Jh. Historisches Handbuch). – Sankt Petersburg, 2001. Teil I; Amburger, E. Die Pastoren der evangelischen Kirchen Russlands vom Ende des 16. Jahrhunderts bis 1937. Ein biographisches Lexikon. – Martin-Luther-Verlag, 1988.

Autoren: Lizenberger O.A.

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