RU

neue
illustrierte elektronische

NEU-BOARO (Neu-Boisroux, Nowoje Boaro, Nowoje Bordowoje), heute existiert nicht mehr; deutsche Kolonie am linken Wolga-Ufer

Rubrik: Geschichte und Geographie der Ansiedlung der Deutschen im Russischen Reich, in der UdSSR und GUS / Geschichte der Ansiedlung

NEU-BOARO (Neu-Boisroux, Nowoje Boaro, Nowoje Bordowoje), heute existiert nicht mehr; deutsche Kolonie am linken Wolga-Ufer, am linken Ufer des Flusses Bolschoj Karaman. Lag 465 Werst von Samara, 130 Werst von der Ujesd-Zentrale Nowousensk und 15 Werst vom Wolost-Dorf Alexanderhöh entfernt. Von 1871 bis Oktober 1918 gehörte das Dorf zur Wolost Nieder-Karaman, Ujesd Nowousensk, Gouvernement Samara.

Nach der Gründung der Arbeitskommune der Wolga-Deutschen war das Dorf Neu-Boaro bis 1941 das Verwaltungszentrum des Dorfrates Neu-Boaro, Kanton Mariental (Tonkoschurowka). 1926 gehörten zum Dorfrat Neu-Boaro das Dorf Neu-Boaro und das Vorwerk „Nowaja Schisn“ (Neues Leben).

Die deutsche Kolonie Neu-Boaro entstand 1848 als eine Tochterkolonie. Ihre Gründer waren Kolonisten, die früher in den Mutterkolonien Boaro (heute Dorf Borodajewka, Rayon Marx, Gebiet Saratow), Orlowskoje (heute Dorf Orlowskoje, Rayon Marx, Gebiet Saratow), Paulskoje (heute Dorf Pawlowka, Rayon Marx, Gebiet Saratow), Philippsfeld (heute Dorf Philippowka, Rayon Marx, Gebiet Saratow) lebten. 1848 wurde vom Fürsorgekontor für ausländische Ansiedler die Frage „über Gründung der neuen Kolonie Neu-Boaro“ und Bereitstellung dafür von Grund und Boden geprüft. Zeitgleich mit Neu-Boaro entstanden auf dem linken Wolga-Ufer mehrere weitere Kolonien. 1855 wurde vom Fürsorgekontor das Dokument „Über Gründung neuer Kolonien Rosendamm, Wiesenheim, Fresental, Neu-Boaro, Siegelberg, Lilienfeld, Alexanderdorf, Weizenfeld“ verabschiedet.

Den Namen „Neu-Boaro“, zurückgehend auf das deutsche Wort „Neu-“ und französische Wörter „bois“ – Wald und „roux“ – „rötlich“, erhielt die Kolonie nach der Bezeichnung der Mutterkolonie Boaro (Bordowoje). Den Namen Bordowoje erhielt diese Kolonie nach 1915, als sich im Lande eine deutschfeindliche Kampagne entfaltete. Nach der Gründung im Jahre 1918 der Arbeitskommune der Wolga-Deutschen erhielten die Dörfer wieder ihre deutschen Namen.

Laut der 10. Bevölkerungszählung von 1857 lebten in Neu-Boaro 161 männliche Kolonisten, jeder von ihnen besaß Landparzelle mit einer Fläche von jeweils ca. 12,7 Desjatinen Land. Die Kolonisten betrieben vorwiegend Ackerbau, bauten Weizen, Roggen, Hafer an. Laut Angaben des Statistikkomitees des Gouvernement Samara zählte die Kolonie 120 Gehöfte und hatte eine Windmühle. In den Jahren der Sowjetmacht gab es im Dorf einen genossenschaftlichen Verkaufsladen, eine landwirtschaftliche Kreditgenossenschaft. Im September 1941 wurden die Deutschen aus dem Dorf deportiert.

Schule und Ausbildung der Kinder. Eine Kirchenschule wurde im Dorf bei seinem Entstehen in 1848 eröffnet. Vor der Errichtung der Kirche fand der Gottesdienst im Dorf im Schul- und Bethaus statt. Die Kirchenschule, die im Dorf bei seiner Gründung eröffnet wurde, wurde von Kindern vom 7. bis zum 15. Lebensjahr besucht. Die Kirchenschulen verfolgten in erster Linie das Ziel, die junge Generation im Bereich des Glaubens zu unterweisen. In der Schule gab es Religionsunterricht, darüber hinaus wurden Kirchengesang, Lektüre der kirchlichen und weltlichen Literatur, Schreiben, Arithmetik unterrichtet, Grundkenntnisse über die Weltgeschichte vermittelt. Der Lesestoff hatte in der Regel religiösen Inhalt. Der Unterricht wurde von Küstern-Schulmeistern erteilt und dauerte von 8.00 bis 11.00 Uhr vormittags und vom 14.00 bis 16.00 nachmittags. Der Unterricht fand vom 20. August bis zum 20. Juni statt, den Rest der Zeit widmeten die Kinder zusammen mit dem Lehrer den Agrararbeiten. So wurde in einem der Beiträge unter dem Titel „Anweisungen über innere Ordnung und Verwaltung in den Wolga-Kolonien“, bewilligt vom Kaiser am 16. September 1800, die Einbeziehung der Kinder nach dem 10. Lebensjahr in die Agrararbeiten vorgesehen: „Damit die Winter- und Sommersaat nicht vom Unkraut erstickt, soll man sich bemühen, das Ackerland möglichst gut zu eggen, damit keine ungebrochenen Brocken zurückbleiben, und dann, sobald die Saat zu treiben anfängt und sich Unkraut zeigt, tüchtig zu jäten, indem Minderjährige ab dem 10. Lebensjahr einzubeziehen sind.“

Ende des 19. Jh. wurde im Dorf eine Semstwo-Schule vorwiegend für Jungen eröffnet, in der es den Russischunterricht gab. In den Jahren der Sowjetmacht wurden die beiden Schulen geschlossen und in eine Grundschule umgewandelt.

Konfessionelle Bindung der Einwohner und Kirche. Die Mehrheit der Kolonisten war evangelisch-lutherisch. Die Siedler aus Philippsfeld waren Anhänger der Reformierten Kirche. In den ersten Jahren nach seiner Gründung gehörte Neu-Boaro wegen seiner Entfernung zu keinem damals existierenden lutherischen Kirchenspiel. Die Kirchengänger hatten einen Küster-Schulmeister und wurden auf regelmäßiger Basis von Pastoren aus dem Kirchenspiel Reinhardt und seltener von Pastoren betreut, die in den Mutterkolonien der neuen Siedler wie Nord- und Süd-Katharinenstadt und Rjasanowka tätig waren. Erst 1859 wurde die hiesige Kirchengemeinde von den geistlichen Behörden als ein eigenständiges Gebilde mit Bedarf nach einem Pastor anerkannt. Seit 1862 gehörte die Gemeinde Neu-Boaro zum Kirchenspiel Fresental, die laut Erlass vom 14. Oktober 1862 gegründet wurde. Neben Neu-Boaro gehörten zu diesem Kirchenspiel drei weitere Gemeinden, nämlich Fresental (heute Dorf Nowolipowka, Sowjetskij Rayon, Gebiet Saratow), Neu-Urbach (heute Dorf Nowoantonowka, Sowjetskij Rayon, Gebiet Saratow) und Lilienfeld (heute existiert nicht mehr). 1905 zählte das Kirchenspiel Fresental, zu der die Gemeinde Neu-Boaro gehörte, 4378 Mitglieder.

Das erste Kirchengebäude entstand im Dorf erst 40 Jahre nach der Gründung. Es wurde im Frühjahr 1888 von den Siedlern der Mutterkolonie Philippsfeld für einen bescheidenen Betrag von 5 Tausend Rubel käuflich erworben. Ein Kirchenneubau würde den Dorfbewohnern mindestens das Fünffache kosten. Das Kirchengebäude aus Holz wurde sorgfältig demontiert, nach Neu-Boaro verlegt und dort auf einem neuen Steinfundament aufgestellt.

Am 12. Juni 1888 fand im Dorf die feierliche Grundsteinlegung für ein neues Kirchengebäude statt, der die Pastoren aus benachbarten Kirchenspielen sowie geladene weltliche Gäste beiwohnten. Die Veranstaltung wurde vom Pastor des Kirchenspiels Fresental Friedrich Ernst Heinrichsen geleitet. Die Errichtung der Kirche wurde erst ein Jahr darauf vollendet und am 30. April 1889 wurde die Kirche geweiht. Sie galt als eine Außenstelle und hatte keine großen Abmessungen, konnte jedoch gleichzeitig nahezu die gesamte erwachsene Bevölkerung der Kolonie aufnehmen, die zum Gottesdienst kam (per 1888 lebten in Neu-Boaro weniger als 600 Personen, einschl. Kinder). In der Kirche wurden geschnitzte Bänke für 300 Betende aufgestellt. Mit der Zeit wurde diese Kirche für die wachsende Kolonie zu klein und konnte alle Kirchengänger nicht mehr aufnehmen. Deswegen wurde sie bereits 1905 um- und ausgebaut. Darüber hinaus gab es in Neu-Boaro ein recht geräumiges Schul- und Bethaus, das sich unweit der Kirche befand.

Viele Pastoren des Kirchenspiels hatten interessante Lebensgeschichte. So stammte z. B. der Pastor Samuel Theophil Bonwetsch (1832–1906) aus der Familie eines Geistlichen. Sein Vater Christoph Heinrich Bonwetsch (1804–1876) war Oberpastor der Separatistischen Kirche Transkaukasiens, Probst der Gebiete am rechten Wolga-Ufer, Pastor in Norka und Splawnucha, einer der Funktionäre beim organisatorischen Werden der evangelisch-lutherischen Kolonien Transkaukasiens, die bis 1918 vom Evangelisch-lutherischen Generalkonsistorium unabhängig waren und eigene Kirchenführung hatten. Die Brüder und Neffen von Samuel Theophil entschieden sich ebenfalls für die Laufbahn der Geistlichen. Der Bruder Gottlieb Nathanael (1848–1925), Pastor in Norka, war als Verfasser des Buches „Deutsche Kolonien an der Wolga“ bekannt. Der Sohn von Samuel Theophil, Friedrich Samuelewitsch (1861 – nach 1928), war Pastor in Tomsk, Pjatigorsk, Rostow und Baku, wurde Repressalien ausgesetzt. 27 lange Jahre diente in der Gemeinde Neu-Boaro und in dem Kirchenspiel Fresental der Pastor Friedrich Ernst Heinrichsen, der 1859 in einem Vorort von Riga geboren wurde und im Alter von 28 Jahren seinen Dienst in den Gemeinden des Kirchenspiels aufnahm.

In den Jahren der Sowjetmacht hatte die Gemeinde, ebenso wie das gesamte Kirchenspiel keinen Pastor, jedoch ging das kirchliche Leben im Dorf weiter. Der Gottesdienst wurde vom Küster abgehalten. 1931 gingen dem Präsidium des Zentralen Exekutivkomitees der ASSR der Wolga-Deutschen von der regionalen Kommission für Prüfung religiöser Fragen vertrauliche Angaben zu, denen zufolge es im Dorf Neu-Boaro 304 Gläubige gab, von denen 20 zur Kategorie derjenigen gezählt wurden, denen die politischen Rechte aberkannt worden waren. Einige Jahre später wurde die Kirche geschlossen, ähnlich wie Hunderte andere Kirchen aller Konfessionen.

Liste von Pastoren des Kirchenspiels Fresental, die in der Gemeinde Neu-Boaro dienten: 1862–1869 hatte das Kirchenspiel keinen Pastor, 1869–1873 – Isaak Theophil Keller, 1875–1876 Samuel Theophil Bonwetsch, 1879–1881 – Karl Theodor Wilhelm Blum, 1881–1887 hatte das Kirchenspiel keinen Pastor, 1887–1914 – Friedrich Ernst Heinrichsen.

Bevölkerungszahl. 1850 lebten in Neu-Boaro 283 ausländische Kolonisten, 1857 waren es 308 und 1889 618 Personen. Laut der Volkszählung von 1897 hatte Neu-Boaro 596 Einwohner, 593 von ihnen waren Deutsche. 1905 zählte die Bevölkerung des Dorfes 962 Menschen, 1910 waren es 1109 Menschen. Laut Angaben der Gesamtrussischen Volkszählung von 1920 lebten in Neu-Boaro 973 Einwohner, alle waren Deutsche. 1921 kamen im Dorf 61 Personen zur Welt, 111 Personen verstarben. Nach Angaben der Statistikverwaltung des Autonomen Gebiets der Wolga-Deutschen lebten in Neu-Boaro zum 1. Januar 1922 г. insgesamt 583 Menschen. Laut Angaben der Gesamtrussischen Volkszählung von 1926 gab es im Dorf 133 Haushalte (davon 132 deutsche) mit einer Bevölkerungszahl von 633 Personen (davon 310 Männer und 323 Frauen), unter ihnen gab es 630 Deutsche (davon 309 Männer und 321 Frauen). 1931 zählte Neu-Boaro 938 Einwohner, davon 917 Deutsche.

Das Dorf heute. Zurzeit existiert das Dorf nicht mehr. Heute stellt das Gelände des früheren Dorfes eine unbewohnte Ortschaft in der Umgebung des Dorfes Nowolipowka, Sowjetskij Rayon, Gebiet Saratow, dar. Die Anpassungs- und Alltagsprobleme, die bei den hier in den Kriegsjahren ankommenden Neusiedlern aufkamen, sowie die in den 1960er Jahren durchgeführte staatliche Kampagne zur Auflösung der Dörfer „ohne Perspektive“ hatten einen Rückgang in der Gesamtzahl der ländlichen Bevölkerung und die Auflösung des früheren Dorfes Neu-Boaro zur Folge, ähnlich wie die der zahlreichen früheren deutschen Siedlungen. 

INHALT

Archive

ГАСО. Ф. 180. Оп. 1. Д. 36; Д. 279. Л. 193; Ф. 637. Оп. 35. Д. 79–81; ГИАНП. Ф. 229. Оп. 1. Д. 1–2; Ф. 849. Оп. 1. Д. 834. Л. 57–66.

Literatur

Князева Е.Е., Соловьева Ф. Лютеранские церкви и приходы ХVIII–ХХ вв. Исторический справочник. – СПб., 2001. Часть I; Немецкие населенные пункты в Российской Империи: География и население. Справочник / Сост.: В.Ф. Дизендорф. – М., 2002; Немцы России: населенные пункты и места поселения: энциклопедический словарь / Сост.: В.Ф. Дизендорф. – М., 2006; Список населенных мест Самарской губернии. Самара, 1910; Amburger E. Die Pastoren der evangelischen Kirchen Russlands vom Ende des 16. Jahrhunderts bis 1937. Ein biographisches Lexikon. – Martin-Luther-Verlag, 1988; Bonwetsch G. Geschichte der deutschen Kolonien an der Wolga. Stuttgart, 1919; Stumpp K. Verzeichnis der ev. Pastoren in den einzelnen deutschen und gemischten Kirchspielen in Russland bzw. der Sowjetunion, ohne Baltikum und Polen // Die Kirchen und das religiöse Leben der Russlanddeutschen. Evangelischer Teil. Bearbeitung J. Schnurr. – Stuttgart, 1978.

Autoren: Lizenberger O.A.

ЗEINE FRAGE STELLEN