RU

neue
illustrierte elektronische

GNADENTAU (Gnadentau, Rosnoje, Sobatschi Kolonok), heute Dorf Werchni Jeruslan (Rayon Staraja Poltawka, Gebiet Wolgagrad)

Rubrik: Geschichte und Geographie der Ansiedlung der Deutschen im Russischen Reich, in der UdSSR und GUS / Geschichte der Ansiedlung
с. Верхний Еруслан. Фото Е. Мошкова. 2010 г.
с. Верхний Еруслан. Евангелическо-лютеранская церковь. Фото Е. Мошкова. 2010 г.
с. Верхний Еруслан. Дом молитвы, ранее церковно-приходская школа. Фото Е. Мошкова. 2010 г.
с. Верхний Еруслан. Евангелическо-лютеранская церковь. Фото Е. Мошкова. 2010 г.

GNADENTAU (Gnadentau, Rosnoje, Sobatschi Kolonok), heute Dorf Werchni Jeruslan (Rayon Staraja Poltawka, Gebiet Wolgagrad); im linksufrigen Wolgagebiet am linken Ufer des Flusses Jeruslan, 446 Werst von Samara, 150 Werst von Saratow und 150 Werst von der Bezirksstadt Nowousensk gelegene deutsche Kolonie, die von 1871 bis Oktober 1918 zum Amtsbezirk Torgun bzw. nach 1914 zum Amtsbezirk Lugowoje (Bezirk Nowousensk, Gouvernement Samara) gehörte.

Nach der Gründung der Arbeitskommune der Wolgadeutschen war das Dorf Gnadentau bis 1941 Verwaltungszentrum des gleichnamigen Dorfsowjets. Ursprünglich gehörte Gnadentau zum Rayon Torgun (Bezirk Rownoje), nach der im Jahr 1921 erfolgten Auflösung der Bezirke zunächst zum Rayon Rownoje und von 1922 bis zur im Jahr 1941 erfolgten Auflösung der ASSR der Wolgadeutschen zum neu eingerichteten Kanton Staraja Poltawka. Nach der Deportation der Deutschen und der Abschaffung der Kantone fiel Gnadentau als Teil des Rayons Staraja Poltawka an das Gebiet Wolgagrad und wurde in Werchni Jeruslan umbenannt.

Die Kolonie wurde 1860 als Tochterkolonie gegründet. Ihre Gründer waren Kolonisten, die zuvor in den Mutterkolonien Grimm/Lesnoj Karamysch (heute Siedlung Kamenski, Rayon Krasnoarmeisk, Gebiet Saratow), Dittel/Oleschna (heute Aleschniki, Rayon Schirnowsk, Gebiet Wolgograd), Merkel (heute Makarowka, Rayon Schirnowsk, Gebiet Wolgograd ), Müller/Krestowy Bujerak (heute aufgegeben), Mühlberg (heute Schtscherbakowka, Rayon Kamyschin, Gebiet Wolgograd), Rossoschi/Franzosen (heute Perwomaiskoje, Rayon Krasnoarmeisk, Gebiet Saratow), Ust-Kulalinka (heute Galka, Rayon Kamyschin, Gebiet Wolgograd), Schwab/Butowka (Rayon Kamyschin, Gebiet Wolgograd), Stefan/Wodjanoj Bujerak (heute Wodnobujeratschnoje, Rayon Kamyschin, Gebiet Wolgograd) gelebt hatten.

Der deutsche Name der Kolonie geht wörtlich auf die beiden Wortbestandteile “Gnade“ und „Tau“ zurück. Von der Übersetzung des deutschen Wortes „Tau“ („rossa“) leitet sich auch der russische Name der Kolonie Rosnoje ab.

1888 gab es im Dorf 172 Haushalte und 140 Wohnhäuser (80 Holz- und 60 Lehmziegelhäuser). 52 Bewohner von Gnadentau waren im örtlichen Gewerbe tätig und arbeiteten in den elf im Dorf ansässigen Handels- und Gewerbebetrieben (u.a. eine Sarpinka-Weberei, eine Färberei und eine Mühle). Im Dorf gab es eine Schenke. Die Bewohner von Gnadentau waren vor allem im Ackerbau tätig und auf den Anbau von Weizen spezialisiert, der auf einer etwa vier Mal so großen Fläche wie Roggen angebaut wurde. Jahre mit guten Ernteerträgen wechselten mit Jahren der Missernte. Große Bedeutung für die Entwicklung der Landwirtschaft hatten die natürlich-klimatischen Gegebenheiten. In der Umgebung der Siedlung gab es vor allem salzige Lehm- und Sandböden, was die Vegetation einschränkte.

Die Bewirtschaftung des Landes erfolgte nach dem Gemeinschaftsprinzip. Viele Kolonisten zogen es vor, nicht nur eine, sondern zwei bis drei (64 der insgesamt 172 Landwirte), oder sogar vier und mehr (83) Parzellen zu bewirtschaften. Angesichts der großen Bedeutung der Landwirtschaft waren die Siedler bemüht, Inventar und Anbaumethoden zu modernisieren. 1888 gab es im Dorf 78 Eisenpflüge, 49 Windsichten und drei Erntemaschinen. 65 Landwirte verfügten über modernes landwirtschaftliches Gerät, das sie selbst produzierten oder aus anderen deutschen Siedlungen bezogen. Die anderen Landwirte nutzten einfache, in Heimarbeit hergestellte Gerätschaften. 1908 gab es in Gnadentau fünf mit Pferden betriebene Dreschmaschinen, 150 sogenannte „Schnitter“ (einfache bei der Getreideernte eingesetzte Mähmaschinen, deren Nutzung erheblichen Kraftaufwand erforderte, da nur die Stängel abgeschnitten wurden und der Bauer das Getreide mit der Forke von der Plattform schaufeln musste, wobei etwa 20-30% des Getreides verlorengingen). Während das landwirtschaftliche Gerät in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor allem von Pferden gezogen wurde, kamen Anfang des 20. Jahrhunderts zunehmend Kamele zum Einsatz. 1888 verfügten die in Gnadentau ansässigen Siedler über 625 Arbeitspferde, 327 Ochsen, 410 Kühe, 1.269 Schafe, 148 Ziegen und 426 Schweine. 1908 hatten die Dorfbewohner 716 Pferde, 495 Ochsen und 80 Kamele. 1907 wurde im Dorf eine Verbrauchergesellschaft gegründet. Nach Stand zum Jahr 1908 gab es im Dorf 186 Höfe. 1910 war deren Zahl auf 207 gestiegen. Im Ort gab es eine Ölmühle und drei Windmühlen. 1906 wurde eine Verbrauchergesellschaft gegründet, der im Jahr 1910 68 Personen angehörten.

In den 1920er Jahren gab es in Gnadentau einen Klub, einen Genossenschaftsladen, eine landwirtschaftliche Kreditgenossenschaft, eine Fleisch- und Käse-Kolchose sowie die Kolchose „S. Ordschonikidse“. 1928 wurde am Fluss Jeruslan ein Staudamm errichtet. Im September 1941 wurden die Deutschen aus dem Dorf deportiert, das seit 1942 den Namen Werchni Jeruslan trägt.

Schule und Erziehungswesen. Die erste kirchliche Gemeindeschule wurde im Dorf unmittelbar nach dessen Gründung errichtet. Die Namen der Schulmeister sind größtenteils nicht überliefert. Bekannt ist allerdings, dass der erste an der Schule tätige Lehrer Becker hieß. Bei dem ersten in der Kolonie errichteten Schulgebäude handelte es sich um einen Holzbau. Später baute die Kirchengemeinde auf eigene Kosten ein für die Schule bestimmtes Backsteingebäude, in dem heute das Bethaus der lutherischen Gemeinde untergebracht ist. Im 19. Jahrhundert fand der Unterricht in zwei Schichten statt. Für die Verbreitung der Lese- und Schreibfähigkeit unter den Dorfbewohnern spielte die in den 1880er Jahren erfolgte Gründung einer zweiten Schule eine große Rolle, bei der es sich um eine Semstwo-Schule handelte, in der die Kinder Religion, Lesen und Schreiben, Rechnen, Gesang und Russisch lernten. 1888 waren 792 der insgesamt 1.100 Dorfbewohner alphabetisiert (67,9% der gesamten Bevölkerung), davon 298 erwachsene Männer und 266 erwachsene Frauen sowie 109 Jungen und 119 Mädchen. In 139 der insgesamt 172 Haushalte war mindestens ein Familienmitglied des Lesens und Schreibens kundig.

Nach den von Pastor J. Erbes, dem Probst des linksufrigen Wolgagebiets, zum Stand des deutschen Schulwesens zusammengetragenen Daten waren im Jahr 1906 300 der insgesamt 2.080 Einwohner Kinder im Alter von 7-15 Jahren, die zum Besuch einer Elementarschule verpflichtet waren. Allerdings besuchten in Gnadentau nicht alle Kinder im schulpflichtigen Alter auch wirklich die Schule. 40 Kinder blieben dem Unterricht fern, weil ihre Eltern arm oder auf die tägliche Mithilfe der Kinder in Handwerk und Gewerbe angewiesen waren. Im Jahr 1906 besuchten 66 Jungen und 44 Mädchen die Semstwo-Schule, an der zwei Lehrer tätig waren. An der Kirchenschule lernten 60 Jungen und 90 Mädchen bei ebenfalls zwei Lehrern. Beide Schulen wurden auf Kosten der Kirchengemeinde unterhalten. Bis 1912 war Heinrich Jung und anschließend bis 1914 sein Bruder Johann Jung Lehrer der Semstwo-Schule. In sowjetischer Zeit wurden beide Schulen geschlossen und zu einer Grundschule zusammengelegt.

Religionszugehörigkeit der Bevölkerung und Kirche. Die Kolonisten waren evangelisch-lutherischer Konfession. Schon zum Zeitpunkt der 1860 erfolgten Gründung der Kolonie befasste sich das Fürsorgekontor der ausländischen Siedler mit Plänen, in Gnadentau eine eigene Pfarrgemeinde einzurichten, deren Umsetzung sich allerdings lange hinzog. In den Jahren 1863-76 gehörte die Gemeinde Gnadentau zum Pfarrsprengel Morgentau, der im Jahr 1863 für die in der Steppe des linksufrigen Wolgagebiets gelegenen neuen deutschen Kolonien gegründet worden war. Als dieser im Jahr 1876 in die beiden Pfarrsprengel Gnadentau und Weimar geteilt wurde, wurde Gnadentau zum Zentrum des am 9. Oktober 1876 gegründeten gleichnamigen Pfarrsprengels, zu dem neben Gnadentau auch die deutschen lutherischen Siedlungen Wiesenmüller (heute Dorf Lugowskoje, Rayon Rownoje, Gebiet Saratow), Friedenberg (heute Dorf Mirnoje, Rayon Rownoje, Gebiet Saratow), Kano (heute Dorf Kano, Rayon Staraja Poltawka, Gebiet Wolgograd), Morgentau (heute Dorf Sujetinowka, Rayon Staraja Poltawka, Gebiet Wolgograd) und Blumenfeld (heute aufgegeben) gehörten.

Nach der Gründung des Pfarrsprengels Gnadentau, in dem 1876 etwa 9.000 Gemeindemitglieder lebten, brauchte die Gemeinde dringend eine Pfarrkirche, da es im Dorf zu diesem Zeitpunkt nur ein Bethaus gab. Als im Jahr 1883 der erste Pastor Gustav Thomson in die Gemeinde kam, wurde ein Pfarrhaus gebaut und die Sammlung von Spenden für den Bau der Kirche eingeleitet, die sich lange 16 Jahre hinzog und in allen sechs Dörfern des Sprengels betrieben wurde. Schließlich wurde in der Kolonie im Jahr 1898 eine Kirche errichtet, die den Status einer Pfarrkirche hatte.

Beim Bau der Kirche entschieden sich die Bewohner von Gnadentau gegen den in den deutschen Kolonien verbreiteten sogenannten „Kontorstil“ und gaben einem im Stil der Neogotik gehaltenen roten Backsteinbau den Vorzug, der ein wahres architektonisches Schmuckstück darstellte und der bereits 1877 nach Plänen des Berliner Architekten Johann Eduard Jacobsthal (1839-1902) errichteten Jesus-Kirche in Zürich (heute Sorkino, Rayon Marx, Gebiet Saratow) ähnelte. Professor Jacobsthal, Geheimrat, Rektor der Technischen Universität Berlin-Charlottenburg und Mitglied der deutschen Akademie der Künste, war für seine Lehre der Ornamentik und seine raffinierten architektonischen Projekte bekannt. Nach seinen Plänen wurden die Berliner Stadtbahnstationen Alexanderplatz und Bellevue, die Bahnhöfe in Colmar, Metz und Straßburg (Frankreich) sowie der neogotische Turm der St. Moritz-Kirche in Mittenwalde (Deutschland) gebaut.

Im Auftrag der Gemeinde Zürich arbeitete Jacobsthal 1873 den Entwurf einer Kirche aus, der von dem bei der Bauabteilung der Gouvernementsverwaltung Samara tätigen Architekten Muraschow geprüft und am 13. September 1873 gebilligt wurde. Wenige Jahre später (1879) errichtete der bereits am Bau der Zürichеr Kirche beteiligte Saratower Architekt Karl Thieden für die lutherische Gemeinde in Saratow eine exakte Kopie dieses Bauwerks. Die im Jahr 1898 errichtete, bis auf einige Abweichungen in der Apsis nahezu baugleiche Gnadentauer Kirche war schließlich die dritte nach diesen Plänen erbaute Kirche. Angesichts der hohen Kosten, die ein gänzlich neues Projekt verursacht hätte, waren die Gemeindemitglieder gezwungen, auf die bereits vorhandenen Entwürfe zurückzugreifen.

In ihrer Schönheit können alle drei Kirchen vollauf mit den besten Beispielen der deutschen und europäischen Architektur konkurrieren. Glücklicherweise unterschieden die Architekten und Pastoren nicht zwischen zentralen und zweitrangigen Kirchen, so dass die Gnadentauer, die sich keineswegs als Bewohner eines unbedeutenden Dorfes bzw. einer unbedeutenden Gemeinde sahen, bei der Wahl ihres Kirchenprojektes einem bekannten europäischen Meister den Vorzug geben konnten. Die architektonische Komposition des Gotteshauses, seine Raumverhältnisse und Proportionen, der elegante Turmhelm mit seinen dreieckigen Gauben und dem wie am Himmel schwebenden Kreuz, der ornamentgeschmückte rechteckige Glockenturm mit seinen in alle Himmelsrichtungen weisenden paarigen Bogenfenstern, die filigranen Kreuze auf den Turmspitzen und andere charakteristische Details machten die Kirche zu einer der schönsten im Wolgagebiet. Das Kirchengestühl bot Platz für 1.000 Betende. Auf dem neben der Kirche gelegenen zentralen Dorfplatz befanden sich das Pfarrhaus, das Bethaus, die Schule und ein hölzerner Glockenstuhl.

Der Pfarrsprengel Gnadentau wurde wie auch einige andere an der Wolga gelegene Sprengel unter der Leitung des Probstes des linksufrigen Wolgagebiets Franz Karl Hölz (1806-1883) gegründet, der in den Jahren 1834-83 Pastor in der fast 80 km von Gnadentau entfernt gelegenen Gemeinde Warenburg war, in den ersten Jahren nach der Gründung der Kolonie aber immer wieder nach Gnadentau kam, um dort zu predigen und kirchliche Zeremonien zu vollziehen. Im Zuge der in den 1870er und 1880er Jahren vollzogenen Neuordnung des linksufrigen Kirchenbezirks wurden unter Leitung von Hölz die drei neuen Pfarrsprengel Gnadentau, Weimar (jeweils 1876) und Brunnental (1882) gegründet, wodurch die Zahl der im linksufrigen Kirchenbezirk bestehenden Pfarrsprengel auf 18 stieg.

In den ersten sieben Jahren ihres Bestehens hatte die neugegründete Pfarrgemeinde keinen eigenen Pastor. Erst am 6. Februar 1883 kam der 26-jährige Absolvent der Theologischen Fakultät der Universität Dorpat und in der Kolonie Wolskoje ordinierte Pastor Gustav Thomson (1857–1913) auf Einladung der Gemeindemitglieder nach Gnadentau, wo er sich voller Enthusiasmus daran machte, die mit dem Aufbau der Pfarrgemeinde und der Sammlung der für den Bau einer Kirche benötigten Mittel verbundenen Probleme der Kirchengemeinde zu lösen. Laut Kirchenchroniken war er unter den Gemeindemitgliedern äußerst beliebt und wurde für seine Verdienste um die im Wolgagebiet lebenden Lutheraner 1891 sogar mit dem Goldenen Brustkreuz ausgezeichnet. Am 10. April 1888 wurde Thomson allerdings an die lutherische Gemeinde Saratow berufen, wo er am 7. August des gleichen Jahres seinen Dienst als Pastor antrat. 1893 wurde Thomson Probst des rechtsufrigen Wolgagebiets und besuchte in dieser Eigenschaft oft die Gemeinde Gnadentau. Als er 1913 in Saratow verstarb, vermachte er den in Gnadentau ansässigen wohltätigen Einrichtungen 1.000 Rubel aus seinem Privatvermögen.

Weit über die Grenzen des Pfarrsprengels hinaus bekannt war die 1892 in Gnadentau gegründete Wohltätige Gesellschaft mitsamt dem Alten- und Waisenheim „Haus der Barmherzigkeit Bethel“ (dessen Gebäude heute nicht mehr erhalten ist), in dem Ende des 19. Jahrhunderts 50 Alte, mittellose Kranke und Waisenkinder Aufnahme fanden. Zu den Aufgabenfeldern der Wohltätigen Gesellschaft gehörte es, alte Menschen mit Essen, Obdach und Kleidung zu versorgen, Arbeitsfähige bei der Arbeitssuche zu unterstützen, bettelnden Kindern den Schulbesuch zu ermöglichen, Bedürftigen medizinische Hilfe zukommen zu lassen und auswärtigen Bedürftigen bei der Rückkehr an ihre Heimatorte zu helfen.

Mit der Etablierung der Sowjetmacht wurden im Land zahlreiche Maßnahmen eingeleitet, die den Einfluss der Kirche auf Staat und Gesellschaft beseitigen und in letzter Konsequenz der Tätigkeit aller Konfessionen ein Ende setzen sollten. 1931 informierte die regionale Kommission für die Prüfung religiöser Angelegenheiten das Präsidium des Zentralexekutivkomitees der ASSR der Wolgadeutschen in einem geheimen Bericht, dass die Kirche noch nicht geschlossen sei und es in der Kirchengemeinde noch 1.141 Gläubige gebe, von denen sieben den Status von „Lischenzy“ hätten, ihnen also das Wahlrecht und andere bürgerliche Rechte aberkannt waren. Pastor Schilling, der das Leningrader Predigerseminar absolviert hatte und in dieser geheimen Mitteilung als Gegner der „Direktiven der Sowjetmacht und der Kolchosen“ charakterisiert wurde, wurde am 23. Februar 1935 unter der Anschuldigung, konterrevolutionäre Propaganda betrieben zu haben, verhaftet und zu zehn Jahren Freiheitsentzug im Arbeitsbesserungslager verurteilt. Er starb im Lager.

Durch die Beschlussfassung des Präsidiums des Zentralexekutivkomitees von 1929 „Über die Regulierung des Glockengeläuts in den Kirchen“ wurde das Läuten der Kirchenglocken eingeschränkt bzw. an einigen Orten gänzlich verboten, woraufhin in den Kirchen die Entfernung der Glocken begann. Am 15. September 1934 informierte die Kommission für Kultfragen beim Zentralexekutivkomitee der ASSR der Wolgadeutschen das Präsidium der ASSR der Wolgadeutschen, dass das Gebäude der Gnadentauer Backsteinkirche von den Gläubigen noch genutzt werde und die Kirche fünf 48 Pud schwere Glocken habe, weswegen die Frage der Umfunktionierung des Gebäudes und der Abnahme der Glocken eigens geprüft werden müsse.

Die Kirche in Gnadentau wurde als letzte der im Wolgagebiet gelegenen lutherischen Kirchen geschlossen. Am 21. Dezember 1938 wurde die Schließung schließlich auf Anordnung des Präsidiums des Zentralexekutivkomitees und des Obersten Sowjet der ASSR der Wolgadeutschen offiziell vollzogen, auch wenn in dem Gebäude schon vorher keine Gottesdienste mehr stattgefunden hatten. Wörtlich hieß es in der entsprechenden Beschlussfassung des Präsidiums des Obersten Sowjet der ASSR der Wolgadeutschen: „In Anbetracht der Tatsache, dass sich die Bürger des Dorfes Gnadentau mehrheitlich für die Schließung der Kirche ausgesprochen haben (650 von 750 Personen, was einem Anteil von 87,2% entspricht), und auf Grundlage von Artikel 65, Punkt “b” der Instruktion der Ständigen Kommission für Kultfragen beim Präsidium des Allrussischen Zentralexekutivkomitees vom 16. Januar 1931 wird dem Gesuch der Bevölkerung des Dorfes Gnadentau stattgegeben, die Kirche zu schließen. Die Übergabe des Gebäudes und die Verteilung des Kultbesitzes erfolgt gemäß Art. 40 und 41 der Beschlussfassung des Allrussischen Zentralexekutivkomitees und des Rats der Volkskommissare „Über religiöse Gemeinschaften“ vom 8. April 1929“.

Liste der Pastoren. Pastoren der Pfarrgemeinde Morgentau, die in der Gemeinde Gnadentau Gottesdienst hielten: Samuel Petrus Dittrich (1863-64). Ernst Theophil David (1865-67). Karl Theodor Blum (1868-71). Moses Asnoworjanz (1873-74). Liste der Pastoren der Pfarrgemeinde Gnadentau: In den Jahren 1876-83 hatte die Gemeinde keinen Pastor. Gustaw Adolf Thomson (1883-88). Richard Keller (1888-90). Ernst Theophil David (1891-92). Johannes Kosz(c)iol (1892–1924). Johann Schilling (1931-34)

Entwicklung der Bevölkerungszahlen. Im Jahr 1859 ließen sich auf dem Gebiet, das erst im folgenden Jahr 1860 offiziell zur Kolonie werden sollte, 130 aus den Mutterkolonien stammende Personen nieder. 1883 lebten in Gnadentau 1.081 und 1889 – 1.167 Personen. Nach den Daten der Allgemeinen Volkszählung des Russischen Reichs von 1897 hatte Gnadentau 1.441 Einwohner, von denen 1.429 Deutsche waren. Nach Stand zum Jahr 1904 lag die Gesamteinwohnerzahl bei 1.839, 1908 bei 2.308 und 1910 bei 2.332 Personen. Im Pfarrsprengel Gnadentau lebten 1904 13.806 Gemeindemitglieder. Nach den Daten der Allrussischen Volkszählung von 1920 hatte Gnadentau 2.186 Einwohner. 1921 gab es im Dorf 69 Geburten und 194 Sterbefälle. Nach Angaben der Gebiets-Statistikbehörde des Autonomen Gebiets der Wolgadeutschen hatte Gnadentau zum 1. Januar 1922 1.893 Einwohner. 1923 stieg die Bevölkerungszahl auf 1.937 Personen. Nach den Daten der Volkszählung von 1926 gab es im Dorf 354 Haushalte (davon 353 deutsche) mit einer Bevölkerungszahl von 2.017 Personen (995 Männer und 1.062 Frauen), von denen 2.008 Deutsche waren (951 Männer und 1.057 Frauen). 1931 lebten im Dorf 2.235 Personen, von denen 2.210 Deutsche waren.

Das Dorf heute. Das heutige Dorf Werchny Jeruslan (Rayon Staraja Poltawka, Gebiet Wolgagrad) hat etwa 600 Einwohner. Der örtlichen lutherischen Gemeinde gehören etwa 40 Mitglieder an.

Bei der Wiedergeburt der Gemeinde und dem Wiederaufbau der Kirche spielte Pastor Andrei Pautow eine entscheidende Rolle, der die frühere deutsche Kolonie nach eigener Aussage einst umgehend aufsuchte, nachdem er eine Fotografie des halb verfallenen Gebäudes der früheren Gnadentauer Kirche gesehen hatte. 1998 kam der damals 24-jährige Pautow erstmals nach Werchni Jeruslan, wo ihm die kleine „alte“ Gemeinde einen herzlichen Empfang bereitete und den Dienst als Prediger antrug. Auch wenn es für den in der Hauptstadt geborenen Pautow sicher alles andere als leicht war, das Angebot anzunehmen, kam er fortan einmal im Monat zum Predigen und übernahm die Leitung des schwierigen und kostspieligen Wiederaufbaus der Kirche. Dank der Anstrengungen des Pastors, seiner Freunde und auch des Unternehmers Anatoli Sjakin, der nach der staatlichen Registrierung der Gemeinde zum Vorsitzenden des Kirchenrats wurde, erstand das alte Kirchengebäude wieder aus den Ruinen: Fenster und Türen wurden eingesetzt und das Dach neu gedeckt. In den Jahren 2002-04 wurde der Wiederaufbau der Kirche auf Vermittlung des Wolgograder Probstes Dietrich Hallmann vom Kirchenkreis Cottbus (Deutschland) finanziell unterstützt. Nach der am 19. August 2004 erfolgten feierlichen Eröffnung des Gotteshauses predigte Andrei Pautow regelmäßig in russischer Sprache in der Gemeinde. Im Oktober 2006 wurde er offiziell in der Kirche von Sarepta (Wolgograd) ordiniert und diente bis zu seinem tragischen Tod im Jahr 2010 nach der „Bereitschaftsmethode“ jeweils einen Monat in Moskau und zwei in Jeruslan.

Auch wenn die heutige Kirche von Werchni Jeruslan in zahlreichen architektonischen Details hinter der vorrevolutionären Kirche zurückbleibt, kann sie noch immer jeden in Erstaunen versetzen. Der Wiederaufbau der Kirche ist noch nicht gänzlich abgeschlossen, Gottesdienste finden dort nur in der warmen Jahreszeit statt. Der grüne Turmhelm der Kirche, der von der Fernstraße Saratow–Wolgograd gut zu sehen ist und nicht recht in die dörfliche Landschaft passen will, zieht die Aufmerksamkeit aller Vorbeifahrenden auf sich. Wer spontan Halt macht, ist von der unbeschreiblichen Schönheit der Kirche begeistert.

Das Kirchenensemble von Werchni Jeruslan wird durch die ebenfalls am zentralen Dorfplatz gelegenen Gebäude des früheren Pfarrhauses und der früheren kirchlichen Gemeindeschule komplettiert. Im früheren Pfarrhaus war in sowjetischer Zeit die Grundschule untergebracht. Im Zusammenhang mit dem Bau einer neuen Dorfschule fasste die Rayonsführung den Beschluss, das alte Schulgebäude abzureißen, erhielt aber glücklicherweise keine Genehmigung zur Zerstörung dieses aus dem 19. Jahrhundert stammenden Architekturdenkmals. Auch heute noch befindet sich das Gebäude nicht im Besitz der Gemeinde und wird weiter als Lager genutzt. In der früheren kirchlichen Gemeindeschule ist heute ein Bethaus untergebracht. Am Standort des deutschen Friedhofs von Werchni Jeruslan, dessen alte Grabmale alle zerstört sind, befindet sich heute der noch immer genutzte Dorffriedhof.

Literatur

Князева Е.Е., Соловьева Ф. Лютеранские церкви и приходы ХVIII – ХХ вв. Исторический справочник. – СПб., 2001. Часть I; Лиценбергер О.А. Евангелическо-лютеранская церковь Святой Марии в Саратове. Саратов, 1995; Amburger E. Die Pastoren der evangelischen Kirchen Russlands vom Ende des 16. Jahrhunderts bis 1937. Ein biographisches Lexikon. – Martin-Luther-Verlag, 1988; Laske F. Geheimer Regierungsrath Professor Joh. E. Jacobsthal in Berlin // Centralblatt der Bauverwaltung. 22. Jahrgang. Nr. 3 (11. Januar 1902).; Deutsche Volkszeitung. 23. Dezember 1910. №129; Volkszeitung. 6. Oktober 1914. №80.

Archive

ГАСО. Ф. 180. Оп. 1. Д. 376. Л. 111; Д. 11624; Ф 852. Оп. 1. Д. 231; ГИАНП. Ф. 179. Оп. 1. Д. 1–245; Ф. 849. Оп. 1. Д. 834. Л. 81; Д. 890. Л. 77; Ф. 976. Оп. 1. Д. 45. Л. 536; Ф. 1831. Оп. 1. Д. 299. Л. 56.

Autoren: Lizenberger O.A.

ЗEINE FRAGE STELLEN