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ORLOWSKOJE (Orlowskaja), heute Dorf Orlowskoje, Rayon Marx, Gebiet Saratow; deutsche Kolonie im linksufrigen Wolgagebiet

Rubrik: Geschichte und Geographie der Ansiedlung der Deutschen im Russischen Reich, in der UdSSR und GUS / Geschichte der Ansiedlung
Evangelisch-lutherische Kirche in Orlowskoje. Foto aus dem Jahr 1920.
Orlowskoje. Heutige Ansicht des früheren Kirchengebäudes. Foto Je. Moschkow, 2009.
Orlowskoje. Kirchenschule. Foto Je. Moschkow, 2009.
Orlowskoje. Deutsche Architektur. Foto Je. Moschkow, 2009.

ORLOWSKOJE (Orlowskaja), heute Dorf Orlowskoje, Rayon Marx, Gebiet Saratow. Im linksufrigen Wolgagebiet, 303 Werst von Samara, 148 Werst von der Bezirksstadt Nikolajewsk und 12 Werst vom Verwaltungszentrum des Amtsbezirks Katharinenstadt, an der von Nikolajewsk nach Saratow führenden Handelsstraße gelegene deutsche Kolonie. Von 1871 bis Oktober 1918 gehörte das Dorf zum Amtsbezirk [Wolost] Katharinenstadt (Bezirk [Ujesd] Nikolajewsk, Gouvernement Samara).

Nach der Gründung der Arbeitskommune der Wolgadeutschen war das Dorf Orlowskoje bis 1941 Verwaltungszentrum des im Kanton Marxstadt gelegenen gleichnamigen Dorfsowjets, zu dem 1926 das Dorf Orlowskoje sowie die Gehöfte Karaman, Sandteich, Neue Brunnen, Faulengraben, Krimmelsgraben, Ochsengraben und Kelke gehörten.

Die deutsche Kolonie Orlowskoje wurde am 7. Juni 1767 von dem Anwerber Baron Caneau de Beauregard gegründet. Die ersten Kolonisten waren 87 aus Sachsen, Anhalt-Zerbst, Holstein und anderen deutschen Ländern stammende Familien (insgesamt 284 Personen).

Ihren Namen erhielt die Kolonie zu Ehren des Favoriten Katharinas II. Generaladjutant, Kammerherr Graf Grigori Orlow. Im Erlass vom 26. Februar 1768, der die russischsprachigen Namen der Kolonien festlegte, wurde der Name beibehalten (Kolonie Orlowskaja). Nachdem Katharina II. Orlow bereits am 4. Dezember 1762 den Befehl erteilt hatte, die Gründung ausländischer Kolonien zu organisieren, ernannte sie ihn wenig später zum Präsidenten der am 22. Juli 1763 gegründeten, mit den Kompetenzen eines Staatskollegiums (Ministeriums) ausgestatteten Fürsorgekanzlei für ausländische Übersiedler. Am 16. Februar 1764 legte Graf Orlow der Zarin einen ausführlichen Bericht über die Bereitstellung des für die ausländischen Kolonien vorgesehenen Landes, über die die Ansiedlung der Kolonisten betreffenden Pläne und die Vermessung der entsprechenden Ländereien vor. Ungeachtet des von Seiten des Senats vorgebrachten Protests billigte Katharina das Projekt. So führte Orlow die dem Senat gegenüber nicht rechenschaftspflichtige privilegierte Kanzlei praktisch bis zu seiner im Jahr 1775 erfolgten Ausreise ins Ausland.

Die ersten in Orlowskoje angesiedelten Kolonisten waren größtenteils Lutheraner, vier Familien (19 Personen) waren Reformierte. Wie in vielen anderen Kolonien waren auch in Orlowskoje einige wenige Katholiken unter den ersten Siedlern (elf Familien, insgesamt 30 Personen). Unter den ersten 93 Familienoberhäuptern waren acht Weber, sechs Schuster, fünf Zimmermänner, jeweils drei Maurer, Bierbrauer, Bäcker und  Schneider, jeweils zwei Jäger, Böttcher, Kaufleute, Schaffellgerber, Müller und Schmiede sowie ein Friseur, ein Töpfer, ein Schiffszimmermann, ein Gärtner, ein Hutmacher, ein Arzt, ein Tischler, ein Soldat, ein Musikant, ein Fleischer, ein Manufakturarbeiter, und ein Seilmacher.

Der Erkundungsreisende und Naturforscher Johann Peter Falck schrieb 1769 mit Blick auf die deutschen Kolonisten: „Die Kolonisten sind aus verschiedenen Berufen, aus Bauern, Handwerkern, Kaufleuten, Fabrikarbeitern, Künstlern und sogar Gelehrten zusammengesucht, von denen einige herausragende Fähigkeiten aufweisen, ein großer Teil aber Faulpelze und Glücksritter sind. Nach dem Plan sollen alle Landbau betreiben, aber Frisöre, Barbiere, Fabrikarbeiter und andere haben davon keine Ahnung und deshalb wird ihr Land keine Früchte abwerfen.“

Anders als Falck lobte die Zeitschrift „Schriften der Freien Ökonomischen Gesellschaft“ die landwirtschaftliche Kultur der Kolonisten im Jahr 1767 in höchsten Tönen: „Ich habe auf einem sehr hohen Berg einen solchen Acker gesehen, den die dortigen alteingesessenen Ackerbauern gar nicht bewirtschafteten, weil er als nicht nutzbar galt. Aber dieser Boden wurde vom deutschen Pflug so tief durchpflügt, dass auf ihm ohne jede Bedüngung eine sehr reiche Ernte heranwuchs; und auf diese Weise  wuchs auf dieser Erde, die als vollkommen ausgezehrt galt, so gute Gerste und Hafer heran, wie es auf gut gedüngtem und frischem Ackerland selten besser gelingt.“

In den Jahren 1774–76 sahen sich die Kolonien immer wieder Angriffen von Seiten der Kirgis-Kaisaken ausgesetzt, turksprachigen Nomadenstämmen, die ihre angestammte Ordnung bewahrt hatten und aus der Steppe heraus immer wieder Überfälle auf die linksufrigen Wolgasiedlungen unternahmen, bei denen sie plünderten und brandschatzten, Siedler gefangen nahmen und alle töteten, die Widerstand zu leisten wagten. 1776 wurde ein von dem Ältesten der Kolonie Orlowskoje Sigmund Ludwig Erfurt und Pastor Ludwig Balthasar Wermborner angeführter etwa 150 Mann starker Kolonistentrupp vollständig aufgerieben und vernichtet, der den Kirgisen nachgejagt war, die Dorfbewohner entführt und große Beute gemacht hatten. Die russische Regierung, die sich der verheerenden Folgen der Überfälle bewusst war, zog im Jahr 1766 Gräben, Wälle und Befestigungsanlagen um die Kolonien und stellte reguläre Truppeneinheiten ab, um die Steppengrenzen zu sichern.

Die Entwicklung der Kolonie wurde nicht nur durch Nomadenüberfälle, sondern auch durch Naturkatastrophen, Dürren und Brände gebremst. 1814 wurde ein Großteil der Wohnhäuser und Holzbauten durch einen Großbrand zerstört. Bald nach diesem Ereignis wurde in Orlowskoje eine freiwillige Feuerwehr aufgestellt und ein als „Magazin“ bezeichneter Getreidespeicher gebaut, in dem für Notfälle vorgesehene Getreidereserven gelagert wurden. Wie in allen anderen deutschen Kolonien waren auch die Bewohner von Orlowskoje größtenteils in der Landwirtschaft tätig und bauten Getreide, Roggen, Kartoffeln und Hirse sowie mit geringeren Erträgen Gerste und Erbsen an. Anfang des 19. Jahrhunderts wurde im Dorf die Mühle von Heinrich Trautwein eröffnet, in der unter anderem auch muslimische Tataren als Lohnarbeiter angestellt waren.

Nach den Daten der Revision von 1834 waren den Kolonisten Landstücke in der Größe von 15 Desjatinen pro Kopf zugeteilt. Nach den Daten der im Jahr 1857 durchgeführten 10. Revision besaßen die zu diesem Zeitpunkt in der Kolonie ansässigen insgesamt 1.101 männlichen Kolonisten Landstücke in der Größe von etwa 5,9 Desjatinen pro Kopf. Der Landmangel führte zu zahlreichen Rechtsstreitigkeiten sowohl unter den Kolonisten selbst als auch zwischen diesen und russischen Bauern. 1864/65 machten die Kolonisten Ansprüche an auf der Koltowskoj-Insel gelegene Landstücke geltend, die sich bis 1814 in ihrem Besitz befunden hatten.

Besondere Aufmerksamkeit widmeten die Kolonisten dem Tabakanbau, der das wirtschaftliche Wachstum der Kolonie ankurbelte und ausreichend Gewinne abwarf, um in andere Bereiche der landwirtschaftlichen Produktion zu investieren. Am 13. Oktober 1777 gab die Kanzlei eigens einen Erlass aus, der jegliche Benachteiligung der Kolonisten beim Verkauf von Tabakblättern verbot. Abgesehen davon übernahm das Kontor auch die Begleitung der den Rohtabak nach St. Petersburg transportierenden Fuhrwerke. Nichtsdestotrotz sahen sich die Kolonien bereits 1779 mit Absatzschwierigkeiten konfrontiert, da die wenigen Aufkäufer von Tabakblättern ihre faktische Monopolstellung missbrauchten, um unter Verweis auf eine angeblich mangelnde Qualität die Preise zu drücken. So nahm z.B. der Zwischenhändler F. Scheludjakow den in Orlowskoje ansässigen Kolonisten G. Karle und F. Rempe nur 1.600 statt der vertraglich vereinbarten 7.000 Pud Tabak ab, die aufgrund der Vertragsbestimmungen auch nicht an andere Händler verkauft werden durften.

Unter den von den Bewohnern Orlowskojes ausgeübten Gewerben nahm das Strohflechten eine besondere Rolle ein, das sich mit der Zeit zu einem lukrativen Erwerbszweig entwickelte. Ende des 19. Jahrhunderts waren Dutzende Frauen in Heimarbeit mit der Herstellung von Hüten und anderen aus Stroh gefertigten Erzeugnissen beschäftigt, die in großen Mengen von geschäftstüchtigen Zwischenhändlern aufgekauft und in den großen Städten verkauft wurden.

Nach Angaben des Zentralen Statistik-Komitees gab es 1859 in der Kolonie 199 Höfe und eine Fabrik. Das rapide Bevölkerungswachstum lässt sich daran ablesen, dass es nach den Daten des Gouvernements-Statistik-Komitees Samara 1910 bereits 537 Höfe gab. 1914 richteten die Mäzene Ch. Lobes und A. Bauer in Orlowskoje ein Lazarett mit zwölf Betten ein, in dem Verwundete unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit behandelt wurden.

In den Jahren 1920–23 wurden die Wolgakolonien von einer Hungersnot historisch beispiellosen Ausmaßes heimgesucht. In der Zeit zwischen dem Ausbruch der Hungersnot und dem 1. Januar 1922 wurden in Orlowskoje 5,5-mal mehr Sterbefälle als Geburten registriert.

In den Jahren der Sowjetmacht gab es in Orlowskoje eine landwirtschaftliche Kreditgenossenschaft, einen Genossenschaftsladen, eine Maschinen-Traktoren-Station, eine Bibliothek und eine Lesehütte. Im Dorf wurden die Kolchosen „Sieg“, „Kämpfer“, „Kommunist“, „Rotarmist“ und „W.M. Molotow“ gegründet. 1932 wurden zur Zeit der Hungersnot Dutzende Dorfbewohner wegen (angeblicher) Gründung konterrevolutionärer Organisationen repressiert, weil sie gegen die Kolchosen, die Getreidebeschaffungsmaßnahmen und die Beschlagnahmung der Getreidereserven protestiert hatten, die unter den Armbauern verteilt werden sollten. Im September 1941 wurden die Deutschen aus dem Dorf deportiert.

Schule und Erziehungswesen

In der Kirchenschule, die in Orlowskoje praktisch seit Gründung der Kolonie selbst bestand, lernten Kinder im Alter von 7-15 Jahren. Bis zum Bau der ersten Kirche im Jahr 1798 fanden Gottesdienste und Schulunterricht im gleichen Gebäude des Schul- und Bethauses statt. Im Jahr 1800 wurde ein neues Gebäude für die Kirchenschule errichtet. Mit steigender Bevölkerungszahl wurde die Schule Mitte des 19. Jahrhunderts dem Ministerium unterstellt. Die Namen der an der Kirchenschule tätigen Lehrer sind größtenteils nicht überliefert. Bekannt ist, dass im Jahr 1821 Heinrich Erfurt Schulmeister und Ende des 19. Jahrhunderts ein Lehrer namens Reschitrel an der Schule tätig war.

Anfang der 1880er Jahren wurde in der Kolonie eine erste zweizügige Semstwo-Schule gegründet, in der die Kinder auch Russisch lernten. Im weiteren Verlauf der 1880er Jahre entstanden zudem eine von Gottlieb Freimann betriebene private Elementarschule sowie von Iwan Dawydowitsch und Iwan Iwanowitsch Ehmich betriebene Privatschulen, die in den 1890er Jahren von etwa 70 Schülern besucht wurden. 1898 wurde in Orlowskoje eine Außenstelle des in Katharinenstadt ansässigen Bildungsvereins für Taubstumme Kinder der in den Gouvernements Saratow und Samara gelegenen evangelischen Wolgagemeinden gegründet, in dessen Vorstand Orlowskoje durch A.I. Bauer und N.I. Rothermel (Schatzmeister) vertreten war. In Orlowskoje wurde eine Internatsschule für Taubstumme gegründet, an der Anfang des 20. Jahrhunderts die Lehrer Christian (Konstantin) Fischer (1885–1917) und Uniwer tätig waren.

Angesichts stetig steigender Schülerzahlen musste 1898 eine weitere dem Ministerium unterstellte Schule gegründet werden, deren Gründung an die Bedingung geknüpft war, dass die Dorfgemeinschaft das Grundstück bereitstellte und einen Großteil der Kosten für den Bau eines Schulgebäudes, Unterhalt und Unterbringung der Lehrer und des Schulwarts sowie die Anschaffung von Lehrmaterial übernahm, während das Ministerium nur einen minimalen Anteil der Kosten trug. Obwohl diese Schule nahezu ausschließlich von der Dorfgemeinschaft finanziert wurde, war sie vollständig der Schulverwaltung bzw. dem zuständigen Volksschulinspektor unterstellt. In der Schule lernten die Kinder fünf Jahre.

Nach den von Pastor J. Erbes, dem Probst des linksufrigen Wolgagebiets, zum Stand des deutschen Schulwesen zusammengetragenen Daten waren im Jahr 1906 800 der fast 6.000 Einwohner Kinder im Alter von 7-15 Jahren, die zum Besuch einer Elementarschule verpflichtet waren. 1906 besuchten 180 Jungen und 25 Mädchen die Ministerialschule, wo sie von drei Lehrern unterrichtet wurden. An der Kirchenschule lernten 160 Jungen und 215 Mädchen bei zwei Lehrern. Beide Schulen wurden aus Mitteln der Kirchengemeinde unterhalten.

Das Bewusstsein für die Notwendigkeit, den allgemeinen Schulbesuch zu gewährleisten, zwang die Führung der deutschen Siedlungen zu einer ständigen Prüfung der eigenen Schulpolitik. 1910 gab es in Orlowskoje zwei Semstwo-Schulen, eine zweizügige Ministerialschule, die von Freimann betriebene Privatschule sowie die kirchliche Gemeindeschule. In den Jahren der Sowjetmacht wurden alle diese Schulen zu einer einzigen Grundschule zusammengelegt. 1926 gab es im Dorf eine Grundschule, ein Waisenhaus und eine Schule für die Bauernjugend. 1937 wurde die Führung des Dorfes scharfer Kritik unterzogen, weil es keine Kurse zur Bekämpfung des Analphabetentums gab.

Religionszugehörigkeit der Bevölkerung und Kirche

Die Kolonisten waren evangelisch-lutherischer Konfession. Bis 1820 gehörte die Gemeinde Orlowskoje zum Pfarrsprengel Katharinenstadt, nach 1820 wie auch die Gemeinden Brockhausen, Hockerberg, Kind, Rjasanowka, Susannental und Unterwalden zum Pfarrsprengel Näb (Rjsanowka), dessen Gründung am 24. Juni 1820 bestätigt wurde. Anfang des 20. Jahrhunderts war Näb (nach Frank, Norka und Böttinger) der zahlenmäßig viertgrößte Pfarrsprengel der Evangelisch-lutherischen Kirche Russlands. Im Jahr 1905 lebten im Pfarrsprengel Näb insgesamt 19.046 Gemeindemitglieder.

Im Jahr 1798 wurde in Orlowskoje eine erste lutherische Holzkirche errichtet, die den Status einer Filialkirche hatte. Dabei handelte es sich um einen vergleichsweise kleinen und architektonisch anspruchslosen Bau, der von örtlichen Handwerkern ohne offiziell eingereichten Bauplan und Kostenvoranschlag errichtet wurde.

Da die alte Kirche für die schnell wachsende Kolonie schon bald zu klein wurde, beschlossen die Gemeindemitglieder auf Initiative von Pastor J. Ch. Bauer, eine neue Steinkirche zu errichten, deren Bau die auf die Erforschung der Geschichte der lutherischen Kirchen spezialisierten russischen Historikerinnen Je.Je. Knjasewa und F. Solowjowa. gestützt auf Archivdokumente auf das Jahr 1845 datieren, während einige der Geschichte des Dorfes gewidmete Internetseiten (ausgehend von der Annahme, die Kirche sei von dem Architekten Ferdinand Lagus geplant worden) noch immer 1860 als Entstehungsjahr nennen. Tatsächlich weist die Kirche zahlreiche Stilelemente des sogenannten „Kontorstils“ auf, der in 1860er und 1870er Jahren unter maßgeblicher Beteiligung des Architekten Lagus in den lutherischen und katholischen deutschen Siedlungen Verbreitung fand, dessen Vorläufer sich allerdings bereits in den 1840er Jahren herausgebildet hatten. Auch wenn der „Kontorstil“ vielen Zeitgenossen als eher schlicht galt, können wir uns auch heute noch von den architektonischen Formen der Kirche beeindrucken lassen, deren Bau in veränderter Form bis zum heutigen Tag erhalten ist. Besondere Merkmale der im „Kontorstil“ errichteten Kirchen waren deren langgezogene Form, ihre im Vergleich zu früheren Kirchenbauten deutlich größeren Maße sowie ihre massiven Säulen und mehrstufigen Türme. Das Kirchengestühl der Orlowskojer Kirche bot Platz für 1.600 Gläubige. Den Längsseiten des Gebäudes waren jeweils sechs von einem Dreiecksgiebel gekrönte Säulen vorgelagert, der vierstufige Glockenturm wurde von einer mit einem Kreuz geschmückten Kuppel gekrönt. Bei aller scheinbaren Schlichtheit der architektonischen Lösung wirkte die Orlowskojer Kirche durchaus eindrucksvoll und bildete den Mittelpunkt des im Ortskern gelegenen, aus mehreren Backsteinbauten bestehenden Architektur-Ensembles. Die Kirche wurde mehrfach restauriert und diente der Gemeinde bis zu ihrer Schließung im Jahr 1935 als Gotteshaus.

Unweit der Kirche befand sich das Schul- Bethaus. Anfang des 20. Jahrhunderts wurde um die Kirche herum ein schmiedeeiserner Zaun gezogen, der in der Mechanischen Werkmaschinenfabrik und Gießerei des Dorfes Grimm (heute Siedlung Kamenski, Rayon Krasnoarmejsk) hergestellt worden war.

Orlowskoje war der Geburtsort dreier lutherischer Geistlicher: Pastor Johann Christian Bauer (1806–61), der sein ganzes Leben dem Dienst in seiner Heimatpfarrei Näb und der Gemeinde Orlowskoje widmete, Pastor Alexander Rothermel (1880–1963), der in Gnadendorf und Rosenheim diente und 1923 nach Deutschland emigrierte, sowie der Absolvent des Predigerseminars von 1932 Pastor Karl Vogel (1896–1943), der in den ukrainisch-deutschen Pfarrgemeinden Hoffnungstal und Odessa diente und 1937 repressiert wurde.

Von Ende des 19. Jahrhunderts an bestand in Orlowskoje eine Wohltätige Gesellschaft, deren Hauptziel darin bestand, mittellosen Bedürftigen zu helfen und ein Kinderheim zu unterhalten. Die Gesellschaft half nicht nur Kindern, die ihre Eltern verloren hatten, sondern auch Kranken und Alten, Arbeits- und Obdachlosen, Hungernden und Bettlern, denen einmalige oder monatliche Hilfsleistungen gewährt wurden. Leuten, die kein Dach über dem Kopf hatten oder aus Krankheits- oder sonstigen Gründen ihr tägliches Brot nicht durch eigener Hände Arbeit verdienen konnten, konnten sich hilfesuchend an den Kirchenrat wenden. In Missernte-Jahren organisierte die Gesellschaft kostenlose Hungerküchen und Wohltätigkeitskonzerte. In Jahren der Not richtete die Orlowskojer Kirche mehrfach vorübergehende Hungerhilfekomitees ein, die sich um die Verteilung der von verschiedenen Organisationen eingehenden Spenden kümmerten und ohne Ansicht des Glaubensbekenntnisses Hungernde speisten. So wurde z.B. im Sommer 1891, als die Bauern des Wolgagebiets von Dürre und Missernten heimgesucht wurden, bei der Kirche ein Spendenkomitee eingerichtet, das Spenden in Form von Lebensmitteln, Saatgut und Kleidung sammelte und an die hungernden Opfer der Missernte weiterleitete.

Von 1863 bis zur in den 1930er Jahren erfolgten Schließung der Kirche wurde das Gemeindeleben in Orlowskoje durch die Pastorendynastie der Heptners geprägt, an deren Anfang Theodor Emil Heptner (1829–94) stand, dessen Sohn und Enkel beide repressiert wurden. Nafanail Woldemarowitsch Heptner (1862–1933) war zur Zeit der Anfang der 1920er Jahre ausgebrochenen Hungernot in der Hungerhilfe aktiv und koordinierte die Arbeit des Nationalen Lutherischen Rats und der nichtstaatlichen US-amerikanischen Hilfsorganisation „American Relief Administration“ (ARA), die Lebensmittel in die Wolgaregion lieferten. Auf seine Initiative wurde im Orlowskojer Küsterhaus ein Kinderheim für Flüchtlinge eingerichtet, in dem hungernde und obdachlose Kinder Hungerhilfe, Unterkunft und Kleidung bekommen sollten.

1922 wurde Pastor Heptner vom Gebiets-Revolutionstribunal zu 5 Jahren und 4 Monaten Gefängnis verurteilt, weil er mit Vertretern der ausländischen Wohltätigkeitsorganisationen kooperiert hatte. Vor Gericht wies er die Anschuldigung von sich, Spionage gegen Sowjetrussland betrieben zu haben. In den Jahren 1922–24 verbüßte er seine Haft in einer im Ural gelegenen Arbeits-Besserungs-Anstalt. Am 10. Juli 1924 wurde Heptner im Rahmen der aus Anlass der Gründung der ASSR der Wolgadeutschen beschlossenen Amnestie entlassen, wobei die Kommunistische Fraktion des Zentralexekutivkomitees ihren entsprechenden Beschluss damit begründete, dass der schwer erkrankte 62-jährige Pastor einerseits im Falle seines Ablebens in Haft einen Vorwand für antisowjetische Agitation bieten könne und andererseits aufrichtig seine Schuld eingestanden und sich zum Anhänger der Sowjetmacht erklärt habe. Vom Zentralexekutivkomitee der RSFSR wurde diese Entscheidung unter Verweis auf die „politische Zweckmäßigkeit“ schnell sanktioniert.

Nach der Amnestie kehrte der Pastor in seine Gemeinde zurück, nahm die Predigertätigkeit wieder auf und schickte sogar seinen Sohn Bernhard Heptner zum Studium an das Leningrader Predigerseminar. Schon bald wurde der mittlerweile 67-jährige Pastor allerdings unter dem Vorwurf der antisowjetischen Tätigkeit erneut verhaftet. Einer Liste inhaftierter lutherischer Pastoren, die Außenminister M.M. Litwinow im Jahr 1931 dem deutschen Außenministeriums auf Aufforderung zukommen ließ, war zu entnehmen, dass Heptner Senior zu zehn Jahren Freiheitsentzug verurteilt war und seine Strafe im Gefängnis von Samara verbüßte. Später wurde der Pastor in ein am Fluss Lena gelegenes Lager gebracht, wo er starb. 1929 folgte Bernhardt Heptner nach Abschluss des Leningrader Predigerseminars seinem Vater im Dienst des Pastors. 1930 wurde auch er verhaftet, aus Mangel an Beweisen aber bald wieder freigelassen, woraufhin er seinen Dienst in der Gemeinde wiederaufnahm. In den ihm unterstellten Gemeinden ging die Zahl der Gläubigen mit jedem Tag unaufhaltsam zurück. Die Tätigkeit des Pastors stand unter ständiger Kontrolle von Seiten der Organe der Staatsmacht.

Im Januar 1931 informierte die regionale Kommission für die Prüfung religiöser Angelegenheiten das Präsidium des Zentralexekutivkomitees der ASSR der Wolgadeutschen in einem geheimen Bericht, dass es in Orlowskoje noch 2.427 Gläubige gebe, von denen 122 den Status von „Lischenzy“ hätten, ihnen also das Wahlrecht und andere bürgerliche Rechte aberkannt waren. Zur Zeit der forcierten antireligiösen Offensive wurde in den 1930er Jahren jegliche religiöse Unterweisung von Kindern verboten. Hatten die Gemeinden Ende der 1920er Jahre den Kindern noch Konfirmandenunterricht erteilen können, brauchten sie dafür Anfang der 1930er Jahre bereits Sondergenehmigungen des Zentralexekutivkomitees der UdSSR und des NKWD. Als sich Pastor Heptner im Mai 1932 mit der Bitte an das Sekretariat des Zentralexekutivkomitees der ASSR der Wolgadeutschen wandte, den Kindern in allen Gemeinden einschließlich Orlowskojes in der Zeit vom 6.-18. Juni 1932 Konfirmandenunterricht erteilen und diese anschließend am 19. Juni 1932 konfirmieren zu dürfen, wurden die Materialien an die GPU weitergeleitet, die wiederum Listen aller konfirmierten Kinder anforderte.

Am 1. Juni 1934 informierte die Kommission für Fragen der Kulte beim Zentralexekutivkomitee der ASSR der Wolgadeutschen das Präsidium der ASSR, dass die Kirche in Orlowskoje von den Gläubigen noch genutzt werde, während viele andere Kirchen im Kanton Marxstadt bereits geschlossen seien, und schlug vor, den Prozess der Schließung der Kirche zu forcieren. Im Jahr 1935 wurde Pastor Heptner ein zweites Mal verhaftet und starb wie schon sein Vater in der Verbannung.

Am 11. Februar 1935 wurde die Kirche in Orlowskoje auf entsprechenden Beschluss des Präsidiums der ASSR der Wolgadeutschen geschlossen. Die Kommission zur Prüfung religiöser Angelegenheiten wies nach Durchsicht des Materials darauf hin, dass die Gemeinde zwei Jahre lang keine Steuern gezahlt hatte. Von den 760 Mitgliedern der Kirchengemeinde sprachen sich 576 für die Schließung der Kirche aus. Das Präsidium der ASSR der Wolgadeutschen empfahl, das Kirchengebäude nach entsprechendem Umbau als Kulturhaus zu nutzen.

Liste der Pastoren

Pastoren der Pfarrgemeinde Süd-Katharinenstadt, die in Orlowskoje den lutherischen Gottesdienst hielten: Ludwig Balthasar Wern(m)borner (1768–76), Gottlieb May (1778–90). Pastoren der Pfarrgemeinde Nord-Katharinenstadt, die in Orlowskoje den reformierten Gottesdienst hielten: Johann Georg Herwig (1768–69), Hartmann von Moos (1779–80). Pastoren der Pfarrgemeinde Böttinger (Baratajewka), die in Orlowskoje Gottesdienst hielten: Christian August Tornow (1780–91), Klaus Peter Lundberg (1792–97), Adam Christian Paulus Kohlreiff (1803–20). Pastoren der Pfarrgemeinde Näb (Rjasanowka), die in Orlowskoje Gottesdienst hielten: David Flit(t)ner (1820–30), Johann Christian Bauer (1831–61), Theodor Emil Heptner (1863–94), Nathanael Woldemar Heptner (1895–1929), Bernhard Nathanael Heptner (1929–35).

Entwicklung der Einwohnerzahlen

1767 lebten in Orlowskoje 284 ausländische Kolonisten, 1773 waren es 363, 1788 - 344, 1798 - 415, 1816 – 791,1834 – 1.302, 1850 – 1.769, 1859 – 2.376 und 1889 – 3.277 Personen. Nach den Daten der Volkszählung von 1897 hatte Orlowskoje 3.775 Einwohner, von denen 3.768 Deutsche waren. Im Jahr 1905 lebten im Dorf 5.781, 1910 6.192 Personen. Nach den Daten der Allrussischen Volkszählung von 1920 hatte Orlowskoje 4.370 Einwohner, von denen ausnahmslos alle Deutsche waren. 1921 gab es im Dorf 182 Geburten und 632 Sterbefälle. Nach den Daten des Gebietsamts für Statistik des Autonomen Gebiets der Wolgadeutschen lebten nach Stand zum 1. Januar 1922 in Orlowskoje insgesamt 2.847 Einwohner. Nach den Daten der Allrussischen Volkszählung von 1926 gab es im Dorf 526 Haushalte (davon 521 deutsche) mit einer Gesamtbevölkerung von 2.759 Personen (1.297 Männer und 1.462 Frauen), von denen 2.709 Deutsche waren (1.265 Männer und 1.444 Frauen). 1931 hatte Orlowskoje 4.197 Einwohner, von denen 4.197 Deutsche waren.

Das Dorf heute

Heute Dorf Orlowskoje, Rayon Marxstadt, Gebiet Saratow. Nach den Daten der Volkszählung von 2002 lebten in Orlowskoje 1.450 Menschen, was nur noch etwa einem Viertel der vorrevolutionären Einwohnerzahl entspricht. Nichtsdestotrotz gehört das Dorf auch heute noch zu den größeren im Rayon Marx gelegenen Ortschaften. Viele frühere deutsche Wohnhäuser, öffentliche Gebäude und Wirtschaftsbauten sind bis zum heutigen Tage erhalten, so dass Orlowskoje seine frühere Attraktivität in vielerlei Hinsicht kaum eingebüßt hat. Im Vergleich zu anderen früheren deutschen Kolonien wurden in Orlowskoje viele deutsche Bauten vor der Zerstörung bewahrt, was sich wohl auch durch den Umstand erklären lässt, dass es in Orlowskoje vor der Revolution von 1917 mehr Backsteinbauten gab als in anderen deutschen Siedlungen. In diesem Zusammenhang sind vor allem die Gebäude der früheren Ministerial- und der früheren Kirchenschule, das Kirchengebäude und einige Häuser reicher Siedler zu nennen.

In architektonischer Hinsicht ist neben dem Ortskern von Orlowskoje das Gebäude der früheren Kirche von besonderem Interesse, das schon von Weitem zu sehen ist, wenn man sich dem Dorf mit dem Auto von Saratow kommend nähert. Auch heute noch beeindruckt der Bau durch seine schiere Größe. In sowjetischer Zeit wurde das Gebäude nach der Schließung der Kirche lange Zeit als Kulturhaus und später als Lager und Getreidespeicher genutzt. Erst im Jahr 1960 wurden die Reste des Glockenturms zerstört. 1969 kam es in der früheren Kirche zu einem Brand, woraufhin das Gebäude umgebaut wurde und kaum noch an seine frühere Bestimmung erinnerte. Heute sind in dem Gebäude ein Klub und die Dorfbibliothek untergebracht. Am Standort des früheren Glockenstuhls und des Küsterhaus stehen heute Denkmäler für W.I. Lenin und J. Gagarin.

Unweit der früheren Kirche stehen das zweistöckige frühere Schul- und Bethaus, in dem sich die Kirchenschule befand, sowie der im Jahr 1898 errichtete zweistöckige Backsteinbau der früheren Ministerialschule, in dessen Erdgeschoss heute Geschäftsräume untergebracht sind. Die frühere Schule ist seit langem restaurierungsbedürftig, das Dach ist undicht, im Obergeschoss klaffen leere Fensterhöhlen. Nichtsdestotrotz gehört das Gebäude auch heute noch zu den eindrucksvollsten Architekturdenkmälern in Orlowskoje und Umgebung. Der obere Teil der früheren Schule ist im Umlauf mit Backsteinornamenten geschmückt, die Fenster sind mit halbrunden Ziergiebeln versehen.

1967 wurde im Dorf ein neues Schulgebäude eröffnet. Im Jahr 2011 hatte die Allgemeinbildende Mittelschule Orlowskoje 17 Lehrer und 173 Schüler, unter denen auch zahlreiche Kinder aus den nahegelegenen Dörfern Alexandrowka (frühere deutsche Kolonie Hockerberg) und Bujerak (frühere deutsche Kolonie Brockhausen) sind.

Literatur

Винс О.В. Смертность населения АОНП от голода в 1921–1922 // Культура русских и немцев в Поволжском регионе. – Саратов, 1993; Герман А.А. Немецкая автономия на Волге. 1918–1941. Часть II. Автономная республика. 1924–1941. – Саратов, 1992–1994; Князева Е.Е., Соловьева Ф. Лютеранские церкви и приходы ХVIII – ХХ вв. Исторический справочник. – СПб., 2001. – Часть I; Немецкие населенные пункты в Российской Империи: География и население. Справочник / Сост.: В.Ф. Дизендорф. – М., 2002; Немцы России: населенные пункты и места поселения: энциклопедический словарь / Сост.: В.Ф. Дизендорф. – М., 2006; Плеве И.Р. Немецкие колонии на Волге во второй половине ХVIII века. – М., 1998; Полное собрание ученых путешествий по России. Т. VI. Записки академика Фалька. – СПб., 1824; Труды Вольного экономического общества. – Б.м., 1767. – Ч. 7; Einwanderung in das Wolgagebiet: 1764–1767 / Hrsg.: Alfred Eisfeld. Bearb.: Igor Pleve. Bd. 3. Kolonien Laub – Preuss. – Göttingen: Göttingenger Arbeitskreis, 2005; Volkszeitung. – 1914. – №80; Nachrichten. – 1937. – 15. März.

Archive

Archive: ГАСО. Ф. 180. Оп. 1. Д. 7133, 9564; Оп. 7. Д. 68; Ф. 637. Оп. 2. Д. 3039; ГИАНП. Ф. 383. Оп. 1; Ф. 389. Оп. 1. Д. 1–4; Ф. 849. Оп. 1. Д. 834. Л. 81; Д. 890. Л. 20, 36; Д. 941. Л. 21; Ф. 1831. Оп. 1. Д. 299. Л. 62.

Autoren: Lizenberger O.A.

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