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POBOTSCHNOJE (Nebendorf, Pobotschnaja, Sredni Kolonok), heute aufgegeben; deutsche Kolonie im waldigen hügligen Teil des rechtsufrigen Wolgagebiets

Rubrik: Geschichte und Geographie der Ansiedlung der Deutschen im Russischen Reich, in der UdSSR und GUS / Geschichte der Ansiedlung
Landschaft in der Umgebung des früheren Dorfes Pobotschnoje. Foto Je. Moschkow, 2012.
Heutige Häuser auf dem Territorium des früheren Dorfes Pobotschnoje. Foto Je. Moschkow, 2012.
Standort eines der Häuser des Dorfes Pobotschnoje. Foto Je. Moschkow, 2012.
Бывший колодец с. Побочное. Фото Е. Мошкова. 2012 г.

POBOTSCHNOJE (Nebendorf, Pobotschnaja, Sredni Kolonok), heute aufgegeben; im waldigen hügligen Teil des rechtsufrigen Wolgagebiets, 48 Werst nordwestlich von Saratow gelegene deutsche Kolonie. Von 1871 bis Oktober 1918 gehörte das Dorf zum Amtsbezirk [Wolost] Jagodnaja Poljana (Bezirk [Ujesd] Saratow, Gouvernement Saratow).

Nach der Gründung der Arbeitskommune der Wolgadeutschen war Pobotschnoje Verwaltungszentrum des im Rayon Jagodnaja Poljana (Region Untere Wolga) gelegenen gleichnamigen Dorfsowjets, zu dem 1926 nur das Dorf Pobotschnoje selbst gehörte. Am 1. April 1932 wurde der Rayon Jagodnaja Poljana aufgrund der Beschlussfassung des Zentralexekutivkomitees der RSFSR „Über die Überführung des Rayons Jagodnaja Poljana aus der Region Untere Wolga in die ASSR der Wolgadeutschen“ zum 13. Kanton der ASSR der Wolgadeutschen. Zu dem neugegründeten Kanton gehörten die drei deutschen Dörfer Jagodnaja Poljana (Beerenfeld) Skatowka (Neu-Straub) und Pobotschnoje sowie fünf weitere kleinere Ortschaften. Der Kanton bildete eine außerhalb der Grenzen der ASSR der Wolgadeutschen, 50 km nordwestlich von Saratow gelegene Exklave und hatte eine Fläche von 38.703 Hektar. Bereits drei Jahre nach seiner Eingliederung in die ASSR der Wolgadeutschen wurde der Kanton Jagodnaja Poljana wieder aufgelöst und an das Gebiet Saratow angeschlossen. Bis 1941 gehörte das Territorium zu den Rayonen Wjasowka, Basarny Karabulak bzw. Nowye Burasy.

Die deutsche Kolonie Pobotschnoje wurde am 4. Juli 1773 von bereits ein Jahr zuvor auf eigene Kosten nach Russland gekommenen Kolonisten gegründet. Die ersten Kolonisten waren 19 größtenteils aus der (in den heutigen Bundesländern Hessen, Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen gelegenen) Grafschaft Isenburg stammende lutherische und reformierte Familien.

Die Entstehungsgeschichte dieser deutschen Kolonie unterscheidet sich nicht nur hinsichtlich des Zeitpunkts ihrer Gründung, sondern auch durch einige Besonderheiten der Ansiedlung der Kolonisten von der von staatlicher Seite streng reglementierten Gründung der anderen deutschen Wolgakolonien. So waren die meisten im Wolgagebiet gelegenen deutschen Kolonien zu diesem Zeitpunkt bereits gegründet und die russische Regierung hatte 1766 angesichts des in Europa zu verzeichnenden Widerstands gegen die russische Kolonisierungspolitik den Beschluss gefasst, die Anwerbung von Kolonisten vorübergehend auszusetzen, um die gutnachbarschaftlichen Beziehungen zu den deutschen Ländern nicht zu gefährden. Nichtsdestotrotz hatten 28 aus der Grafschaft Isenburg stammende Familien, die ihren Besitz bereits veräußert hatten, auf eigene Kosten ein Schiff angeheuert und waren am 17. Juli 1772 nach St. Petersburg gekommen, wo sie Unterstützung von Seiten der russischen Regierung zu bekommen hofften. Und tatsächlich organisierte die Fürsorgekanzlei mit Hilfe des Kriegskollegiums den von einem Offizier und vier Soldaten eskortierten Transport von 114 Kolonisten nach Saratow und stellte einen Arzt ab. Da allerdings die benötigten Schiffe und Fuhrwerke nicht sofort zur Verfügung standen, die lokalen Behörden keine sonderliche Eile an den Tag legten und auch die klimatischen Bedingungen so spät im Jahr den Transfer erschwerten, zog sich die überaus entbehrungsreiche Fahrt nach Saratow über vier Monate hin und forderte vor allem unter den Kindern insgesamt 15 Opfer. Zwei Kolonistinnen (Anna Maria Winzel, geb. Weingert, und Anna Katharina Schneider, geb. Lamm) gebaren Kinder. Als die Weiterfahrt auf der vereisten Wolga im November unmöglich war, wurden die Kolonisten mit Erlaubnis des Gouverneurs von Kasan für einen Monat im Dorf Nischni Uslon einquartiert.

Schließlich erreichten am 21. Dezember 27 Siedlerfamilien über die Eisstraße Saratow, wo sie auch den ersten Winter verbrachten. Acht Familien äußerten den Wunsch, in bereits bestehenden deutschen Kolonien angesiedelt zu werden, wo es freie Häuser gab. Die 19 verbliebenen Familien, die die letzte Gruppe ausländischer Kolonisten im Wolgagebiet stellten, fassten den Beschluss, zusammen zu siedeln. Nach langem bürokratischen Hin und Her wurden die Kolonisten schließlich am 22 Juni 1773 an den ihnen zugewiesenen, in der Nähe der Kolonie Jagodnaja Poljana gelegenen Ort gebracht, wo ihnen das Fürsorgekontor die benötigten landwirtschaftlichen Gerätschaften, Pferde, Kühe und Futtergeld zuwies. Am 4. Juli stellte der bereits im Juli 1772 auf einer Vollversammlung gewählte Vorsteher Samuel Schneider den Plan der Kolonie vor. Den Auftrag zum Bau von 19 für die Siedler bestimmten Häusern, Scheunen und Pferdeställen erhielt der in Serpuchow ansässige Kaufmann M. Tarasow. Bis zum Herbst waren die ersten Häuser fertiggestellt.

Der Name der Kolonie geht zwar eigentlich auf das gleichnamige Flüsschen Pobotschnaja zurück, spiegelt aber doch auch die nachrangige Bedeutung der Siedlung im Vergleich zu der bereits 1767 gegründeten größeren Nachbarkolonie Jagodnaja Poljana wider, die Zentrum des Amtsbezirks war. Dies zeigt auch der von dem russischen Namen abgeleitete deutsche Name „Nebendorf“. Der zweite Name der Kolonie Sredny Kolonok (Mittel-Kolonok) verweist auf die geographische Lage der Kolonie zwischen den Kolonien Jagodnaja Poljana und Neu-Straub (Nowaja Skatowka), die mit zweitem Namen auch Werchni bzw. Stary Kolonok (Ober- bzw. Alt-Kolodok) und Nowy Kolonok (Neu-Kolonok) hießen.

Ein Jahr nach seiner Gründung wurde Pobotschnoje im August 1774 von Truppen Jemeljan Pugatschows überfallen und war damit die zweite Kolonie, die dieses Schicksal erlitt. Während Pugatschow selbst in Jagodnaja Poljana blieb, wo ein Treffen zwischen Aufständischen und Kolonisten recht friedlich verlief, plünderten Teile seiner Truppen in Abwesenheit ihres Anführers Pobotschnoje. So nahm ein gerade einmal zehn Mann starker, mit Schusswaffen bewaffneter Trupp den persönlichen Besitz vieler Kolonisten an sich und stahl die Pferdeherde. Unter den gerade einmal ein Jahr zuvor nach Russland gekommenen Bewohnern der noch im Aufbau stehenden Kolonie sorgte dieser Überfall für große Verunsicherung.

Allen Problemen zum Trotz, mit denen die ersten Kolonisten angesichts der strengen frostreichen Winter, fehlender Winterkleidung und einer unzureichenden Ausstattung mit den einfachsten Dingen des Alltags zu kämpfen hatten, wuchs die Kolonie. Weitere Familien kamen hinzu, neue Häuser und öffentliche Gebäude wurden gebaut. Im Staatsarchiv des Gebiets Saratow findet sich im Verzeichnis der verlorengegangenen Akten des Saratower Fürsorgekontors eine auf das Jahr 1801 datierte „Akte über die Beseitigung einer am äußersten Ende der Seitenstraße belegten Hofstelle und deren Ausweisung entlang der neuen Linie“. Die in den Wolgakolonien herrschende Ordnung wurde von Seiten des Fürsorgekontors streng reglementiert, das die Kolonien unter anderem auch dazu anhielt, „bei der Wahl des Standorts in der Kolonie neu zu errichtender Häuser die nötige Ordnung einzuhalten, um sie im Fall eines Brandes schneller und besser schützen zu können.“ So durften neue Häuser nicht eigenmächtig ohne vorherige Genehmigung von Seiten des Kontors gebaut werden.

Mit der Zeit entwickelte sich in der Kolonie die Mehlproduktion. So erhielten die Kolonisten Johannes Rudi und Peter Wagner in den Jahren 1806/07 vom Kontor die Genehmigung zum Bau einer Wassermühle. Wenige Jahre später betrieben auch die Kolonisten Johann Wilhelm und Melchior Ochs Mühlen. In den 1820er Jahren eröffnete der Kolonist Johann Brack in der Kolonie ein Schankhaus. 1821 erteilte das Fürsorgekontor dem Kolonisten Rudi die Genehmigung, an der „großen Moskauer Straße ein Rasthaus zu bauen“. Die von Saratow nach Moskau führende Poststraße lief nur wenige Werst entfernt an der Kolonie vorbei, was den Kolonisten gewisse Einnahmen brachte.

Die von Seiten des Fürsorgekontors ausgeübte strenge Reglementierung des Wirtschaftslebens und der inneren Ordnung der Kolonien stand im Widerspruch zu dem den Übersiedlern gewährten Recht auf Selbstverwaltung und Wahl eigener Führer. Als sich die in Pobotschnoje ansässigen Kolonisten im September 1779 mit einer gegen ihren Vorsteher Wittich gerichteten Klage an das Fürsorgekontor wandten, der in der Dorfgemeinschaft keinen Respekt mehr genoss, aber seinen Posten nicht aufgeben wollte, wurden Neuwahlen verboten, „bis aus dieser ehrvergessenen Gemeinschaft ein fähiger Mann... gefunden ist“. Nichtsdestotrotz wurden bereits im folgenden Jahr 1800 ein gewisser Koch zum Vorsteher und ein gewisser Rudi zum Oberhaupt ernannt. Die Namen der Vorsteher der Kolonie sind größtenteils nicht überliefert. Bekannt ist lediglich, dass in den 1820er Jahren erneut ein Kolonist mit dem Namen Wittig bzw. Witich Vorsteher war.

Die Siedler betrieben Ackerbau und waren auf den Anbau von Weizen und Roggen spezialisiert. Im  Unterschied zu den unter Waldmangel leidenden linksufrigen deutschen Kolonien verfügte Pobotschnoje über recht große Waldflächen, aus denen sich auch taugliches Bauholz schlagen ließ. Während in den linksufrigen Kolonien durchschnittlich 2-5 Desjatinen forstwirtschaftlich nutzbare Waldfläche auf eine Familie kamen, lag der entsprechende Wert in Pobotschnoje bei 20,4 Desjatinen. Nichtsdestotrotz mussten die Kolonisten auch hier bei jedem neuen Hausbau zunächst beim Fürsorgekontor eine Genehmigung für den Holzschlag einholen. So finden sich im Staatsarchiv des Gebiets Saratow die Akten „Über die den Kolonisten der Kolonie Pobotschnaja erteilte Genehmigung, Holz zu schlagen“, „Über die den Kolonisten der Kolonie Pobotschnaja erteilte Genehmigung, 40 Bäume zu schlagen“ und „Über die dem Kolonisten der Kolonie Pobotschnaja Witag (Wittig) erteilte Genehmigung, 60 Bäume zu schlagen“, die allesamt aus dem Jahr 1804 datieren. Der Holzschlag durfte ausschließlich mit Genehmigung des Fürsorgekontors erfolgen. Angesichts der in der Steppenzone herrschenden Bedingungen führte der Mangel sowohl an Bau- als auch an Brennholz dazu, dass die Kolonisten häufig gegen dieses Verbot verstießen. In Artikel 53 der am 16. September 1820 vom Zaren bestätigten „Instruktion über die innere Ordnung und Verwaltung der Wolgakolonien“ hieß es: „In den Siedlungen, die reichlich mit Wald ausgestattet sind, ist jede überschüssige Nutzung zu unterbinden und so zu beschränken, dass die Kolonisten diesen über den für ihr Haus nötigen Bedarf hinaus nicht zum Verkauf an andere Orte nutzen und daraus keine Einnahmen für sich erzielen“.

Das Fürsorgekontor achtete streng darauf, dass die Bewohner der benachbarten russischen Dörfer die Wald- und Landstücke der Kolonisten nicht anrührten. So berichtete z.B. der Vorsteher von Pobotschnoje an das Kontor, dass die Bauern des Gutsherren Fedulow in den den deutschen Kolonisten gehörenden Waldstücken Holz geschlagen hatten. Über mehrere Jahrzehnte standen die Kolonisten im Rechtsstreit mit den Gutsherren Scherbinin und Abrasow, die Land in Beschlag genommen hatten, auf das die Kolonisten Anspruch erhoben, bis sie schließlich mit an anderen Orten gelegenen Ackerflächen für die verlorenen Landstücke entschädigt wurden. In den Jahren 1831/32 untersuchte das Fürsorgekontor im Auftrag der Abteilung für Staatswirtschaft und öffentliche Gebäude des Ministeriums für Innere Angelegenheiten die sozial-ökonomische Lage der Kolonie Pobotschnoje und kam nach Prüfung der von den Kolonisten eingereichten Klagen zu dem Schluss, dass der Zustand der Kolonie befriedigend sei. Nichtsdestotrotz mussten sich die Saratower Gouvernementsverwaltung und das Fürsorgekomitee bereits wenige Jahrzehnte später in den Jahren 1861–70 erneut mit territorialen Streitigkeiten zwischen den in Pobotschnoje ansässigen Kolonisten und den Bauern der russischen Dörfer Roschdestwenskoje und Wjasowka beschäftigen.

Dutzende Bewohner von Pobotschnoje arbeiteten nicht nur auf dem Feld, sondern führten als Weber in Heimarbeit auch Aufträge für die Fertigung von Sarpinka-Gewebe aus, die sie aus den Kolonien Anton, Norka, Huck u.a. bekamen. Im Jahr 1859 gab es im Dorf 16 Gewerbebetriebe und vier Mühlen. Der wichtigste im Dorf ansässige Gewerbebetrieb war eine Sirupfabrik, die aus Kartoffeln Stärke und Sirup produzierte. Nach Stand zum Jahr 1870 erwirtschafteten die in Pobotschnoje und Jagodnaja Poljana ansässigen Sirupfabriken 20.000 Rubel Reingewinn. 1857 lebten im Dorf 178 Familien, die 2.840 Desjatinen Land besaßen. Im Jahr 1859 gab es 239, im Jahr 1911 392 Höfe.

Steigende Einwohnerzahlen und Landmangel zwangen die Kolonisten zur Gründung von  Tochtersiedlungen. So gründeten aus Pobotschnoje stammende Kolonisten im Jahr 1858 im linksufrigen Steppengebiet die am linken Ufer des Flusses Jeruslan, 34 Werst nordöstlich von Krasny Kut an der Poststraße von Saratow nach Nowousensk gelegene Tochterkolonie Schönfeld (heute aufgegeben) sowie die 29 Werst von Krasny Kut entfernte Tochterkolonie Schöndorf (heute Dorf Repnoje, Rayon Krasny Kut, Gebiet Saratow).

Das stetige Bevölkerungswachstum zwang die Kolonisten, nicht nur im Wolgagebiet, sondern auch weit jenseits von dessen Grenzen nach Neuland zu suchen. So gründeten aus Pobotschnoje kommende Übersiedler am 30. April 1906 das im Rayon Odesskoje (Gebiet Omsk) gelegene Dorf Pobotschino, das nach ihrem Heimatort benannt wurde und bis zum heutigen Tag existiert. Die dort lebenden Deutschen erlitten das gleiche Schicksal wie ihre an der Wolga verbliebenen Verwandten: Kollektivierung und Entkulakisierung, Repressionen und Aussiedlung. Im April 1931 wurde das lutherische Bethaus in Pobotschino geschlossen und das Gebäude zerstört. 1941 wurden die meisten der 428 Dorfbewohner wie andere Deutsche auch zur Arbeitsarmee eingezogen. 2004 wurde in Pobotschino das private N.A. Dubel-Museum eröffnet, das die deutsche Geschichte der Ortschaft dokumentiert.

Die deutsche Bevölkerung, deren Siedlungen über ganz Russland verstreut waren, integrierte sich einerseits in die russische Gesellschaft, pflegte aber andererseits auch weiterhin einen isolierten Lebensstil. So verweist ein aus den 1920er Jahren stammendes Dokument auf die Abschottung der im Amtsbezirk Jagodnaja Poljana lebenden deutschen Bevölkerung und fehlende Kontakte zu den russischen Bauern: „Selbst mit dem benachbarten, gerade einmal sieben Werst entfernt liegenden, ebenfalls deutschen Dorf Pobotschnoje unterhält die Bevölkerung von Jagodnaja Poljana keinerlei verwandtschaftliche Beziehungen. […] An Verwandtschaften mit Russen ist selbst heute noch nicht zu denken. Die abgeschottete Lebensweise der deutschen Bevölkerung hat zur Folge, das ein gewisser Teil insbesondere der weiblichen Bevölkerung entweder überhaupt kein Russisch versteht oder sich nur unter großen Mühen verständlich machen kann.“ In den Jahren der Sowjetmacht waren die Bewohner des Dorfes Pobotschnoje weiterhin mit Ackerbau und Viehzucht sowie mit der Weiterverarbeitung landwirtschaftlicher Erzeugnisse beschäftigt. Im Dorf gab es eine landwirtschaftliche Kreditgenossenschaft, einen Genossenschaftsladen sowie einige weitere Geschäfte und Werkstätten. Im September 1941 wurden die Deutschen aus dem Dorf deportiert.

Schule und Erziehungswesen

In der Kirchenschule, die in Pobotschnoje praktisch seit Gründung der Kolonie selbst bestand, lernten Kinder im Alter von 7-15 Jahren. Bis zum Bau der ersten Kirche im Jahr 1809 fanden Gottesdienste und Schulunterricht im gleichen Gebäude des Schul- und Bethauses statt. Die Kirchenschulen dienten vor allem dem Ziel, die Kinder im Glauben zu unterweisen. In der Schule wurden Religion, Kirchengesang, das Lesen kirchlicher und weltlicher Texte, Schreiben, Rechnen sowie einige Grundzüge der Weltgeschichte unterrichtet. Die als Lektüre verwendeten Texte waren in der Regel religiösen Inhalts. Der Unterricht wurde von Küstern und Schulmeistern geleitet und dauerte von 8.00-11.00 Uhr morgens und von 14.00-16.00 Uhr nachmittags. Das Schuljahr begann am 20. August und endete am 20. Juni. Die übrige Zeit waren Kinder und Lehrer in der Landwirtschaft tätig. So hieß es z.B. in dem der Heranziehung von Kindern zu landwirtschaftlichen Arbeiten gewidmeten Artikel der am 16. September 1800 vom Zaren bestätigten „Instruktion über die innere Ordnung und Verwaltung der Wolgakolonien“: „Damit das ausgesäte Winter- und Sommergetreide nicht von Unkraut überwuchert wird, muss man mit aller Kraft danach streben, das Ackerland so gut es geht mit der Egge zu lockern, so dass keine ungebrochenen Erdschollen bleiben, und wenn die Saat später aufgeht und sich irgendwo Unkraut zeigt, müssen solche Felder immer fleißig gejätet werden, wofür minderjährige Kinder im Alter von über zehn Jahren eingesetzt werden.“

Anfang des 20. Jahrhunderts besuchten im Dorf Pobotschnoje über 400 Kinder die Schule. Nach den Daten der Volkszählung von 1920 lag die Alphabetisierungsrate im Amtsbezirk Jagodnaja Poljana unter der männlichen Bevölkerung bei 30,9% und unter der weiblichen Bevölkerung bei 29,8%. In den Jahren der Sowjetmacht wurde die Kirchenschule geschlossen und durch eine Grundschule ersetzt.

Religionszugehörigkeit der Bevölkerung und Kirche

Eine Besonderheit der in Pobotschnoje ansässigen Bevölkerung bestand darin, dass diese mehrheitlich dem reformierten Zweig des Protestantismus angehörte. So waren nach Stand zum Jahr 1905 2.894 (80%) der insgesamt 3.616 Dorfbewohner Reformierte. Die übrigen Kolonisten waren evangelisch-lutherischer Konfession.

Die evangelisch-lutherische Gemeinde der Kolonie gehörte zum Pfarrsprengel Jagodnaja Poljana, als dessen Gründungsjahr unterschiedliche Quellen wahlweise 1785 oder 1804 angeben. Im Verzeichnis der Akten des Saratower Kontors für ausländische Siedler wird wiederum eine „Akte über den Anschluss der Kolonien Jagodnaja Poljana und Pobotschnaja an den Pfarrsprengel“ erwähnt, die auf das Jahr 1799 verweist. Zudem ist belegt, dass die Kolonien Pobotschnoje, Jagodnaja Poljana und Nowaja Skatowka im Jahr 1802 schon dem Pfarrsprengel angehörten. Nach Stand zum Jahr 1905 lebten im Pfarrsprengel Jagodnaja Poljana 15.692 Gemeindemitglieder.

Wann genau in Pobotschnoje das erste Gotteshaus gebaut wurde, ist nicht bekannt. Einige Zeit hielten die reformierten Kolonisten ihre eigenen Gottesdienste ab, während die Lutheraner den sonntäglichen Gottesdienst im sieben Werst entfernten Jagodnaja Poljana aufsuchen mussten. Als dort im Jahr 1804 die Pfarrstelle besetzt wurde, wurde beschlossen, dass der neue lutherische Pastor regelmäßig nach Pobotschnoje kommen und dort auch für die Reformierten den Gottesdienst feiern sollte, woraufhin in Pobotschnoje ein eigenes Bethaus errichtet wurde, dessen Bau frühestens 1803 und spätestens 1810 erfolgte. Der Bau wurde von örtlichen Handwerkern ohne offiziell eingereichten Bauplan errichtet und wies keinerlei bemerkenswerte architektonische Besonderheiten auf. In den ersten Jahren nach der Gründung der Kolonie ging es den Kolonisten ausschließlich darum, mitten in der russischen Steppe überhaupt ein protestantisches Gotteshaus errichten zu können, das nicht nur zur Feier der Gottesdienste genutzt wurde, sondern auch Zentrum des Gemeindelebens war. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde in Pobotschnoje eine große Holzkirche errichtet, in der bis Mitte der 1930er Jahre Gottesdienste gefeiert wurden.

In den ersten Jahren nach der Gründung der Kolonie gab es in Pobotschnoje und Umgebung keinen Pastor. Im Verzeichnis der verlorenen Akten des Saratower Kontors für ausländische Siedler des Staatsarchivs des Gebiets Saratow ist eine auf das Jahr 1802 datierte „Akte über die Entsendung des Sohnes des in Pobotschnoje ansässigen Kolonisten Konrad Wagner zu Pastor Otto“ aufgeführt. Dazu muss man wissen, dass Pastor Johann Martin Otto zu dieser Zeit in der mehrere Hundert Werst entfernten Pfarrgemeinde Beideck (Talowka, heute Luganskoje, Rayon Krasnoarmejsk, Gebiet Saratow) diente, so dass die Gemeinde für eine Taufe oder ein Begräbnis auf die Hilfe eines Geistlichen angewiesen war, dessen Transport in die Kolonie ausgesprochen beschwerlich und zur Schlammzeit im Herbst und Frühjahr, wenn die Wege nicht befahrbar waren, schlicht unmöglich war. Erst 1804 bekam der Pfarrsprengel in Person von K.G. Rambach seinen ersten Pastor, der sich in Jagodnaja Poljana niederließ, nachdem er 1797 nach Russland gekommen war und zuvor als Divisionsprediger in Sibirien gedient hatte.

Alles andere als leicht gestaltete sich das Schicksal der Geistlichen nach 1917. Pastor Rudolf Dalton, der seit 1912 im Pfarrsprengel Jagodnaja Poljana war, schied nach der Revolution von 1917 unter dem Eindruck der ersten kirchenfeindlichen Maßnahmen der neuen Machthaber aus dem Kirchendienst aus. 1928 emigrierte Pastor Feldbach aus Russland, der in Jagodnaja Poljana und im linksufrigen Krasny Jar gleich zwei Pfarrsprengel betreut hatte. In den 1920er blieb der 15.000 Mitglieder starke Pfarrsprengel Jagodnaja Poljana fast zwei Jahre lang ohne Pastor, was zu dieser Zeit auch in anderen Gemeinden des Wolgagebiet keine Seltenheit war.

1926 kam Arthur Pfeiffer (1897–1972) unmittelbar nach Abschluss seiner Ausbildung am Leningrader Predigerseminar in die Gemeinde. 1930 wurde er erstmals verhaftet, nach kurzer Zeit aber aus Mangel an Beweisen wieder entlassen. Im Dezember 1934 wurde er wie auch sein in Saratow als Pastor tätiger Bruder Emil erneut verhaftet.

Am 17. April 1934 stellte die Kommission für Kultfragen beim Präsidium des Zentralexekutivkomitees Listen der in Pobotschnoje ansässigen Gläubigen mit den Unterschriften jener Gemeindemitglieder zusammen, die sich mit einer Schließung der Dorfkirche einverstanden erklärten. 179 der insgesamt 209 Gemeindemitglieder stimmten für die Schließung der Kirche, lediglich 30 dagegen. .Am 19. April 1934 beschloss das Präsidium des Zentralexekutivkomitees der ASSR der Wolgadeutschen, die Kirche in Pobotschnoje zu schließen, und empfahl, das Kirchengebäude für kulturellen Zwecke zu nutzen. Bereits im Juli 1934 berichteten die örtlichen Organe an das Zentralexekutivkomitee, dass das Kirchengebäude beschlagnahmt und zu einem Kulturhaus umgebaut worden sei und es im Kanton Jagodnaja Poljana keine einzige aktive Kirche mehr gebe.

Die Sonderkonferenz beim NKWD verurteilte Arthur Pfeiffer zu fünf Jahren Lagerhaft, die er in Jaja im Gebiet Nowosibirsk verbüßte. In den 1950er Jahren predigte A.I. Pfeiffer in lutherischen Gemeinden in Kasachstan, wo seine aus Pobotschnoje deportierten früheren Gemeindemitglieder nach 1941 lebten.

Liste der Pastoren

der Pfarrgemeinde Jagodnaja Poljana, die in Pobotschnoje Gottesdienst hielten: Karl Heinrich Rambach (1804–20), Martin Gottfried Hermann (1820–22), Johann Michael Allendorf (1823–26), Christian Gottlieb Flittner (1827–32), Ernst Theodor Hellman (1833–35), Ernst Wilhelm David (1836–40), Olivier Christoph Holm (1841-49), Christian Gottlieb Hegele (1850–64), Christian David Dsirne -(1864–73), Eugen Friedrich Benjamin Kahn -(1874–81), August Julius Schilling (1882–1906), Albert Lesta (1896), Felix Coulin (1906–08), Arthur Woitkus (1909–12), Rudolf Woldemar Dalton (1912–17), Wilhelm Feldbach (1919–24), Arthur Pfeiffer (1926–34).

Entwicklung der Einwohnerzahlen

1773 lebten in Pobotschnoje 73 ausländische Kolonisten, 1788 waren es 217, 1798 - 626, 1816 - 658, 1834 – 1.409, 1850 - 2.384, 1859 – 3.088, 1883 2.461. Nach den Daten der Allgemeinen Volkszählung des Russischen Reiches von 1897 hatte Pobotschnoje 2.516 Einwohner, bei denen es sich ausnahmslos um Deutsche handelte. Im Jahr 1905 lebten im Dorf 3.616 Personen. 1911 hatte das Dorf 3.278 Einwohner. Nach den Daten der Volkszählung von 1926 hatte Pobotschnoje insgesamt 2.967 Einwohner.

Das Dorf heute

Heute zwischen den Dörfern Jagodnaja Poljana und Skatowka gelegene unbewohnte Ortschaft, Rayon Tatischewo, Gebiet Saratow.

Im Herbst 1941 wurden im Dorf Pobotschnoje Russen und Ukrainer angesiedelt, die aus den von den Truppen der deutschen Wehrmacht besetzten Gebieten evakuiert worden waren. Angesichts der Tatsache, dass sich viele dieser in den Kriegsjahren in das Dorf gekommenen Neusiedler nur schwer an die örtlichen Gegebenheiten anpassen konnten, gingen die Bevölkerungszahlen kontinuierlich zurück, so dass das Dorf im Zuge der in den 1960er Jahren durchgeführten Kampagne zur Auflösung „perspektivloser Dörfer“ schließlich vollständig aufgegeben wurde. Im Jahr 1959 hatte das Dorf Pobotschnoje noch 407 Einwohner. Am 29. Juli 1959 wurden der örtliche Dorfsowjet und die Lenin-Kolchose durch Beschluss Nr. 194 des Rayonsexekutivkomitees aufgelöst und das Dorf Pobotschnoje an den Dorfsowjet Jagodnaja Poljana angeschlossen.

Noch vor 20 Jahren lebten auf dem Gebiet des Dorfes einige Familien. Man konnte Reste der Häuser finden und über den zugewucherten früheren Friedhof gehen. Heute liegt das alles in der Vergangenheit. Am Standort des früheren Dorfes Pobotschnoje lassen sich nur noch Reste der Fundamente finden. Vollständige Bauten sind nicht mehr erhalten. Einzig Bodenerhebungen und -vertiefungen weisen auf die Standorte früherer Häuser hin.

Nichtsdestotrotz lassen sich auch an diesem Ort, an dem sich früher Pobotschnoje befand, Spuren der Vergangenheit finden. So lässt sich bei aufmerksamer Betrachtung noch die frühere Dorfstruktur der deutschen Kolonie erkennen, der Verlauf der historischen Straßen rekonstruieren und der Grundriss des Dorfes nachzeichnen - der zentrale Platz, im Ortskern und am Ortsrand gelegene Wohnblöcke und Hofstücke. Gut zu erkennen ist die Hauptstraße sowie die von dieser nach oben und unten des malerischen Hügels abgehenden Seitengassen. Aufgrund der erhaltenen Fundamente lassen sich die Standorte und Maße der früheren Häuser erkennen.

Literatur

Вишленкова Е.А. Заботясь о душах подданных: Религиозная политика в России первой четверти ХIХ в. – Саратов, 2002; Князева Е.Е., Соловьева Ф. Лютеранские церкви и приходы ХVIII – ХХ вв. Исторический справочник. – СПб., 2001. – Часть I; Немецкие населенные пункты в Российской Империи: География и население. Справочник / Сост.: В.Ф. Дизендорф. – М., 2002; Плеве И.Р. Немецкие колонии на Волге во второй половине ХVIII века. – М., 1998; Списки населенных мест Саратовской губернии. Саратов, 1862; Dietrich H.-C. Sie gehen von einer Kraft zur anderen. In memoriem Artur Pfeiffer. 18.8.1897–30.10.1972 // Beiträge zur Geschichte der evangelisch-lutherischen Kirche Russlands. – Band 2. – Hg. v. Georg Kretschmar. – Martin Luther-Verlag Erlangen, 1997; Stumpp K. Verzeichnis der ev. Pastoren in den einzelnen deutschen und gemischten Kirchspielen in Russland bzw. der Sowjetunion, ohne Baltikum und Polen // Die Kirchen und das religiöse Leben der Russlanddeutschen. – Evangelischer Teil. – Bearbeitung J. Schnurr. –Stuttgart, 1978.

Archive

Archive: ГАСО. Ф. 180. Оп. 1. Д. 34, 392, 2146, 3006, 3963, 3979, 7000, 9720; Ф. 521. Д. 2072; Ф. 637. Оп. 36. Д. 33а–35, 48; ГИАНП. Ф. 849. Оп. 1. Д. 890. Л. 36.

Autoren: Lizenberger O.A.

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