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REINGARDT (Rynowka, Ossinowka), heute Dorf Ossinowka, Rayon Engels, Gebiet Saratow; deutsche Kolonie im linksufrigen Wolgagebiet

Rubrik: Geschichte und Geographie der Ansiedlung der Deutschen im Russischen Reich, in der UdSSR und GUS / Geschichte der Ansiedlung
Ossinowka. Holzhäuser. Foto Je. Moschkow, 2010.
Ossinowka. Holzhaus aus dem frühen 20. Jahrhundert. Foto Je. Moschkow, 2010.
Dorf Ossinowka. Backsteinhaus mit Sims. Foto Je. Moschkow, 2010.
Проект евангелическо-лютеранской церкви в с. Рейнгардт. Архитектор К. Лагус. 1850 г.

REINGARDT (Rynowka, Ossinowka), heute Dorf Ossinowka, Rayon Engels, Gebiet Saratow; im linksufrigen Wolgagebiet am linken Ufer des Flusses Bolschoj Karaman, 340 Werst von Samara, 35 Werst von Saratow und 15 Werst vom Zentrum des Amtsbezirks Mariental (Tonkoschurowka) gelegene deutsche Kolonie. Von 1871 bis Oktober 1918 gehörte das Dorf zum Amtsbezirk [Wolost] Karaman/ Tonkoschurowka (Bezirk [Ujesd] Nowousensk, Gouvernement Samara).

Nach der Gründung der Arbeitskommune der Wolgadeutschen war das Dorf Reingardt bis 1941 Verwaltungszentrum des im Kanton Tonkoschurowka (Mariental) gelegenen gleichnamigen Dorfsowjets, zu dem 1926 das Dorf Reingardt, das Vorwerk Metschetka sowie die Gehöfte Schäfer, Basner, Kamer und Arnst gehörten. In den Jahren 1922-27 gehörte das Dorf Reingardt zum Kanton Krasny Jar (Republik der Wolgadeutschen). Im Zuge der Ende 1927 in der ASSR der Wolgadeutschen vollzogenen Gebiets- und Verwaltungsreform wurde der Kanton Krasny Jar durch die Beschlussfassung des Zentralexekutivkomitees der RSFSR „Über Änderungen der administrativen Aufteilung der ASSR der Wolgadeutschen und die Wiedereinführung der vor 1914 bestehenden Ortsnamen in den deutschen Siedlungen“ aufgelöst und das Dorf Ossinowka an den Kanton Tonkoschurowka (Mariental) angeschlossen. 1935 wurde der Kanton Krasny Jar wiedererrichtet.

Die deutsche Kolonie Reingardt wurde am 15. Juli 1766 gegründet. Mit der Anwerbung der Kolonisten und Gründung dieser Werberkolonie waren die aus Genf bzw. Frankreich stammenden Privatunternehmer Pictet und le Roy befasst. Der deutsche Name der Kolonie geht auf den ersten Dorfältesten Johann Christian Reingardt zurück, einen aus Sachsen stammenden 38-jährigen Kaufmann, der zusammen mit seiner 19-jährigen Frau Anna Margareta nach Russland gekommen war. Der zweite offizielle russische Name Ossinowka wurde der Kolonie aufgrund des die Benennung der Kolonien regelnden Erlasses vom 26. Februar 1768 gegeben.

Die ersten in Reingardt angesiedelten Kolonisten waren 86 aus Sachsen, Mecklenburg, Brandenburg und anderen deutschen Ländern sowie aus Dänemark und Schweden stammende Kolonisten, bei denen es sich größtenteils um Lutheraner handelte. Lediglich drei Kinder im Alter von 14-19, die den Familiennamen Lauber trugen und ihre Eltern verloren hatten, lebten in der lutherischen Familie ihres Stiefvaters Paul Heinrich Roloff, waren aber selbst Katholiken.

Unter den ersten 33 Kolonisten waren 22 Zunfthandwerker (unter dieser Bezeichnung wurden bei der Zusammenstellung der Listen der ersten Siedler in dieser Kolonie die Angehörigen nicht landwirtschaftlicher Berufe aufgeführt), ein Kaufmann (der Vorsteher der Kolonie) und ein lutherischer Pastor (der aus Sachsen stammende 26-jährige Junggeselle Karl Christian König, der der geistlichen Tätigkeit in Russland allerdings den Rücken kehrte und als Arbeiter und Ackerbauer tätig war).

In den ersten Jahren nach der Übersiedlung hatten die Bewohner der Kolonien mit zahlreichen ökonomischen Schwierigkeiten zu kämpfen. So wandten sich die in Reingardt ansässigen Kolonisten im Januar 1769 zusammen mit den Bewohnern weiterer elf Kolonien des Anwerbers le Roy mit einer gegen die Direktion gerichteten Beschwerde an das Fürsorgekontor, die sie für ihre nach eigener Einschätzung „extreme Notlage“ verantwortlich machten. In den Folgejahren sorgten Überfälle sowohl der Kirgis-Kaisaken als auch der Truppen Pugatschows auf die Kolonie für eine weitere Verschlechterung ihrer ökonomischen Lage. In den Jahren 1774–76 sahen sich die Kolonien immer wieder Angriffen von Seiten der Kirgis-Kaisaken ausgesetzt, muslimischen turksprachigen Nomadenstämmen, die ihre angestammte Ordnung bewahrt hatten und aus der Steppe heraus immer wieder Überfälle auf die die linksufrigen Wolgasiedlungen unternahmen, bei denen sie plünderten und brandschatzten, christliche Kirchen zerstörten, Siedler gefangen nahmen und alle töteten, die Widerstand zu leisten wagten. Die Kolonisten stellten Selbstschutzeinheiten auf, wandten sich hilfesuchend an die Zarin Katharina II. und organisierten den Loskauf von Gefangenen, deren Zahl nach Berechnungen von J. Dietz bei etwa 2.500 Personen lag. Die russische Regierung, die sich der verheerenden Folgen der Überfälle bewusst war, zog im Jahr 1766 Gräben, Wälle und Befestigungsanlagen um die Kolonien und stellte reguläre Truppeneinheiten ab, um die Steppengrenzen zu sichern.

Die Entwicklung der Kolonie konnte dies langfristig nicht aufhalten. Weit über die Grenzen des Dorfes hinaus war die bereits in den 1770er Jahren erbaute Windmühle bekannt, die im Unterschied zu den zu diesem Zeitpunkt in den anderen Kolonien bestehenden Mühlen vier Mühlräder hatte, die jeweils verschiedene Mahlvorgänge zur Produktion von Grob- oder Grießmehl ausführen konnten. Nach Angaben des Zentralen Statistik-Komitees gab es 1859 in der Kolonie bereits fünf Windmühlen. Die alles in allem erfolgreiche Entwicklung der Kolonie wurde dadurch gehemmt, dass sich für den Landmangel, der allgemein eines der größten Probleme darstellte, keine Lösung fand. In der Zeit zwischen der 5. (1788) und der 8. (1834) Revision verdreifachte sich die Bevölkerungszahl fast. Nach den Daten der Revision von 1834 waren den Kolonisten Landstücke in der Größe von 15 Desjatinen pro Kopf zugeteilt. Nach den Daten der im Jahr 1857 durchgeführten 10. Revision besaßen die zu diesem Zeitpunkt in der Kolonie ansässigen männlichen Kolonisten nur noch Landstücke in der Größe von etwa 6.2 Desjatinen pro Kopf, was sich negativ auf die Stabilität ihrer Wirtschaft auswirkte.

Angesichts des Landmangels waren viele Familien bestrebt, sich außerhalb von Reingardt anzusiedeln und Tochterkolonien zu gründen. So gründeten im Jahr 1849 40 aus Reingardt stammende Familien zusammen mit Kolonisten aus Schäfer (Lipowka) die Kolonie Fresental (Neu-Schäfer, Schifskoje, Nowo-Lipowka, heute Dorf Nowolipowka, Sowjetski Rayon, Gebiet Saratow), aber auch dadurch ließ sich der Bevölkerungsdruck nur vorübergehend lindern. Nach den Daten des Gouvernements-Statistik-Komitees Samara gab es 1910 in Reingardt 218 Höfe.

Die Machtübernahme der Bolschewiki setzte dem geordneten Leben der Kolonien ein Ende. Als sich im Frühjahr 1921 zahlreiche deutsche Dörfer gegen die Sowjetmacht erhoben, befanden sich Stariza, Schulz, Schäfer, Seelmann, Balzer, Mariental und zahlreiche andere Ortschaften in den Händen der Aufständischen. Der „Stab der aufständischen hungernden Bauern“ (wie er sich selbst nannte) gab den Befehl aus, alle in den deutschen Siedlungen Ossipowka, Lipowka, Lipow Kut und Lugowaja Grjasnucha lebenden Männer zu mobilisieren und forderte diese unter Androhung von Erschießungen auf, sich im Dorf  Swonarjow Kut einzufinden, um den bewaffneten Widerstand gegen die Truppen der Roten Armee zu organisieren. Am 1. April wurde Reingardt von roten Einheiten eingenommen. Nach der Niederschlagung des Aufstands verurteilte das vor Ort tagende Revolutionstribunal Hunderte an der Erhebung Beteiligte zum Tod durch Erschießen und ließ ihren Besitz konfiszieren.

In den Jahren der Sowjetmacht gab es im Dorf einen Genossenschaftsladen, eine landwirtschaftliche Kreditgenossenschaft und eine mobile Bibliothek. Es wurde die Kolchose „Roter Kämpfer“ gegründet und eine Maschinen-Traktoren-Station eingerichtet. Im September 1941 wurden die Deutschen aus dem Dorf deportiert, das seit 1942 den Namen Ossinowka trägt.

Schule und Erziehungswesen

In der Kirchenschule, die in Reingardt praktisch seit Gründung der Kolonie selbst bestand, lernten Kinder im Alter von 7-15 Jahren. Bis zum Bau der ersten Kirche im Jahr 1809 fanden Gottesdienste und Schulunterricht im gleichen Gebäude des Schul- und Bethauses statt. Nach Angaben des Zentralen Statistik-Komitees gab es in Reingardt im Jahr 1859 bereits zwei Schulen, da eine einzige Schule schon nicht mehr alle zum Besuch einer Elementarschule verpflichteten Kinder aufnehmen konnte.

Die Kirche schenkte der Erziehung und Bildung der Kinder große Aufmerksamkeit. Die Kirchenschulen waren in der Regel nicht in einem eigenen Gebäude, sondern in Schul- und Bethäusern untergebracht, in denen auch die Gottesdienste stattfanden. Das Schulprogramm war religiös ausgerichtet und umfasste in der Regel das Lesen von Gebeten, Kirchengesang und Schreiben. Die Lehrer waren Küster und Schulmeister, die über eine gewisse Unterrichtserfahrung verfügten. Zu Beginn einer Unterrichtsstunde las der Lehrer das Material vor, das die Kinder laut nachsprechen mussten. Jeder Schüler wurde an die Tafel gerufen, wo er das Gelernte ohne zu stocken aufsagen musste. Alle Unterrichtsfächer waren religiös geprägt, als Lektüre dienten religiöse Schriften. Der Lehrer verzieh den Schülern keine Fehler und durfte sie auch körperlich züchtigen. Ende des 19. Jahrhunderts vermittelten die Schulen zunehmend auch nicht religiöse Inhalte und erweiterten das Programm um Grammatik, Arithmetik und andere Fächer. Von ihrem siebten Lebensjahr an waren die Kinder zur täglichen Arbeit angehalten und mussten ihren Eltern in Handwerk und Gewerbe oder bei der Landarbeit helfen.

Neben den kirchlichen Gemeindeschulen gab es in der Kolonie Ende des 19. Jahrhunderts eine Semstwo-Schule, in der die Kinder auch Russisch lernten. Nach den von Pastor J. Erbes, dem Probst des linksufrigen Wolgagebiets, zum Stand des deutschen Schulwesen zusammengetragenen Daten waren im Jahr 1906 273 der insgesamt 2.000 Einwohner Kinder im Alter von 7-15 Jahren. 1906 besuchten 32 Jungen und 21 Mädchen die Semstwo-Schule, wo sie von drei Lehrern unterrichtet wurden. Beide Schulen wurden aus Mitteln der Kirchengemeinde unterhalten. Am 25. Oktober 1908 fasste die Dorfgemeinschaft den Beschluss, die Kirchenschule dem Semstwo zu unterstellen, sofern dieser bereit war, den Bau eines neuen Schulgebäudes zu finanzieren, das das baufällige Gebäude der alten Kirchenschule ersetzen sollte. In den Jahren der Sowjetmacht wurden sowohl die Kirchen- als auch die Semstwo-Schule geschlossen und durch eine Grundschule ersetzt.

Religionszugehörigkeit der Einwohner und Kirche

Die Kolonisten waren evangelisch-lutherischer Konfession. Bis 1820 gehörte die Kolonie Reingardt zum Pfarrsprengel Rosenheim (Podstepnoje), nach 1820 war sie Zentrum eines eigenen Pfarrsprengels, zu dem neben Reingardt auch die Kirchengemeinden Reinwald (Stariza) Schulz (Grjasnucha), Urbach (Lipow Kut) und Schäfer (Lipowka) gehörten. Allerdings war Reingardt nicht die größte im Pfarrsprengel gelegene Gemeinde und. z.B. kleiner als Reinwald (Starizkoje), das im Jahr 1910 5.033 Einwohner hatte. Im Jahr 1905 lebten insgesamt 14.527 Gemeindemitglieder im Pfarrsprengel Reingardt.

Im Jahr 1809 wurde in Reingardt eine erste Holzkirche gebaut, nachdem die Gemeinde zuvor das zeitgleich mit der Gründung der Kolonie errichtete Schul- und Bethaus für die Feier ihrer Gottesdienste genutzt hatte. Nachdem das Saratower Konsistorium 1820 beschlossen hatte, Reingardt zum Zentrum des neu gegründeten Pfarrsprengels zu machen, zogen die Gemeindemitglieder ernsthaft den Bau einer ihrem neuen Status entsprechenden Kirche in Erwägung, verfügten aber nicht über die für einen sofortigen Umbau der alten Kirche benötigten Mittel. Später musste die zwischenzeitlich führungslose Gemeinde erst einmal einen neuen Pastor suchen und sich, als dieser nach vier Jahren endlich gefunden war, um den Bau eines neuen Pfarrhauses kümmern, der sich bis 1838 hinzog. So dauerte es letztlich bis 1849, bis die alte Kirche wenigstens umgebaut und vergrößert werden konnte. Da den Kolonisten allerdings klar war, dass sie angesichts der Konkurrenz mit den Nachbargemeinden unbedingt eine standesgemäße Kirche brauchten, begannen sie bereits 1851, Spendengelder für einen Neubau zu sammeln, der ihrem Status als Pfarrgemeinde gerecht werden konnte. Das Genehmigungsverfahren für Kirchenneubauten stellte in den Kolonien einen langwierigen Prozess dar, der sich – vom ersten Beschluss der Gemeinde bis zur Weihung der Kirche – über zehn Jahre und länger hinziehen konnte, wovon auch die im Staatsarchiv des Gebiets Saratow erhaltene, aus den Jahren 1863-68 datierende Akte „Über den Bau der evangelisch-lutherischen Kirche in der Kolonie Ossinowka“ zeugt, der zufolge die Grundsteinlegung erst am 12. Oktober 1863 erfolgte, obwohl die Bau- und Straßenkommission des Gouvernements den von Ferdinand Lagus (Architekt des Fürsorgekontors) stammenden Bauplan bereits am 9. Februar 1850 bestätigt hatte. 1864 gab die Gemeinde Reingardt bei dem bekannten Saratower Meister I. Badrow den Bau eines Altar und einer Kanzel in Auftrag.

Erst Ende 1865 war der am Standort der alten Kirche auf einem hohen Steinfundament errichtete Holzbau der neuen Kirche soweit fertiggestellt, dass am 8. Dezember 1865 die feierliche Einweihung stattfinden konnte. Aber auch noch danach wurden umfangreiche Verschalungsarbeiten durchgeführt, so dass der fertige Kirchenbau erst am 2. Dezember 1868 endgültig abgenommen werden konnte. Die neue Kirche war deutlich geräumiger als der Vorgängerbau und bot Platz für 800 Gläubige. Unweit der Kirche befanden sich ein freistehender hölzerner Glockenstuhl, ein steinernes Bethaus und ein Brunnen. Um die Kirche herum wurde ein kleiner Garten angelegt. Die Kirchengemeinde besaß einen eigenen Pferdestall und einen Keller für die Lagerung landwirtschaftlicher Produkte.

Erster Pastor der für Reingardt zuständigen Pfarrgemeinde Rosenheim war der aus Mecklenburg stammende Ludwig Helm, der in Rostock Theologie studiert hatte und 1736 ordiniert worden war. Nachdem er sich 1766 in Lübeck den ersten Kolonisten angeschlossen hatte, diente er der Gemeinde von 1767–85.  Gelegentlich kam es zu Konflikten zwischen Gemeindemitgliedern und Geistlichkeit. So wandte sich Pastor Helm z.B. im Jahr 1776 mit einer Beschwerde über die Dorfbewohner an das Fürsorgekontor, die nach seinen Worten die „geistlichen Einrichtungen geringschätzten“, sich nicht um die Instandhaltung der Kirchenbauten kümmerten und keine Reparaturarbeiten vornahmen. Das Kontor ordnete an, die Kolonisten zum Besuch der Gottesdienste zu „zwingen“.

Angesichts ihres Einflusses nicht nur auf die geistliche Entwicklung, sondern auch auf die gesamte innere Organisation der Kolonie prägte die lutherische Kirche praktisch alle Lebensbereiche der Gemeinde. Gemäß der in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bestätigten „Instruktion der kolonistischen Geistlichkeit“, mit deren Inhalt sich alle Geistlichen bei Dienstantritt bekannt machen mussten, waren diese nicht nur dazu verpflichtet, z.B. die Kirchenbücher zu führen, sondern mussten auch in der Landwirtschaft tätig sein und Seidenraupenzucht betreiben.

Nach dem Tod von Pastor Hasthoffer wurden die beiden 1820 gegründeten Pfarrsprengel Reingardt und Näb (Rjasanowka) in den Jahren 1826-30 unter Leitung des gemeinsamen Pastors David Flittner zusammengelegt, da sich angesichts des in den deutschen Wolgakolonien bestehenden Mangels an Geistlichen nicht sofort ein eigener Pastor finden ließ. Ungeachtet der von dem Superintendenten des Saratower Konsistoriums Ignatius Aurelius Fessler vollzogenen Beschränkung der Zahl der von den Pfarrgemeinden mitzubetreuenden Filialgemeinden blieb die Situation in den lutherischen Gemeinden auch weiterhin alles andere als ideal. Um in allen Gemeinden seines Pfarrsprengels zu predigen, war der Pastor gezwungen, etwa 6-7 Mal pro Jahr jeweils 225 Werst zurückzulegen.

Angesichts seiner vergleichsweise geringen Einwohnerzahl und wenig repräsentativen Holzkirche stand Reingardt hinsichtlich der Frage, wer als Zentrum des Pfarrsprengels den Pastor dauerhaft bei sich beherbergen durfte, in einer ständigen Konkurrenz mit den Nachbargemeinden Schäfer und Reinwald, die sich noch vertiefte, als in Schäfer im Jahr 1905 die (bis heute erhaltene) größte lutherische Kirche des Wolgagebiets gebaut wurde, die Platz für 4.000 Gläubige bot und somit doppelt so groß war als die Gemeinde selbst Mitglieder hatte. Und auch in Reinwald wurde 1913 eine (ebenfalls bis heute erhaltene) lutherische Backsteinkirche errichtet. Letztlich blieb Reingardt allerdings Zentrum des Pfarrsprengels, zumal die weitere Entwicklung des Luthertums im Wolgagebiet durch die revolutionären Ereignisse des Jahres 1917 jäh gestoppt wurde.

Wie viele andere Geistliche auch emigrierte der letzte im Pfarrsprengel Reingardt tätige Pastor Wilhelm Miller 1921 aus Russland. Im Jahr 1924 kamen im Wolgagebiet durchschnittlich 4.000 Lutheraner auf einen einzigen Prediger. 26 verwaiste Pfarrgemeinden mit vielen Tausend Gläubigen blieben über Jahre ohne Geistliche. Angesichts fehlender Pastoren wurde die Rolle der Küster gestärkt. So geriet auch die Gemeinde Reingardt, die keinen eigenen Pastor mehr hatte, 1925 unter den Einfluss des Küsters Jakob Fritzler, der sich selbst zum Bischof erklärte und zum Gründer der sogenannten Freien Lutherischen Kirche im Wolgagebiet wurde. In der sowjetischen Geschichtsschreibung der 1920er Jahre wurde die in den deutschen Kolonien entstandene Lage folgendermaßen beschrieben: „Die offizielle Lutherische Kirche ist angesichts des Anwachsens dieser Bewegung höchst besorgt und unternimmt alles in ihrer Macht stehende, um diese zu lähmen. Was das Verhältnis der Sekten zur Sowjetmacht betrifft, hat die Lebendige Deutsche Kirche eine Erklärung veröffentlicht, der zufolge sie die Beschlüsse des XIII. Parteitags anerkennt, die Trennung von Kirche und Staat begrüßt, ihrer besonderen Befriedigung bezüglich der zur Bekämpfung des Analphabetentums ergriffenen Maßnahmen Ausdruck verleiht [...] und ihre Bereitschaft erklärt, sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten an den kulturellen Initiativen der Sowjetmacht zu beteiligen.” Mitte der 1930er Jahre hatten alle lutherischen Gemeinden unabhängig von der Frage, ob sie der offiziellen oder der neuen Kirche angehörten, zu bestehen aufgehört.

1931 informierte die regionale Kommission für die Prüfung religiöser Angelegenheiten das Präsidium des Zentralexekutivkomitees der ASSR der Wolgadeutschen in einem geheimen Bericht, dass es in Reingardt noch 467 Gläubige gebe, von denen 43 den Status von „Lischenzy“ hätten, ihnen also das Wahlrecht und andere bürgerliche Rechte aberkannt waren. Das Präsidium des Zentralexekutivkomitees schlug vor, den Prozess der Auflösung der Kirche im Dorf zu beschleunigen. Am 20. Januar 1934 beschloss die Kommission für Kultfragen beim Zentralexekutivkomitee der ASSR der Wolgadeutschen, die Kirche in Schäfer mit der Begründung zu schließen, dass sich 234 der insgesamt 251 Gemeindemitglieder für eine Schließung der Kirche ausgesprochen hätten.

Liste der Pastoren

Pastoren der Pfarrgemeinde Rosenheim (Podstepnoje), die in Reingardt Gottesdienst hielten: Ludwig Helm (1767–85), Laurentius Ahlbaum (1786–88), Klaus Peter Lundberg (1788–92), Christian Friedrich Jäger (1792–1815), Franz Hölz (1816–20). Pastoren der Pfarrgemeinde Reingardt: Johann Hasthoffer (1821–26). Pastoren der Pfarrgemeinde Näb (Rjasanowka), die in Reingardt Gottesdienst hielten: David Flit(t)ner (1826–30). Pastoren der Pfarrgemeinde Reingardt: Johann Christian Lindbla(d)tt (1830–41), Ferdinand Magnus Masing (1842–51), Johannes Huppenbauer (1853–80), Karl Theodor Hölz (1883–96), Johannes Salomo Kufeld (1897–1908), Wilhelm Miller (1912–21).

Entwicklung der Einwohnerzahlen

1767 lebten in Reingardt 89 ausländische Kolonisten, 1773 waren es 100, 1788 - 116, 1798 - 162, 1816 - 291, 1834 - 578, 1850 - 641, 1859 – 828 und 1889 – 1.348 Personen. Im Jahr 1878 reisten 23 Bewohner der Kolonie nach Amerika aus. Nach den Daten der Volkszählung von 1897 hatte Reingardt 1.301 Einwohner, von denen 1.290 Deutsche waren. Im Jahr 1905 hatte das Dorf 2.038, im Jahr 1910 – 2.135 Einwohner. Nach den Daten der Allrussischen Volkszählung von 1920 lebten in Reingardt 1.437 Personen, bei denen es sich ausnahmslos um Deutsche handelte. 1921 gab es im Dorf 46 Geburten und 117 Sterbefälle. Nach den Daten des Gebietsamts für Statistik des Autonomen Gebiets der Wolgadeutschen lebten in Reinhardt nach Stand zum 1. Januar 1922 insgesamt 825 Personen. Nach den Daten der Allrussischen Volkszählung von 1926 lebten im Dorf 853 Personen (402 Männer und 451 Frauen), von denen 844 Deutsche waren (399 Männer und 445 Frauen). Es gab 178 Haushalte (davon 174 deutsche). 1931 lebten im Dorf 1.085 Personen, von denen 1.062 Deutsche waren.

Das Dorf heute

Heute Dorf Ossinowka, Rayon Engels, Gebiet Saratow. Das heutige Ossinowka hat etwa 1.200 Einwohner und ist nach der Fläche nur etwa halb so groß wie das vorrevolutionäre Reingardt. Die deutsche Bebauung ist nur zum Teil erhalten. An der Ortseinfahrt befindet sich der größtenteils aus in der Nachkriegszeit errichteten zweistöckigen Mehrfamilienhäusern bestehende neue Ortsteil von Ossinowka. Das frühere Erscheinungsbild des deutschen Dorfes wurde durch die in den letzten Jahrzehnten erfolgte Bautätigkeit deutlich verändert. Das alte Schulgebäude ist nicht erhalten. Die heutige Schule ist auf zwei Gebäude verteilt – einen im Jahr 1976 errichteten Bau für die Mittelstufe und ein im Jahr 1986 umgebautes Gebäude für die Grundschulklassen. Seit 1990 ist in der Schule ein Heimatkundemuseum untergebracht. Im Jahr 2010 hatte die Allgemeinbildende Mittelschule des Dorfes Ossinowka 154 Schüler und 14 Lehrer.

Im alten Ortsteil sind noch einige für die deutschen Kolonien typische hölzerne Wohnhäuser zu finden. Im Dorf ist nur ein Backsteinbau erhalten, der sich von den modernen Bauten durch das für die deutsche Baukunst charakteristische Ornament unter dem Dach unterscheidet. Der 1865 errichtete Holzbau der früheren Pfarrkirche wurde in der Nachkriegszeit abgebaut, um das Baumaterial zu nutzen. An den Standorten vieler deutscher Häuser, der früheren Kirche und anderer öffentlicher Gebäude sind heute Freiflächen. Der deutsche Friedhof ist nicht erhalten.

Literatur

Герман А.А., Иларионова Т.С., Плеве И.Р. История немцев России. Учебное пособие. – М., 2005; Гросс Э. Автономная Социалистическая Советская Республика немцев Поволжья. – Покровск, 1926; Дитц Я. История поволжских немцев-колонистов. – М., 1997; Князева Е.Е., Соловьева Ф. Лютеранские церкви и приходы ХVIII – ХХ вв. Исторический справочник. – СПб., 2001. – Часть I; Немецкие населенные пункты в Российской Империи: География и население. Справочник / Сост.: В.Ф. Дизендорф. – М., 2002; Плеве И.Р. Немецкие колонии на Волге во второй половине ХVIII века. – М., 1998; Einwanderung in das Wolgagebiet: 1764–1767 / Hrsg.: Alfred Eisfeld. Bearb.: Igor Pleve. Bd. 4. Kolonien Reinhardt – Warenburg. – Göttingen: Göttingenger Arbeitskreis, 2008; Terjochin S. Deutsche Architektur an der Wolga. – Berlin/Bonn, 1993; Deutsche Volkszeitung. – 30. November 1908. – №18.

Archive

Archive: ГАСО. Ф. 180. Оп. 1. Д. 249. Л. 29; Оп. 3. Д. 34; Ф. 637. Оп. 2. Д. 3039; ГИАНП. Ф. 248. Оп. 1. Д. 1–157; Ф. 849. Оп. 1. Д. 834. Л. 57–66; Ф. 1831. Оп. 1. Д. 299. Л. 62; Оп. 2. Д. 4.

Autoren: Lizenberger O.A.

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