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ROSENHEIM (Podstepnaja, Podstepnoje), heute Dorf Podstepnoje, Rayon Engels, Gebiet Saratow, ; deutsche Kolonie im linksufrigen Wolgagebiet

Rubrik: Geschichte und Geographie der Ansiedlung der Deutschen im Russischen Reich, in der UdSSR und GUS / Geschichte der Ansiedlung
Podstepnoje. Früheres Schulgebäude. Foto Je. Moschkow, 2010.
Podstepnoje. Frühere Kirche. Foto Je. Moschkow, 2010
Podstepnoje. Frühere Kirche. Foto Je. Moschkow, 2008
с. Розенгейм. Евангелическо-лютеранская церковь. Фото Ф. Фишера. 1927 г.

ROSENHEIM (Podstepnaja, Podstepnoje), heute Dorf Podstepnoje, Rayon Engels, Gebiet Saratow, im linksufrigen Wolgagebiet am Fluss Beresowka, 405 Werst von Samara, 35 Werst von Saratow, 185 Werst von der Bezirksstadt Kamyschin und fünf Werst von Zentrum des Amtsbezirks Krasny Jar gelegene deutsche Kolonie. Von 1871 bis Oktober 1918 gehörte das Dorf zum Amtsbezirk [Wolost] Krasny Jar (Bezirk [Ujesd] Nowousensk, Gouvernement Samara).

Nach der Gründung der Arbeitskommune der Wolgadeutschen war das Dorf Rosenheim bis 1941 Verwaltungszentrum des im Kanton Marxstadt gelegenen gleichnamigen Dorfsowjets, zu dem 1926 neben dem Dorf Rosenheim auch das Vorwerk Metschetka gehörte. In den Jahren 1922-27 gehörte das Dorf Rosenheim zum Kanton Krasny Jar (Republik der Wolgadeutschen). Im Zuge der Ende 1927 in der ASSR der Wolgadeutschen vollzogenen Gebiets- und Verwaltungsreform wurde der Kanton Krasny Jar durch die Beschlussfassung des Zentralexekutivkomitees der RSFSR „Über Änderungen der administrativen Aufteilung der ASSR der Wolgadeutschen und die Wiedereinführung der vor 1914 bestehenden Ortsnamen in den deutschen Siedlungen“ aufgelöst und das Dorf Podstepnoje (Rosenheim) an den Kanton Marxstadt angeschlossen. 1935 wurde der Kanton Krasny Jar wiedererrichtet.

Die deutsche Kolonie Rosenheim wurde am 27. Juli 1765 als Kronkolonie gegründet. Der deutsche Name der Kolonie geht wörtlich auf die beiden Wortteile „Rose“ und „Heim“ zurück und sollte wohl ein Gefühl von Heimeligkeit vermitteln. Der zweite offizielle russische Name „Podstepnoje“ wurde der Kolonie aufgrund des die Benennung der Kolonien regelnden Erlasses vom 26. Februar 1768 verliehen. Er dürfte durch die die Siedlung umgebende Steppenlandschaft inspiriert sein, auch wenn ein solcher Name auch für jede andere im linksufrigen Wolgagebiet gelegene Ortschaft passend gewesen wäre. 1915 wurde Rosenheim im Zuge der im Land entfesselten antideutschen Propagandakampagne in Podstepnoje umbenannt. Nach der Gründung der Arbeitskommune der Wolgadeutschen erhielt die Siedlung 1918 ihren deutschen Namen zurück.

Die Gründer von Rosenheim waren 65 aus Schwaben, Sachsen, Brandenburg, Württemberg und anderen deutschen Ländern sowie aus Polen und Schweden stammende Familien, bei denen es sich nahezu durchgängig um Lutheraner handelte. Lediglich der aus Wien stammende Witwer Josef Bauer war Katholik und der aus Mecklenburg stammende Gottlieb Treu Jude, wobei Letzterer mit einer Lutheranerin verheiratet war. Erster Vorsteher der Kolonie war Friedrich Sidikum, ein 34-jähriger Gerber.

Unter den ersten 74 Kolonisten waren elf Zunfthandwerker (unter dieser Bezeichnung wurden bei der Zusammenstellung der Listen der ersten Siedler die Angehörigen nicht landwirtschaftlicher Berufe geführt), jeweils zwei Müller, Weber, Gerber und Schneider sowie ein Schmied, ein Zinngießer, ein Tischler, ein Ziegler, ein Kaufmann, ein Bäcker und einige Vertreter eher seltener Berufe wie z.B. Seiler oder Nagelmacher. Die ersten Übersiedler waren mehrheitlich Ackerbauern und entsprachen somit hinsichtlich ihrer in der der alten Heimat ausgeübten Beschäftigung in vollem Maße dem Hauptziel der Anwerbung der Kolonisten, die in den Grenzregionen Russlands gelegenen Steppengebiete landwirtschaftlich zu erschließen.

In den linksufrigen deutschen Wolgakolonien herrschte ein extremer Mangel an Land- und Waldflächen. So kamen auf eine Familie gerade einmal 2-5 Desjatinen forstwirtschaftlich nutzbare Waldfläche. Bei jedem Neubau eines Hauses waren die Kolonisten verpflichtet, für den Holzschlag eine Genehmigung des Fürsorgekontors einzuholen. Da die auf Staatskosten in den Kolonien gebauten Häuser schon recht bald nach ihrer Errichtung renovierungsbedürftig waren, prüfte das Fürsorgekontor im Jahr 1804 einen Antrag der in Podstepnoje ansässigen Kolonisten, „an der Grenze der Kolonie Stariza“ das für die Reparatur der Häuser benötigte Holz schlagen zu dürfen. Nach den Daten der Revision von 1834 waren den Kolonisten Landstücke in der Größe von 15 Desjatinen pro Kopf zugeteilt. Nach den Daten der im Jahr 1857 durchgeführten 10. Revision besaßen die zu diesem Zeitpunkt in der Kolonie ansässigen insgesamt 749 männlichen Kolonisten Landstücke in der Größe von etwa 5,5 Desjatinen pro Kopf.

Die in Rosenheim ansässigen Kolonisten waren größtenteils im Ackerbau und in der Mehlproduktion tätig. 1859 gab es in der Kolonie eine Dampf- und acht Windmühlen, von denen die größte den Brüdern Arnold gehörte. Neben Roggen, Hafer, Gerste, Kartoffeln und Tabak bauten die Kolonisten vor allem Weizen an, wobei sie sich auf den Anbau der zu jener als besonders fortschrittlich geltenden Weizensorte „Beloturka“ spezialisierten. In weit geringerem Umfang als in der Landwirtschaft waren die Kolonisten in Handwerk und Gewerbe tätig.

In den Jahren 1920–23 wurden die Wolgakolonien von einer Hungersnot historisch beispiellosen Ausmaßes heimgesucht. In der Zeit zwischen dem Ausbruch der Hungersnot und dem 1. Januar 1922 wurden in Rosenheim 4,2-mal mehr Sterbefälle als Geburten registriert. In den Jahren der Sowjetmacht gab es im Dorf einen Genossenschaftsladen, eine landwirtschaftliche Kreditgenossenschaft, eine mobile Bibliothek, einen Punkt zur Bekämpfung des Analphabetentums und ein Kinderheim. Es wurden die Kolchosen „Neues Leben“ und „K.E. Woroschilow“ eingerichtet. Im September 1941 wurden die Deutschen aus dem Dorf deportiert, das seit 1942 den Namen Podstepnoje trägt.

Schule und Erziehungswesen

Wie auch in allen anderen lutherischen Kolonien gab es in Rosenheim schon seit der Gründung der Kolonie selbst eine kirchliche Gemeindeschule, in der Kinder im Alter von 7-15 Jahren lernen. Das Schuljahr begann am 20. August und endete am 20. Juni. Der Unterricht fand morgens von 8.00-11.00 Uhr sowie nachmittags von 14.00-16.00 Uhr statt. Das Schulgebäude war ein in unmittelbarer Nähe der Kirche gelegener Holzbau, in dem große runde Öfen aufgestellt waren, die mit Holz beheizt wurden.

Ende des 19. Jahrhunderts wurde in der Kolonie eine Semstwo-Schule gegründet, in der die Kinder in zwei Klassenzügen drei Jahre lernten. Das von der Semstwo-Schule genutzte Schulgebäude musste die Gemeinschaft der Kolonie zur Verfügung stellen. Wie in der Kirchenschule wurden auch in der Semstwo-Schule mehrere Jahrgänge in einer Klasse zusammengefasst und im gleichen Klassenraum von einem einzigen Lehrer unterrichtet, so dass das Lehrmaterial nicht eindeutig auf einzelne Jahrgänge verteilt war. Pflichtfächer waren Religionsunterricht, Lesen, Schreiben, Rechnen und Gesang. Die Lehrer stellten die Lehrpläne selbständig zusammen, wählten selbst zusätzliche Fächer aus und durften das Lehrmaterial eigenständig auf einzelne Jahrgänge verteilen.

Nach den von Pastor J. Erbes, dem Probst des linksufrigen Wolgagebiets, zum Stand des deutschen Schulwesen zusammengetragenen Daten waren im Jahr 1906 569 der fast 3.721 Einwohner Kinder im Alter von 7-15 Jahren, die zum Besuch einer Elementarschule verpflichtet waren. Allerdings besuchten in Podstepnoje nicht alle Kinder im entsprechenden Alter auch wirklich eine Schule. 224 Kinder blieben dem Unterricht fern, da ihre Eltern arm und auf die tägliche Mithilfe ihrer Kinder in Handwerk oder Gewerbe angewiesen waren. Im Jahr 1906 besuchten 120 Jungen und 40 Mädchen die Semstwo-Schule, an der zwei Lehrer tätig waren. In der Kirchenschule lernten 60 Jungen und 115 Mädchen bei ebenfalls zwei Lehrern. Beide Schulen wurden aus Mitteln der Kirchengemeinde unterhalten. In den 1920er Jahren wurden sowohl die Kirchen- als auch die Semstwo-Schule geschlossen und durch eine Grundschule ersetzt.

Nach der Deportation der Deutschen kamen im Jahr 1942 viele aus Leningrad evakuierte Kinder ins Dorf, für die das Gebäude der Kirchenschule zu einem Kinderheim umgebaut wurde. Die Mittelschule wurde in ein anderes am Dorfrand gelegenes Backsteingebäude verlegt. Das Kinderheim blieb bis 1952 im Gebäude der deutschen Schule, in dem später erneut eine Schule eingerichtet wurde.

Religionszugehörigkeit der Bevölkerung und Kirche

Die Kolonisten waren evangelisch-lutherischer Konfession. Die Gemeinde Rosenheim war Zentrum des 1767 gegründeten, aus den Gemeinden Schwed (Swonarjowka), Stahl (Swonarjow Kut) und Enders (Ust-Karaman) bestehenden Pfarrsprengels Rosenheim (Podstepnoje), zu dem ursprünglich auch die lutherischen Gemeinden Krasny Jar, Fischer (Teljausa), Schulz (Lugowaja Grjasnucha) und Reinwald (Starizkoje) gehörten. Die Pastoren mussten darüber hinaus auch die in den von Rosenheim weit entfernten Gemeinden Schäfer (Lipowka), Reingardt (Ossinowka) und Urbach (Lipow Kut) lebenden Lutheraner betreuen, bis diese im Jahr 1820 zum selbständigen Pfarrsprengel Reingardt (Ossinowka) zusammengelegt bzw. im Fall der Gemeinde Fischer an den Pfarrsprengel Süd-Katharinenstadt angeschlossen wurden. Die Kolonie Krasny Jar bildete von 1880 an einen eigenen Pfarrsprengel. Aber selbst nach der Abtrennung der genannten deutschen Dörfer lebten im Pfarrsprengel immer noch sehr viele Gemeindemitglieder (nach Stand zum Jahr 1904 12.500). Allein im Jahr 1906 gab es im Pfarrsprengel 174 Konfirmationen.

Wann genau in der Kolonie das erste Gotteshaus gebaut wurde, ist nicht überliefert. Bekannt ist lediglich, dass in Rosenheim wie in allen der ursprünglich 24 im Wolgagebiet gelegenen deutschen Pfarrgemeinden schon bald nach der Ansiedlung auf Staatskosten eine Holzkirche errichtet wurde, deren Bau spätestens 1770 abgeschlossen war. Dabei handelte es sich um einen provisorischen, in architektonischer Hinsicht anspruchslosen Bau ohne Schmuckelemente, der in aller Eile von örtlichen Handwerkern errichtet worden war und eher an ein geräumiges Wohnhaus als an eine Kirche erinnerte. In den ersten Jahren nach der Gründung der Kolonie ging es den Kolonisten ausschließlich darum, mitten in der russischen Steppe überhaupt ein protestantisches Gotteshaus errichten zu können, das nicht nur zur Feier der Gottesdienste genutzt wurde, sondern auch Zentrum des Gemeindelebens war.

Die erste von den Kolonisten auf eigene Kosten errichtete Kirche entstand in Podstepnoje (Rosenheim) im Jahr 1821. Dabei handelte es sich um einen immer noch eher schlichten Holzbau, der von örtlichen Handwerkern ohne offiziell eingereichten Bauplan und Kostenvoranschlag errichtet wurde. 1859 wurden in dieser Kirche umfassende Reparaturarbeiten durchgeführt. Nachdem diese Holzkirche 1876 bei einem Brand zerstört worden war, wurden in Rosenheim und den Nachbargemeinden Spenden für den Bau einer neuen Kirche gesammelt, während die Gottesdienste vorübergehend im Gebäude der Kirchenschule stattfanden.

In den Jahren 1884–86 wurde im Dorf eine neue Steinkirche gebaut, die wie die meisten zu jener Zeit errichteten Kirchen in einem am Klassizismus orientierten Stil erbaut wurde. Dem Haupteingang war ein von einem Dreiecksgiebel gekrönter imposanter Säulenvorbau vorgelagert, dessen symmetrisch angeordnete vier Säulen von vergleichsweise schlichten dorischen Kapitellen abgeschlossen wurden. Auch an den Seitenfassaden waren den Eingängen entsprechende Säulenvorbaue vorgelagert. Der dreistufige, sich nach oben verengende Turm hatte drei abgerundete und ein rundes Fenster und eine von einem Kreuz gekrönte Kuppel. Am 2. Juni 1885 wurde ein schmiedeeisernes Kreuz auf den Turm gesetzt. Geräumige Balkone und Kirchengestühl boten 1.200 Gläubigen Platz, der Innenraum war üppig ausgestattet. In der Kirche gab es eine Orgel der bekannten deutschen Firma „Walker“ aus Ludwigsburg, die 1886 gebaut und nach Russland gebracht worden war.

Erster Pastor der Pfarrgemeinde Rosenheim war der aus Mecklenburg stammende Ludwig Helm, der in Rostock Theologie studiert hatte und 1736 ordiniert worden war. Nachdem er sich 1766 in Lübeck den ersten Kolonisten angeschlossen hatte, diente er der Gemeinde von 1767–85. Gelegentlich kam es zu Konflikten zwischen Gemeindemitgliedern und Geistlichen. So wandte sich Pastor Helm z.B. im Jahr 1776 mit einer gegen die Dorfbewohner gerichteten Beschwerde an das Fürsorgekontor, die nach seinen Worten die „geistlichen Einrichtungen geringschätzten“, sich nicht um die Instandhaltung der Kirchenbauten kümmerten und keine Reparaturarbeiten vornahmen. Das Kontor ordnete an, die Kolonisten zum Besuch der Gottesdienste zu „zwingen“.

Für die im Pfarrsprengel Rosenheim lebenden Reformierten war von 1777 an der aus Basel stammende Schweizer Missionar Daniel Willi zuständig, der allerdings nur gelegentlich (vor allem in den Sommermonaten) in den Gemeinden predigte, da er seinen Wohnsitz außerhalb der zum Pfarrsprengel gehörenden Kolonien in der rechtsufrigen Kolonie Anton hatte (Sewastjanowka, heute Sadowoje, Rayon Krasnoarmejsk, Gebiet Saratow). Der umtriebige Missionar und Prediger hatte maßgeblichen Anteil daran, dass sich die Gemeinde Anton von der Pfarrgemeinde Messer (Ust-Solicha) löste und Zentrum eines eigenen Pfarrsprengels wurde. Neben seiner Predigertätigkeit in den Gemeinden des Wolgagebiets war Willi bis 1786 zudem als Handelsvertreter der Sareptaer Fabriken tätig. 1786 ging er nach Sarepta, wo er 1788 verstarb.

Angesichts ihres Einflusses nicht nur auf die geistliche Entwicklung, sondern auch auf die gesamte innere Organisation der Kolonie prägte die lutherische Kirche praktisch alle Lebensbereiche der Gemeinde. Gemäß der in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bestätigten „Instruktion der kolonistischen Geistlichkeit“, mit deren Inhalt sich alle Geistlichen bei Dienstantritt bekannt machen mussten, waren diese nicht nur dazu verpflichtet, z.B. die Kirchenbücher zu führen, sondern mussten auch in der Landwirtschaft tätig sein und Seidenraupenzucht betreiben.

Alles andere als leicht erging es den letzten Pastoren der Gemeinde. Alexander Rothermel (1880–1963) musste untertauchen und emigrierte 1922 nach Deutschland. Später schloss sich die verwaiste Gemeinde Rosenheim wie auch 14 weitere lutherische Gemeinden des Wolgagebiets der von der offiziellen Kirche abgespaltenen Freien Evangelisch-lutherischen Kongegrationskirche an, die mit der Sowjetmacht kollaborierte und in den Jahren 1927–35 bestand (eine vergleichbare Erneuerungsbewegung gab es auch in der Russisch-Orthodoxen Kirche). Die Gründung der Freien Kirche wurde auf der von dem früheren Küster Jakob Fritzler am 19.-21. Juli 1927 im Dorf Fischer (heute Krasnaja Poljana, damals Kanton Marxstadt, ASSR der Wolgadeutschen) einberufenen 1. Generalsynode der „Lebendigen Kirche“ verkündet.

Im April 1925 entsandte das Gebietsparteikomitee der RKP(b) seinen Verantwortlichen Mitarbeiter Bellendir nach Rosenheim, der seine Gespräche mit den Gläubigen in einem Geheimbericht zusammenfasste, in dem er unter anderem mitteilte, dass die religiöse Gemeinde des Dorfes in der Frage gespalten sei, ob man einen Prediger und Schulmeister mit den Rechten eines Pastors oder einen eigenen Pastor wolle, wobei die Vertreter der zweiten Gruppe größeren Einfluss auf das Dorf ausüben würden. Der Kirchenstreit spiegele sich auch in rein ökonomischen Fragen, da sich die Bevölkerung bei allen Abstimmungen an den Anführern der beiden Gruppen orientiere, was wiederum die Arbeit des in der betreffenden Frage neutralen Dorfsowjets erschwere.

Beide im Dorf bestehenden Gruppen der Gläubigen erhoben Anspruch auf die Nutzung des Kirchengebäudes. Am 18. November 1926 beschloss das Präsidium des Zentralexekutivkomitees der ASSR der Wolgadeutschen, eine gegen seinen Beschluss vom 2. April 1925 gerichtete Beschwerde des Obersten Kirchenrats der Evangelisch-lutherischen Gemeinden in der Sowjetunion zurückzuweisen, dem zufolge beide Gruppen der Gläubigen das Recht auf Nutzung des Kirchengebäudes haben sollten. Damit war der Konflikt zwischen den zwei innerhalb der Kirche bestehenden Gruppen allerdings nicht beigelegt, was in letzter Konsequenz dazu führte, dass das Präsidium des Zentralexekutivkomitees am 6. Juni 1929 unter Verweis auf eine fehlende Einigung zwischen Lutheranern und Anhängern der Neuen Kirche anordnete, beiden Gruppen der Gläubigen das Recht auf die Nutzung der Rosenheimer Kirche zu entziehen und das Gebäude für kulturelle Zwecke zu nutzen, da jegliche Bevorzugung der einen oder anderen religiösen Strömung verboten sei.

Mit dem Ziel, die Spaltung zu überwinden und die Anhänger der Neuen Kirche in den Schoß der offiziellen Kirche zurückzuführen, fasste die Führung der Evangelisch-lutherischen Kirche der UdSSR 1929 den Beschluss, Pastor Jakob Scharf nach Rosenheim zu entsenden, der 1928 das Predigerseminar in Leningrad abgeschlossen hatte. Aber die Machtorgane waren bereits entschlossen, jegliches religiöses Leben im Dorf zu unterbinden. Als die Gläubigen 1930 ein Gesuch auf Rückgabe der Kirche einreichten, blieb ihre Initiative ohne Erfolg. 1931 informierte die regionale Kommission für die Prüfung religiöser Angelegenheiten das Präsidium des Zentralexekutivkomitees der ASSR der Wolgadeutschen in einem geheimen Bericht, dass es in Schwed noch 1.373 Gläubige gebe, von denen 122 den Status von „Lischenzy“ hätten, ihnen also das Wahlrecht und andere bürgerliche Rechte aberkannt waren.

Angesichts des ständigen Verfolgungsdrucks und drohender Verhaftung sah sich Pastor Jakob Scharf 1933 gezwungen, sein geistliches Amt aufzugeben, so dass die unter strenger Kontrolle von Seiten der Sowjetorgane stehende Gemeinde erneut ohne Pastor blieb. Im Juni 1934 informierte die Kommission für Kultfragen beim Zentralexekutivkomitee der ASSR der Wolgadeutschen das Präsidium der ASSR, dass die Gläubigen immer noch selbständig Gottesdienste im Bethaus feiern würden. Das Präsidium schlug eine Beschlagnahmung des Bethauses vor. Am 4. April 1935 beschloss die Kommission für Kultfragen beim Zentralexekutivkomitee der ASSR der Wolgadeutschen, das Bethaus in Rosenheim mit der Begründung zu schließen, dass sich 504 der insgesamt 666 Gemeindemitglieder für eine Schließung der Kirche ausgesprochen hätten.

Liste der Pastoren

der Pfarrgemeinde Rosenheim: Ludwig Helm (1767–85), Daniel Willi (1777–86), Laurentius Ahlbaum (1786–88), Klaus Peter Lundberg (1788–92), Christian Friedrich Jäger (1792–1815), Franz Hölz (1816–20), Johann Heinrich Buck (1820–31), Alexander Karl August Allendorf (1831–66), Friedrich Wilhelm Meyer (1867–79), Karl Julius Hölz (1881–94 ), Karl Emil Theodor David (1894–1901), Johann Georg Rieger (?), Emil Friedrich Busch (1901–11), Alexander Rothermel (1912–22), Jakob Scharf (1929–33).

Entwicklung der Einwohnerzahlen. 1767 lebten in Rosenheim 251 ausländische Kolonisten, 1773 waren es 274, 1788 - 254, 1798 - 329, 1816 - 488, 1834 - 870, 1850 – 1.263, 1859 – 1.540, 1883 – 2.219 und 1889 – 2.474 Personen. In den Jahren 1877/78 reisten 304 Bewohner Rosenheims nach Amerika aus. Nach den Daten der Volkszählung von 1897 hatte Rosenheim 2.737 Einwohner, von denen 2.736 Deutsche waren. Im Jahr 1904 hatte das Dorf 3.579, im Jahr 1910 4.679 Einwohner, von denen 4.660 Deutsche waren. Nach den Daten der Allrussischen Volkszählung von 1920 lebten in Rosenheim 3.584 Personen, bei denen es sich bei ausnahmslos allen um Deutsche handelte. 1921 gab es im Dorf 160 Geburten und 513 Sterbefälle. Nach den Daten des Gebietsamts für Statistik des Autonomen Gebiets der Wolgadeutschen lebten nach Stand zum 1. Januar 1922 in Rosenheim 2.636 Personen. 1923 stieg die Einwohnerzahl auf 2.746 Personen. Nach den Daten der Volkszählung von 1926 gab es im Dorf 513 Haushalte (davon 509 deutsche) mit einer Gesamteinwohnerzahl von 2.937 Personen (1.404 Männer und 1.533 Frauen), von denen 2.881 Deutsche waren (1.367 Männer und 1.514 Frauen). Im Jahr 1931 lebten im Dorf 3.146 Personen, von denen 3.129 Deutsche waren.

Das Dorf heute

Heute Dorf Podstepnoje, Rayon Engels, Gebiet Saratow. Sowohl der alte Grundriss der Kolonie als auch einzelne Bauten sind im Vergleich zu anderen früheren deutschen Siedlungen gut erhalten. Zahlreiche aus dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert stammende deutsche Holzbauten weisen einen recht guten Erhaltungszustand auf und werden immer noch als Wohnhäuser genutzt. Am Beispiel Podstepnojes lassen auch heute noch für die deutsche Kolonistenarchitektur charakteristische Merkmale, Bautechniken und Schmuckelemente nachverfolgen.

Einen guten Erhaltungszustand weist das Backsteingebäude der früheren Schule auf, das heute nicht mehr seiner Bestimmung entsprechend genutzt wird, da es im Dorf ein 1979 errichtetes zweistöckiges Schulgebäude gibt, in dem etwa 100 aus den Dörfern Podstepnoje und Ust-Karaman kommende Schüler lernen.

Infolge willkürlicher Umbau- und Renovierungsarbeiten ist das deutsche architektonische Erbe allerdings zunehmend bedroht. So ließ sich noch vor wenigen Jahren in einem der Gebäude des Dorfes unschwer das frühere Pfarrhaus erkennen, dessen charakteristische Backsteinarchitektur das Haus eindeutig als deutsches Erbe auswies. Mittlerweile wurde das Haus ohne jede Rücksicht auf seine Vergangenheit umgebaut und bei dem 2008/09 erfolgten Umbau vollständig verklinkert. Der früher von seitlichen Blendsäulen und dekorativem Mauerwerk unter dem Dach geschmückte originelle rote Backsteinbau hat heute jeglichen deutschen Charakter eingebüßt. An seiner Stelle steht faktisch ein Neubau, dessen architektonisches Erscheinungsbild durch einen auf die Fassade gesetzten halbrunden Aufsatz geprägt wird.

Dem früheren Pfarrhaus gegenüber befindet sich das Gebäude der früheren Kirche, die heute zu den am besten erhaltenen früheren lutherischen oder katholischen Kirchenbauten des Wolgagebiets gehört. Der vergleichsweise gute Erhaltungszustand des Gebäudes ist durch den Umstand bedingt, dass das einstige Gotteshaus lange Zeit für kulturelle Zwecke genutzt wurde und in sowjetischer Zeit den Dorfklub beherbergte. Auch heute fallen im Kircheninneren sofort die Reste des roten Samtes auf, mit dem die Kirche nach ihrer Umwandlung in ein Freizeithaus ausgeschmückt war. Nach Aussagen der Leute vor Ort brauchte das Dorf irgendwann keinen Klub mehr, weil die Bevölkerungszahlen kontinuierlich zurückgingen und die Jugend in die Städte abwanderte.

Heute schmücken noch immer jeweils vier massive Säulen die Längsseiten der Kirche. Erhalten sind auch die Eichentüren und Fensterrahmen sowie weite Teile des Daches, das lediglich an einige Stellen mit Blech geflickt ist. Im Kircheninneren kann man noch immer über eine Treppe, deren Geländer freilich zerstört ist, in den zweiten Stock gelangen. Früher saßen dort unter dem halbrunden Holzgewölbe auf geschnitzten Balkonen im Gottesdienst die unverheirateten jungen Frauen und Männer.

Im Sommer 2002 wurde in dieser Kirche eine Messe gefeiert, bei der die katholischen Organisatoren dieser in dem früheren lutherischen Gotteshaus begangenen Veranstaltung in ihren Gebeten die Vorfahren für die Schändung und Zerstörung dieser und Tausender anderer Kirchen aller Konfessionen um Vergebung baten. Über hundert junge Christen aus ganz Russland waren unter Leitung des römisch-katholischen Bischofs des Bistums St. Clemens (Saratow) zu dieser deutschen Kirche gepilgert, um deren Architekten, den an ihrem Bau beteiligten Arbeitern und den Gemeindemitgliedern Ehre zu erweisen.

Literatur

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Archive

Archive: ГАСО. Ф. 180. Оп. 1. Д. 3965; Ф. 637. Оп. 2. Д. 431, 677, 3039; ГИАНП. Ф. 849. Оп. 1. Д. 740. Л. 50–52; Д. 834. Л. 81; Д. 890. Л. 20, 36, 77; Д. 1138. Л. 138; Ф. 1831. Оп. 1. Д. 94. Л. 212–213; Д. 299. Л. 12; Оп. 2. Д. 4; ЦДНИСО. Ф. 1. Оп. 1. Д. 1087. Л. 109.

Autoren: Lizenberger O.A.

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