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WALTER (Gretschinaja Luka, Gretschischnaja Luka, Gretschnewaja Luka, Gretschichino)

Rubrik: Geschichte und Geographie der Ansiedlung der Deutschen im Russischen Reich, in der UdSSR und GUS / Geschichte der Ansiedlung
Frühere lutherische Kirche. 1997. Foto A. German
Kirche. 2012. Foto Je. Moschkow.
Innenansicht der Kirche. 2012. Foto Je. Moschkow.
Früherer Getreidespeicher. 2012. Foto Je. Moschkow.
Gretschichino. Altes Haus. 1997. Foto A. German.
Kellereingang. 1997. Foto A. German.
Gretschichino heute. 1997. Foto A. German.

WALTER (Gretschinaja Luka, Gretschischnaja Luka, Gretschnewaja Luka, Gretschichino), heute Dorf Gretschichino (Rayon Schirnowsk, Gebiet Wolgagrad); im rechtsufrigen Wolgagebiet am linken Ufer des Flusses Medwediza (linker Zufluss des Don), 100 Werst südwestlich von Saratow und 90 Werst südlich der Bezirksstadt Atkarsk gelegene deutsche Kolonie. Bis Oktober 1918 gehörte das Dorf zu dem 1871 auf dem Gebiet des früheren Kolonistenbezirks Norka gegründeten Amtsbezirk Medwedizki Krestowy Bujerak (Bezirk Atkarsk, Gouvernement Saratow), zu dem neben Walter auch die Dörfer Frank (Medwedizki Krestowy Bujerak) und Kolb (Peskowatka) gehörten.

Nach der Gründung der Arbeitskommune der Wolgadeutschen gehörte Walter zunächst zum Rayon Medwedizki (Bezirk Goly Karamysch) und nach 1922 zum Kanton Medwedizki Krestowy Bujerak (ASSR der Wolgadeutschen), der 1927 in Kanton Frank umbenannt wurde. Walter war Verwaltungszentrum des gleichnamigen Dorfsowjets, zu dem im Jahr 1926 nur das Dorf selbst gehörte.

Die deutsche Kolonie Walter wurde am 25. August 1767 als Kronkolonie gegründet. Die Gründer waren 99 größtenteils aus Hessen-Darmstadt und Hanau stammende Familien (376 Kolonisten). Ursprünglich hatten die Kolonien keine eigenen Namen und waren lediglich mit einer Ordnungsnummer versehen. Später waren zur Benennung der Siedlungen oft gleich zwei oder drei Namen gebräuchlich, die wahlweise von den Kolonisten selbst gewählt wurden, sich auf den Namen des ersten Vorstehers bezogen oder russische Flussnamen und charakteristische Landschaftsmerkmale aufgriffen. Auf eben diese Weise erhielt auch Walter seine Namen. Der deutsche Name der Kolonie geht auf den ersten Vorsteher Peter Walter zurück, einen aus der Grafschaft Erbach (Kirchberfurt) stammenden 45-jährigen Ackerbauern, der zusammen mit seiner Frau Anna-Elisabeth und sieben Kindern in die Kolonie gekommen war. Seinen offiziellen russischen Namen Gretschischnaja Luka (der sich von den russischen Wörtern für „Buchweizen“ und „Flussbiegung“ ableitet) erhielt das Dorf aufgrund des die Benennung der Kolonien regelnden Erlasses vom 26. Februar 1768.

Unter den ersten 107 Kolonisten waren 42 Zunfthandwerker (unter dieser Bezeichnung wurden bei der Zusammenstellung der Listen der ersten Übersiedler die Angehörigen nicht landwirtschaftlicher Berufe zusammengefasst), ein Bäcker, ein Lehrer und sogar ein Kunstmaler. Alle anderen ersten Übersiedler waren Ackerbauern. Von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen (Johann Philipp Roth samt Ehefrau und der Junggeselle Peter Lopes), die dem reformierten Zweig des Protestantismus angehörten, waren alle ersten Kolonisten Lutheraner. Eine solch homogene konfessionelle Zusammensetzung war in den evangelischen Wolgakolonien eher selten, da es bei der Verteilung der Kolonisten auf die einzelnen Kolonien immer wieder vorkam, dass auch einige wenige Katholiken mit den Protestanten zusammen angesiedelt wurden.

In den ersten Jahren nach ihrer Ansiedlung sahen sich die Kolonisten mit zahlreichen Schwierigkeiten konfrontiert. Im Jahr 1774 wurde die Kolonie von den aufständischen Truppen Jemeljan Pugatschows überfallen, die auf dem Weg von Saratow nach Kamyschin auch durch Walter zogen, wo sie das Dorf nicht nur (wie viele andere deutsche Kolonien) plünderten, sondern auch auch vier Häuser niederbrannten.

Für die Organisation der inneren Angelegenheiten der Kolonien waren von den Kolonisten gewählte Vorsteher zuständig, die der Vollversammlung der Kolonie gegenüber rechenschaftspflichtig waren und diese gegenüber den übergeordneten Instanzen vertraten. Die Namen der Vorsteher sind größtenteils nicht überliefert. Bekannt ist lediglich, dass 1798 ein gewisser Peter Maar Vorsteher wurde. Nicht immer herrschte zwischen den in Walter ansässigen Kolonisten und ihren Vorstehern Eintracht. So sah sich das Fürsorgekontor im Jahr 1800 gezwungen, den Fall des Kolonisten Alind zu prüfen, der vom Vorsteher der Kolonie geprügelt worden war. In einem anderen Fall leitete das Kontor strenge Strafmaßnahmen gegen den Vorsteher selbst ein, der flüchtige Bauern versteckt hatte und dafür zusammen mit fünf weiteren in Walter ansässige Kolonisten öffentlich ausgepeitscht (40 Peitschenhiebe) und abgesetzt wurde.

Nicht nur das Verstecken flüchtiger Bauern und deren Einsatz als billige Arbeitskräfte wurde von den Behörden streng bestraft, sondern auch Verstöße gegen das staatliche Branntweinmonopol. So hieß es in Artikel 34 der am 16. September 1800 vom Zaren bestätigten „Instruktion über die innere Ordnung und Verwaltung der Wolgakolonien“: „Aus den im Kontor eingehenden Gesuchen und Beschwerden der Kolonisten ist bekannt, dass einige [...] Kolonisten in ihren Häusern alkoholische Getränke verkaufen [...] Die Führer [...] müssen streng darauf achten, dass die Kolonisten in ihren Häusern fortan keinen Alkohol verkaufen […] denn der Verkauf von Spirituosen muss in den Kolonien unter Kontrolle […] erfolgen“. Allerdings stieß der gegen das eigenmächtige Brennen von Spirituosen gerichtete Kampf des Kontors bei den Kolonisten auf offenen Widerstand. So machten die Siedler, als Vertreter des Kontors im Jahr 1777 ins Dorf kamen, um den entsprechenden Erlass zu verlesen, ohne auch nur zu Ende zu hören, „ein großes, zum Aufruhr bereites Geschrei und erklärten die Erlasse für gefälscht“. Einige riefen sogar dazu auf, den Kommissar zu verprügeln. Auf Weisung des Kontors mussten die Kolonisten einen neuen Vorsteher wählen und schriftlich versichern, den Anweisungen der Behörden Folge zu leisten. Das Branntweinmonopol konnte an Privatpersonen vergeben werden, denen die Zahlung einer entsprechenden Branntweinsteuer auferlegt wurde. 1784 eröffnete das Schatzamt in Norka ein Schankhaus mit „Vorhalle und Eiskeller“. In den 1820er Jahren war der Kolonist Iwan Fonbruk „ehrlicher Branntweinverkäufer“.

Das den Kolonisten zugeteilte Land wurde ursprünglich nach dem Hofprinzip bestellt. Nach den Daten der Revision von 1834 waren den Kolonisten Landstücke in der Größe von 15 Desjatinen pro Kopf zugeteilt. Allerdings wurden die den Siedlern zugewiesenen Ländereien zum Gegenstand eines Streits mit den in der benachbarten russischen Siedlung Schmakowaja Balka ansässigen Bauern. Im Jahr 1840 erhielten die Kolonisten am Fluss Schtschelkan (Bezirk Atkarsk) gelegene zusätzliche Landstücke, die zum Teil eine ganze Tagesreise von Walter entfernt lagen, was wiederum zur Gründung der Gehöftsiedlung Neu-Walter (Gretschnewaja Luka, Walter, Gehöft Gretschinnaja Luka, Gretschinski) führte, die zwölf Meilen von der Kolonie entfernt am linken Ufer des Flusses Schtschelkan lag und in den Jahren 1885 und 1926 828 bzw. 1.516 Einwohner hatte. Ende des 19. Jahrhunderts wurde zudem die Gehöftsiedlung Klein-Walter gegründet. Angesichts des Landmangels wurden zahlreiche in anderen Regionen gelegene Tochterkolonien gegründet. So gründeten aus Walter stammende Kolonisten z.B. die Tochterkolonie Hoffental. In den Jahren 1890-1916 gingen 45 Personen aus Walter nach Amerika. Zur Zeit der Stolypinschen Agrarreform wurden 15 Familien (128 Personen) aus Walter in das Dorf Samarskoje (Bezirk Smeinogorsk, Gouvernement Tomsk) umgesiedelt.

Die Kolonisten bauten Weizen, Roggen, Hafer, Hirse und Gerste sowie Kartoffeln und Kohl für den Eigenbedarf an. Eine wichtige Einnahmequelle stellte zudem der von der Fürsorgekanzlei umfassend geförderte Anbau von Tabak dar, da die Kolonisten die Tabakblätter angesichts der in Russland nur schwach entwickelten Tabakproduktion über Zwischenhändler erfolgreich in Moskau, Petersburg, Astrachan und in der Ukraine verkaufen konnten. Angesichts zunehmender Absatzschwierigkeiten und eines durch die Monopolstellung der Kaufleute bedingten Preisverfalls gaben allerdings viele zuvor in diesem Bereich tätige Kolonisten den kommerziellen Tabakanbau unter Verweis auf die niedrigen Verkaufspreise auf und produzierten allenfalls noch für den Eigenbedarf.

So betrieben die Wolgadeutschen den Tabakanbau in vergleichsweise kleinem Umfang. Mit Beginn des Frühjahrs züchteten die Kolonisten die Tabaksetzlinge, die anschließend auf den Feldern ausgepflanzt wurden. Dafür musste der Boden zuvor sorgfältig bearbeitet und bereits im Herbst zwei- oder dreimal umgepflügt werden. Der Tabak wurde sowohl auf eigens dazu bestimmten Feldern, als auch im Wechsel mit anderen Kulturen angepflanzt, um den Boden durch die großen Tabakblätter zu beschatten. Auch in den Sommermonaten bedurften die Tabakpflanzen ständiger Pflege: Begießung, mehrfache Auflockerung des Bodens, Schädlingsbekämpfung und Unkrautvernichtung. Eine Besonderheit des Tabakanbaus bestand unter den Wolgadeutschen zudem darin, dass bei dieser Arbeit sehr viele Frauen (bis zu 50%) und Kinder (bis zu 10%) eingesetzt wurden.

Im Unterschied zu anderen deutschen Kolonien verfügte Walter über recht große Waldflächen, aus denen sich auch taugliches Bauholz schlagen ließ. Nichtsdestotrotz mussten die Kolonisten auch hier bei jedem neuen Hausbau zunächst beim Fürsorgekontor eine Genehmigung für den Holzschlag einholen. So ist im Verzeichnis der verlorenen Akten des Saratower Kontors für Ausländische Siedler eine aus dem Jahr 1800 datierende „Akte über die der Gemeinschaft der Kolonie Gretschinaja Luka erteilte Genehmigung, Eichen für die Instandsetzung der Mühle zu schlagen“ und eine aus dem Jahr 1802 datierende „Akte über die den Kolonisten der Kolonie Gretschinaja Luka erteilte Genehmigung, 1.500 Bäume zu schlagen“ aufgeführt. Der Mangel sowohl an Bau- als auch an Brennholz führte dazu, dass die Kolonisten häufig gegen das Verbot des Holzschlags verstießen.

1916 gab es in Walter vier Schnittwarenläden, einen Krämerladen und einen Milchladen, einen Getreidespeicher und eine Wassermühle.

Nach der Revolution von 1917 wurde die ohnehin alles andere als einfache Existenz der Dorfbewohner durch Beschlagnahmungen und ständige Mobilisierungen zu Militär- und Arbeitsdiensten erheblich belastet. Am 5.-7. August kam es in Walter zu einem Aufstand, in dessen Verlauf drei Dorfbewohner getötet wurden. Nach der brutalen Niederschlagung des Aufstands durch die Bolschewiki mussten die 53 Initiatoren und Beteiligten des Aufstands dem Staat eine Kontribution in Höhe von über 30.000 Rubeln zahlen. In den Jahren der Sowjetmacht gab es im Dorf einen Genossenschaftsladen, eine Lesehütte und eine mobile Bibliothek. Zur Zeit der umfassenden Kollektivierung wurden im Dorf die Kolchosen „Rotfront“ und „Komsomol“ gegründet. In den Jahren 1930-31 wurden 17 Wirtschaften entkulakisiert und 21 Personen nach Sibirien zwangsausgesiedelt. Nach Stand zum Jahr 1937 wurde auf 15 Hektar Ackerland Tabak ausgesät. Nach der im September 1941 erfolgten Deportation der Deutschen blieben nur sechs Familien in Walter, das 1942 in Gretschichino umbenannt wurde.

Schule und Erziehungswesen. Zusammen mit den ersten Kolonisten wurde in Walter auch der aus Saalfeld (Sachsen) stammende 35-jährige Lehrer Johann Ulrich Schiefner angesiedelt, der zusammen mit seiner 23-jährigen Ehefrau Anna-Cornelia nach Russland gekommen war. Nachdem er die Kinder anfänglich noch bei sich zu Hause unterrichtet hatte, wurde in der Kolonie schon 1768 ein eigenes Schul- und Bethaus errichtet, in dem bis zum 1806 erfolgten Bau der ersten Kirche sowohl die Gottesdienste als auch der Schulunterricht stattfanden. 1896 lernten in der kirchlichen Gemeindeschule 212 Jungen und 239 Mädchen. Die Arbeit des Schulmeisters übte Michael Kaiser aus, Russischlehrer war Adolf Kaiser.

Am 2. September 1875 wurde im Dorf eine Semstwo-Schule eröffnet, die von Jefrem Schesler betreut wurde. Erster Lehrer war Michael Kaiser, der später an die Kirchenschule wechselte. In den Jahren 1877-82 arbeitete der Sohn des orthodoxen Diakons Alexander Sodijew als Lehrer, von 1882 an der orthodoxe Erbadlige Fjodor Bakanowski. Die Schüler lernten drei Jahre in einem einzigen Klassenzug. 1879 hatte die Semstwo-Schule 33 Schüler. Das Schulgeld betrug 7-8 Rubel pro Schüler. In den Jahren der Sowjetmacht wurden beide Schulen geschlossen und durch eine Grundschule ersetzt.

Religionszugehörigkeit der Bevölkerung und Kirche. Die Kolonisten waren größtenteils evangelisch-lutherischer Konfession. Ein kleinerer Teil der Bewohner war katholisch. Die lutherische Gemeinde Walter gehörte zum 1768 gegründeten Pfarrsprengel Frank (Medwedizki Krestowy Bujerak), der zu den ersten der insgesamt elf im Wolgagebiet gelegenen lutherischen Pfarrsprengel gehörte und sich über die Bezirke Atkarsk und Kamyschin (Gouvernement Saratow) erstreckte. Neben der Kolonie Walter gehörten auch die deutschen Siedlungen Frank, Kolb (Psekowatka) und Hussenbach (Linjowo Osero) zum Sprengel. Nach Stand zum Jahr 1905 war der Pfarrsprengel Frank mit insgesamt 28.039 Gemeindemitgliedern der größte Pfarrsprengel der Evangelisch-lutherischen Kirche Russlands.

In den ersten Jahren des Bestehens der Kolonie fanden die Gottesdienste im Schul- und Bethaus statt. Eine erste Kirche, die den Status einer Filialkirche hatte, wurde in Walter 1806 errichtet. Dabei handelte es sich um einen provisorischen, in architektonischer Hinsicht anspruchslosen Holzbau ohne Schmuckelemente, der in aller Eile ohne offiziell eingereichten Bauplan von örtlichen Handwerkern errichtet worden war und eher an ein geräumiges Wohnhaus als an eine Kirche erinnerte. In den ersten Jahren nach der Gründung der Kolonie ging es den Kolonisten ausschließlich darum, mitten in der russischen Steppe überhaupt ein protestantisches Gotteshaus errichten zu können, das nicht nur zur Feier der Gottesdienste genutzt wurde, sondern auch Zentrum des Gemeindelebens war.

Mit der Zeit wurde die Kirche für die schnell wachsende Gemeinde zu klein und konnte nicht mehr allen Gläubigen Platz bieten. Zu dieser Zeit begann der Bau eines neuen Gotteshauses. 1830 wurde in Walter eine neue Holzkirche errichtet, bei deren Bau sich das Fürsorgekontor nach den im gleichen Jahr erlassenen Sonderregeln für den Bau von Kirchen ausländischer Konfessionen richtete.

Die Sammlung der für den Bau der bis zum heutigen Tag erhaltenen nächsten Kirche bestimmten Spendengelder begann bereits in den 1880er Jahren. Für die Produktion der für den Kirchenbau benötigten Steine wurde im Dorf 1890 eigens eine Ziegelei gebaut, die nach Abschluss der Bauarbeiten wieder geschlossen wurde. Auch wenn der Rohbau bereits Mitte der 1890er Jahre fertig war, wurde der Kirchenbau selbst erst in den Jahren 1900-01 endgültig abgeschlossen. 1902 wurde die unter Aufsicht der örtlichen Handwerker Jakob Maar und Jakob Schesler errichtete Steinkirche schließlich geweiht. Für die Anfertigung der Bauzeichnungen und die Oberaufsicht über die Baumaßnahmen war der aus Riga stammende Indrikis (Heinrich) Dewendrus verantwortlich, der zur Rigaer Architekturschule gehörte und insbesondere in der lettischen Architektur bis heute sichtbare Spuren hinterließ. Er hatte keine spezielle Hochschulbildung und stand im Rang eines technischen Architekten. Viele seiner Projekte standen der rationalistischen Moderne nahe. Die Kirche in Walter gehörte zu den Höhepunkten seines Schaffens. Das 19 Meter hohe Gotteshaus wurde von einem Turmhelm und einem vergoldeten Kreuz gekrönt, im Kirchturm waren fünf Glocken. Die Innenausstattung der Kirche war eher hell, das im Hauptsaal und auf den Balkonen aufgestellte Kirchengestühl bot Platz für 1.000 Gläubige.

Anders als viele Kirchengemeinden, die in den ersten Jahren ihres Bestehens ohne eigenen Geistlichen blieben, hatte die der Gemeinde Walter übergeordnete Pfarrgemeinde Frank zunächst das Glück, bereits im ersten Jahr ihres Bestehens in Person des Absolventen der Universität Königsberg Johann Mittelstädt einen eigenen Pastor zu haben.

In den Jahren 1917/18 agierte unter dem Dach der Pfarrgemeinde eine für Flüchtlinge zuständige Hilfsorganisation. Nach der am 19. Oktober 1918 verkündeten Gründung der Autonomen Arbeitskommune der Wolgadeutschen wurde dort eine von der Lutherischen Kirche Russlands unabhängige Kirchenorganisation gegründet, der der „Generalkommissar“ des Präsidiums des Exekutivkomitees David Schulz vorstand, bei dem es sich um einen von den Kommunisten protegierten Laien handelte. Die neue Struktur fand weder in den Gemeinden noch bei den Pastoren Unterstützung. Einige Geistliche, die sich gegen eine solche Kirchenorganisation und ihre Führer aussprachen, mussten dafür mit ihrer Freiheit bezahlen. So wurde Pastor Arthur Julius Kluck (1891 - nach 1931) am 6. Januar 1920 verhaftet und inhaftiert. Die Kirchengemeinden Walter, Frank, Kolb und Hussenbach sammelten Unterschriften für die Verteidigung ihres Pastors, wandten sich mit der Bitte um seine Freilassung an die zuständigen Organe und nannten als Grund für seine Verhaftung Meinungsverschiedenheiten mit dem Leiter der von den Bolschewiki gegründeten Kirchenstruktur Kommissar Schulz. Im März 1920 wurde Pastor Kluck aus der Haft entlassen und als Strafmaßnahme zur Arbeit im Kriegskommissariat herangezogen. Zur Zeit der Hungersnot der frühen 1920er Jahre lebte er in Frank und Marxstadt, wo er sich aktiv an der Arbeit der Lebensmittelspenden verteilenden internationalen Hilfsorganisationen beteiligte. 1929 wurde er Pastor der Gemeinde Marxstadt. Im Februar 1929 wurde er verhaftet, der antisowjetischen Tätigkeit angeklagt und zu zehn Jahren Freiheitsentzug verurteilt. Der letzte in der Pfarrgemeinde tätige Pastor Konrad Staab (1891 - nach 1934), Absolvent des Leningrader Predigerseminars, wurde 1934 in Kamyschin verhaftet und verstarb später in im Lager.

1931 informierte die regionale Kommission für die Prüfung religiöser Angelegenheiten das Präsidium des Zentralexekutivkomitees der ASSR der Wolgadeutschen in einem geheimen Bericht, dass es im Dorf Walter noch 869 Gläubige gebe, von denen vier den Status von „Lischenzy“ hätten, ihnen also das Wahlrecht und andere bürgerliche Rechte aberkannt waren. Das Präsidium des Zentralexekutivkomitees ordnete an, den Prozess der Schließung der Kirche im Dorf zu beschleunigen. Im Juni 1934 informierten die örtlichen Behörden das Präsidium der ASSR der Wolgadeutschen, dass die Kirchen in den in der Umgebung von Walter gelegenen Dörfern bereits „juristisch und faktisch“ den Dorfsowjets übergeben und zu Volkshäusern umfunktioniert worden seien, die Kirche in Walter aber noch immer von den Gläubigen genutzt werde, woraufhin das Präsidium die örtlichen Machtorgane anwies, das Problem schnellstmöglich zu lösen. Bereits im August des gleichen Jahres berichtete der Dorfsowjet an die übergeordneten Stellen, dass die Steinkirche den Gläubigen nicht mehr zur Verfügung stehe, dem Staat aber juristisch noch nicht überstellt sei. Die Pastoren und Schulmeister seien nicht mehr aktiv, es werde kein Gottesdienst abgehalten. Am 4. April 1935 fasste die Kommission für Kultfragen beim Zentralexekutivkomitee der ASSR der Wolgadeutschen den offiziellen Beschluss, die Kirche zu schließen.

Liste der Pastoren. Pastoren der Pfarrgemeinde Frank (Medwedizki Krestowy Bujerak), die in der Gemeinde Walter Gottesdienst hielten. Johann Friedrich Mittelstädt (1768-70). Johann Friedrich Heitzig (1771-76). Im Jahr 1777 hatte die Gemeinde keinen Pastor. Laurentius Ahlbaum( 1778-82). Samuel Traugott Bȕttner (1782-86). Im Jahr 1787 hatte die Gemeinde keinen Pastor. Franz August Flittner (1788-1818). David Flittner (1818-20). Franz Hölz (1820-37). Jakob Würthner (1838-66). Ernst Theophil David (1867-78). Samuel Petrus Dittrich (1879-82). Im Jahr 1883 hatte die Gemeinde keinen Pastor. Karl Rudolf Roos (1884–1901). Michael Somelt (1901-15). Arthur Julius Kluck (1917-20). Konrad Staab (1925-27).

 

Entwicklung der Bevölkerungszahlen. Im Jahr 1767 lebten in Walter 376 ausländische Kolonisten, 1773 waren es 431, 1788 - 622, 1798 - 762, 1816 – 1.173, 1834 – 1.989 Personen. 1850 hatte Walter 2.899, 1859 – 3.264 und 1885 – 2.044 Einwohner. Nach den Daten der Allgemeinen Volkszählung des Russischen Reichs von 1897 lebten in Walter 2.427 Personen, von denen 2.424 Deutsche waren. Nach Stand zum Jahr 1911 hatte das Dorf 2.291 Einwohner. Nach den Daten der Allrussischen Volkszählung von 1920 lebten im Dorf 2.556 Personen. Anfang der 1920er Jahre wirkte sich die Hungersnot auf die Einwohnerzahl aus. 1921 gab es im Dorf 152 Geburten und 180 Sterbefälle. Nach Angaben der Gebiets-Statistikbehörde des Autonomen Gebiets der Wolgadeutschen lebten zum 1. Januar 1922 insgesamt 2.559 und 1923 insgesamt 2.754 Personen in Walter. Nach den Daten der Volkszählung von 1926 hatte das Dorf 2.494 Einwohner, die allesamt Deutsche waren. 1931 lebten im Dorf 2.138 Personen, von denen 2.136 Deutsche waren.

Das Dorf heute. Im heutigen Dorf Gretschichino (Rayon Kamyschin Gebiet Wolgagrad) leben nur noch etwa einhundert Personen, was gerade einmal fünf Prozent der vor der Revolution im Dorf ansässigen Bevölkerung ausmacht. An die deutschen Lutheraner erinnert außer der prachtvollen Kirche kaum noch etwas. In Gretschichino sind nur noch zwei alte deutsche Wohnhäuser erhalten, die sich in einem recht schlechten Zustand befinden. Dafür zieht die frühere lutherische Kirche bis heute begeisterte Blicke auf sich. Mit Fug und Recht lässt sich sagen, dass es sich um eine der schönsten heute noch erhaltenen lutherischen Kirchen im Wolgagebiet handelt, die zudem im Vergleich zu vielen anderen früheren deutschen Gotteshäusern einen beneidenswerten Erhaltungszustand aufweist. Heute wird die nach Plänen des Architekten Dewendrus erbaute Kirche als Getreidespeicher und Lagerhalle für landwirtschaftliche Gerätschaften genutzt, was auch zu ihrem relativ guten Erhaltungszustand beigetragen hat. Das Dach ist praktisch unbeschädigt, die schweren Türen sind immer verschlossen, was nicht nur die Steppenwinde, sondern auch neugierige Erforscher der Geschichte der Russlanddeutschen aus dem Innenraum fernhält.

Die weite Entfernung zu größeren Ortschaften hält die zahlreichen Touristen nicht ab, die sich an der Meisterschaft der Bauherren des späten 19. Jahrhunderts erfreuen möchten. Bedauerlicherweise ist allerdings auch dieses von einem bekannten europäischen Meister geschaffene und von mehreren Generationen der Dorfbewohner finanzierte Schmuckstück der deutschen Baukunst zunehmend vom Verfall bedroht. Neben der Kirche befindet sich der alte deutsche Friedhof. Unweit der Kirche ist zudem ein großes Backsteingebäude erhalten, bei dem es sich offensichtlich um einen Getreidespeicher oder eine frühere Mühle handelt.

Literatur

Дитц Я. История поволжских немцев-колонистов. – М., 1997; Дорн О. Немецкие колонии Вальтер и Ротгаммель: сравнительный анализ // http://wolgadeutsche.ru/fotos/dorn/Walter_Rothammel.pdf; Князева Е.Е., Соловьева Ф. Лютеранские церкви и приходы ХVIII – ХХ вв. Исторический справочник. – СПб., 2001. – Часть I; Немецкие населенные пункты в Российской Империи: География и население. Справочник / Сост.: В.Ф. Дизендорф. – М., 2002; Плеве И.Р. Немецкие колонии на Волге во второй половине ХVIII века. – М., 1998; Полное собрание законов Российской Империи. – Собр. 1. – Т. XXVI. – СПб., 1832; Einwanderung in das Wolgagebiet: 1764–1767 / Hrsg.: Alfred Eisfeld. Bearb.: Igor Pleve. Bd. 4. Kolonien Reinhardt – Warenburg. – Göttingen: Göttingenger Arbeitskreis, 2008; Nachrichten. – 1937. – 27. Juni.

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Autoren: Lizenberger O.A.

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