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KRATZKE (Krazke, Potschinnaja, Podtschinnyj, Podtschinnoje, Krazkij, Krazkaja, Grazka), heute das Dorf Podtschinnyj im Schirnowskij Rajon der Oblast Wolgograd; deutsche Kolonie im rechtsufrigen Wolgagebiet

Rubrik: Geschichte und Geographie der Ansiedlung der Deutschen im Russischen Reich, in der UdSSR und GUS / Geschichte der Ansiedlung
Общий вид с. Кратцке. 1997 г. Фото А. Германа
Остатки деревянной церкви. 2012 г. Фото Е. Мошкова
Руины ткацкой фабрики «Фортшрит». К настоящему времени разобраны на кирпич. Фото А. Германа. 1997 г.
Бывшая школа. Фото Е. Мошкова. 2012 г.
Сохранившийся немецкий дом. Фото Е. Мошкова. 2012 г.

KRATZKE (Krazke, Potschinnaja, Podtschinnyj, Podtschinnoje, Krazkij, Krazkaja, Grazka), heute das Dorf Podtschinnyj im Schirnowskij Rajon der Oblast Wolgograd; deutsche Kolonie im rechtsufrigen Wolgagebiet, am rechten Ufer des Flusses Golyj Karamysch. Die Kolonie lag 103 Werst südwestlich von Saratow und 94 Werst nördlich der Stadt Kamyschin. Ab 1871 gehörte die Siedlung zum Kolonistenbezirk Sosnowka, danach zur Wolost Sosnowka und später wiederum zur Wolost Oleschnja im Ujesd Kamyschin des Gouvernements Saratow. Letztere Wolost wurde 1871 auf dem Gebiet des früheren Kolonistenbezirks Norka etabliert.

Nach der Gründung der Arbeitskommune der Wolgadeutschen gehörte die Siedlung Kratzke zunächst zum Medwedizkij Rajon im Ujesd Golyj Karamysch. Ab 1922 gehörte die Ortschaft zum Kanton Kamenka innerhalb der Republik der Wolgadeutschen, ab 1927 wurde sie dem Kanton Frank zugeordnet. 1935 wurde sie wiederum aus dem Kanton Balzer aus- und in das Kanton Frank eingegliedert. Die Siedlung diente als Verwaltungszentrum des Kratzker Selsowjets. Im Jahr 1926 war Kratzke die einzige Siedlung innerhalb dieses Selsowjets.

Die deutsche Kolonie Kratzke wurde am 7. August 1767 als Kolonie des Werbers de Boffe (Deboff) gegründet. Ihren Namen erhielt die Kolonie nach dem ersten Vorsteher Adam Friedrich Kratzke, einem 41-jährigen Musikinstrumentenbaumeister, der aus der Kleinstadt Ueckermünde im preußischen Pommern stammte und zusammen mit seiner 38-jährigen Frau Hedwig Katharina und seinen fünf Kindern in die Kolonie kam. Gemäß dem Dekret vom 26. Februar 1768 über die Ortsbezeichnungen der deutschen Kolonien erhielt die Siedlung den russischen Namen Potschinnaja.

Die Kolonie wurde ursprünglich von 34 Familien gegründet, die hauptsächlich aus der Pfalz, Preußen, Sachsen und anderen deutschen Ländern sowie aus Schweden und Dänemark stammten. Der Großteil der ersten Kolonisten war evangelisch-lutherischer Konfession, 16 Personen gehörten zu den reformierten Kirchen (die Familien Burgardt, Wolf, Reiswig, Liesberg und Steinkuhl). Unter den Siedlern gab es, neben den Lutheranern, nicht nur reformierte Christen, sondern auch einige wenige Katholiken, die sich bei der Beladung der Siedlerboote und der Verteilung auf die einzelnen Kolonien inmitten der Vertreter anderer Konfessionen wiederfanden. So waren zum Beispiel die aus Frankreich stammenden Johann Moor und seine Frau Katholiken.

Anhand der Analyse der Listen der ersten Aussiedler kann man schließen, dass Kratzke ursprünglich nicht als landwirtschaftliche Kolonie, sondern als Handwerkszentrum geplant war. Zum Beispiel waren nur 7 der ersten 51 Hausbesitzer Getreidebauern und entsprachen damit, in Bezug auf die frühere Tätigkeit in ihrer Heimat, dem Hauptziel der Anwerbung der Siedler, nämlich der Erschließung der landwirtschaftlichen Zone in den dünn besiedelten Steppengebieten an den Grenzen Russlands. Unter den übrigen Hausbesitzern gab es sechs Schuster, drei Schneider, zwei Soldaten, zwei Weinbrenner, zwei Tischler, zwei Sattler/Geschirrmacher, zwei Maurer, zwei Ledergerber, zwei Weber sowie einen Sackweber, einen Tuchweber, einen Wollweber, einen Kaufmann, einen Schiffsarbeiter, einen Malermeister, einen Schlosser, einen Salzmeister, einen Kupferschmied, einen Silberschmied, einen Jäger, einen Grobschmied, einen Buchbinder, einen Zimmermann und einen Musikinstrumentenbaumeister. Alle Kolonisten waren ungeachtet ihrer früheren Tätigkeit verpflichtet, in der Landwirtschaft zu arbeiten. Im Jahr 1769 meldeten sich lediglich sechs Familien als nicht zum Getreideanbau fähig. 1769 besaßen die Kolonisten insgesamt 47 Pferde, 13 Arbeitsochsen, 69 Kühe und 6 Schweine.

Die ersten Jahre der Besiedlung waren mit Schwierigkeiten und Mühsal verbunden. 1774 wurde die Kolonie Ziel eines Angriffs vonseiten der Truppen J. Pugatschows, der auf seinem Weg von Saratow nach Kamyschin durch Kratzke zog. Nach den Erinnerungen von Dewald Schneider, der zu diesem Zeitpunkt 14 Jahre alt war, zog Pugatschow in einer mit sechs Pferden bespannten Kutsche in die Siedlung ein und führte, zwecks Abschreckung der Einwohner, eine demonstrative Hinrichtung von mitgeführten Gefangenen auf dem zentralen Platz durch. Die Aufständischen zerstörten teilweise die Siedlung und legten Feuer an die Häuser. Zum Glück konnte der Brand schnell gelöscht werden. Auch gelang es den Kolonisten, besonders wertvolle Gegenstände schon vor der Plünderung der Siedlung zu verstecken. Wegen der endlosen Schwierigkeiten und Belastungen flohen manche Kolonisten aus den Siedlungen auf der Suche nach einem besseren Leben. Aus diesem Grund entschied das Betreuungsbüro etwa 30 Familien aus den Kolonien Scherbakowka, Wodjanoj Bujerak und Werchnjaja Kulalinka nach Kratzke umzusiedeln.

Anfangs war die Größe der Anbaufläche, welche die Siedler bebauen durften, nicht begrenzt. Auf Basis einer Revision im Jahr 1834 wurde den Kolonisten 15 Desjatinen Land pro Person zugeteilt. Bei einem Teil des Bodens handelte es sich nicht um Tschernosem (Schwarzerde), sondern um Lehm- und Sandböden. Neben Weizen, Roggen und Hafer bauten die Bewohner Kratzkes auch Gerste, Hirse sowie Kartoffeln an und betätigten sich im Gartenbau. Die Einwohnerzahl der Kolonie und die Anzahl ihrer Höfe wuchs beständig. Wenn im Jahr 1816 nur 53 Familien in der Siedlung wohnten, so waren es 1857 bereits 119 Familien. Mit dem Anwachsen der Einwohnerzahl wurde ab 1864 eine Umverteilung des Landes alle sechs Jahre nach der Anzahl der ansässigen Personen eingeführt. Landmangel führte dazu, dass eine massenhafte Abwanderung der Kolonisten in andere Regionen einsetzte. 1855 gründeten Siedler aus Kratzke in der Wolost Kresty (Nischnij Jeruslan), Ujesd Nowousensk, Gouvernement Samara, die Tochterkolonie Ehrenfeld. Im Jahr 1910 lebten hier 2460 Menschen. 1860 hatte die Kolonie 81 Höfe, es wurden sechs Mühlen und eine Butterungsanlage betrieben.

Im Jahr 1886 hatte die Siedlung 124 Wohnhäuser, davon 51 Stein- und 73 Holzhäuser. 48 Häuser waren mit Stroh, weitere 76 Häuser mit Brettern gedeckt. Ein Haus besaß zwei Stockwerke. 1886 besaßen die Bewohner 112 Pflüge, 15 Kornschwingen, 1 Sämaschine, 498 Pferde, 63 Ochsen, 552 Kühe, 561 Schafe, 487 Schweine und 215 Ziegen. In der Siedlung gab es 10 Gewerbebetriebe, fünf Läden und eine Kneipe. Außerdem gab es ein Reserve-Getreidemagazin. Jede Woche am Freitag wurden in der Siedlung Märkte veranstaltet, Anfang Juli sowie Mitte Oktober wurden jedes Jahr jeweils dreitägige Jahrmärkte organisiert.

In Anbetracht der Tatsache, dass in den ersten Jahren der Besiedlung Handwerker einen Großteil der Kolonisten ausmachten, wurde mit der Zeit das Sarpinka-Gewerbe (Sarpinka: eine Art Baumwollstoff) in der Kolonie weit verbreitet. Schon der bekannte russische und deutsche Akademiker, Wissenschaftler und Enzyklopädist Peter Simon Pallas berichtete, nachdem er 1773 die Wolgakolonien besucht hatte, dass sich in der Kolonie Kratzke „viele ausgezeichnete Weber von Tuch- und Baumwollstoffen“ angesiedelt hätten und „den Wunsch zum Ausdruck brachten, hier Webfabriken zu eröffnen“. Der Kolonist Maier wurde zu einem besonders erfolgreichen Unternehmer. Kratzke lag in unmittelbarer Nachbarschaft von Kolonien, die unter den wolgadeutschen Siedlungen bei der Herstellung von Kleidung aus Baumwolle dominierten. Deswegen wurde auch in Kratzke die Herstellung von Sarpinka überaus beliebt. Im Jahr 1860 gab es in der Kolonie zwei Färbereien. 1894 gab es wiederum zwei Sarpinka-Produktionsanlagen, die sich aus den Färbereien entwickelt hatten und ungefähr 80 Menschen beschäftigten.

Selbst in der Sowjetzeit war die Spinn- und Webfabrik „Fortschritt“ weit über die Grenzen der Siedlung hinaus bekannt. Im Jahr 1929 wurde sie, gemäß dem Fünfjahresplan zur Entwicklung der Baumwollindustrie in der ASSR der Wolgadeutschen, einer Rekonstruktion unterzogen. Die Fabrik gehörte zu den größten Unternehmen innerhalb der Republik der Wolgadeutschen, 1939 waren hier 679 Menschen beschäftigt. Anfang der 1930er Jahre wurde in Kratzke die Kolchose „Fortschritt“ gegründet. Mitte der 1930er Jahre wurde in der benachbarten Siedlung Dittel eine Maschinen-Traktoren-Station eingerichtet. Sie bediente außer Dittel fünf weitere Kolchosen in den Siedlungen Kratzke, Seewald, Kauz, Merkel und Rothammel. 1939 wurde Kratzke der Status einer Arbeitersiedlung verliehen. Im September 1941 wurden die deutschen Einwohner der Siedlung deportiert.

Schule und Kindererziehung. Eine Kirchenschule gab es seit der Gründung der Kolonie. Bevor die erste Kirche im Jahr 1821 gebaut wurde, wurden der Schulunterricht und die Gottesdienste im selben Gebäude abgehalten. Der Unterricht lief folgendermaßen ab: „Das Schulgebäude besitzt ein durchaus ansehnliches Äußeres, ist von beachtlicher Größe und besteht aus einer Halle [...]. Ich fand 450 Menschen vor, die darin saßen [...]. Sie saßen auf ziemlich schmalen, dünnen und langen Brettern beziehungsweise Bänken und hielten die Bücher in den Händen, da es bei den Bänken keine Tische gab. In der Nähe des Lehrerpults gab es hingegen drei oder vier Tische, an denen ausgewählte Schüler im Schreiben unterrichtet wurden. Der Lehrer hatte einen Assistenten, dieser übte mit leiser Stimme mit jedem der „Alphabet-Schüler“ (bis zu 100 Schüler), während der Lehrer das laute Vorlesen der „Testament-Schüler“ anhörte [...]. Die Kinder saßen zu dicht gedrängt, in Straßenkleidung und mit von Schnee nassen Schuhen, fast alle hatten verschwitzte Gesichter [...]. Mittelalterliche Körperstrafen (Schläge mit einem Stock oder einem Lineal auf die Handfläche) waren in allen Kolonistenschulen gang und gäbe.“ Als der Historiker Jakob Dietz, der 1864 in Kratzke geboren worden war und seine Grundschulbildung in der Kirchenschule der Siedlung erhalten hatte, diese Beschreibung der Unterrichtspraxis durch den Leiter des Betreuungsbüros Schafranow las, rief er aus: „Er hat ja die Schule in der Kolonie Potschinnaja beschrieben!“ Dies zeigt, wie typisch die beschriebene Unterrichtspraxis für alle Kirchenschulen in den deutschen Kolonien war.

Der Unterricht in den privaten Schulen und den Landschulen war etwas anders organisiert. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstand in der Siedlung eine private genossenschaftliche Schule, wo die Schüler vertieft in weltlichen Fächern und in der russischen Sprache unterrichtet wurden. Nach Angaben der ländlichen Volkszählung des Jahres 1886 konnten 1213 der Einwohner lesen und schreiben, davon 345 Männer und 326 Frauen. In der Sowjetzeit wurden beide Schulen im Zuge der Etablierung eines einheitlichen Systems einer staatlichen sozialistischen Schule aufgelöst.

Kirche und Glaubensbekenntnis der Bewohner. Die Kolonisten gehörten der evangelisch-lutherischen Konfession an. Ein Teil der Einwohner spaltete sich von der offiziellen Kirche ab und zählte sich fortan zu der Gemeinde der Betbrüder.

In den ersten Jahren nach der Besiedlung unterstanden die Kolonisten keiner einheitlichen kirchlichen Organisation und hatten keine gemeinsame Führung. In der Folge wurde die Gemeinde Kratzke in die Gemeinde Merkel eingegliedert, die ihrerseits 1767 gegründet wurde. Später wurde sie in die Gemeinde Dittel integriert, nachdem die Gemeinde Merkel aufgelöst worden war (1767, nach anderen Angaben: 1768). Nach der Zusammenführung dieser Gemeinden gehörten außer Kratzke auch Dittel (Oleschnja), Kauz (Werschinka), Merkel (Makarowka) und später auch Neu-Balzer sowie Neu-Denhofzu der Gemeinde Dittel. 1904 hatte die Gemeinde Dittel 15 667 Mitglieder, davon 12 547 Lutheraner und 3120 Reformierte.

In den ersten Jahren nach der Besiedlung wurde der Bau von Schulen, Kirchen sowie Schul- und Bethäusern aktiv vorangetrieben. Sie dienten unter anderem als Zentren des Gemeindelebens. Nach der Gründung der Siedlung hielten Kratzkes Kolonisten ihre Gottesdienste im Schul- und Bethaus ab, das den Status einer Zweigstelle hatte. Das genaue Datum seiner Errichtung ist nicht bekannt. Es wurde in den ersten Jahren nach der Ansiedlung der Kolonisten mit staatlichen Mitteln gebaut. Das dafür aufgewendete Geld mussten die Kolonisten in den nächsten zehn Jahren an den Staat zurückzahlen.

Der Bau der ersten Holzkirche begann im Jahr 1821, mit eigenen Mitteln der Kolonisten. 1826 wurde die Kirche geweiht. Anfänglich maßen die Kolonisten dem architektonischen Stil keine allzu große Bedeutung bei: Das Kirchengebäude war aus Holz gebaut, mit Eisenblech gedeckt, klein und verhältnismäßig bescheiden. Die erbaute Kirche hatte den Status einer Zweigstelle.

Mit der Zeit wurde die alte Kirche zu klein, um alle Gemeindemitglieder aufzunehmen, und die Einwohner beschlossen den Bau einer geräumigeren Kirche. Der erste Stein für deren Errichtung wurde 1898 gelegt. Der Bau wurde 1899 abgeschlossen und die Kirche im selben Jahr geweiht. Die Kirche hatte den Status einer Zweigstelle, war eher klein, aber dafür ziemlich gemütlich und hatte ein ansprechendes Äußeres. Die architektonische Lösung war verhältnismäßig einfach, da Kirchen dieser Art in vielen Kolonien von den Handwerksmeistern der Kolonie und ohne Beteiligung von professionellen Ingenieuren und Architekten errichtet wurden. Allerdings war das bescheidene Gotteshaus aus Holz der Stolz Kratzkes, weil es verhältnismäßig elegant und ausgewogen gestaltetwar. Die Kirche besaß große rechteckige Fenster und eine eckige Apsis. Über dem rechteckigen Vorraum befand sich ein Glockenturm mit einem Kreuz von mehreren Metern Länge. Die Bankreihen für insgesamt 600 Besucher waren in vier Rechtecken angeordnet und wurden durch Quer- und Längsgänge geteilt. Neben der Kirche befand sich ein aus Ziegelstein erbautes Pastorat. Im Jahr 1912 wurde das Kirchengebäude generalüberholt. Außerdem gab es in der Kolonie unweit des Schulgebäudes ein aus Ziegelstein gebautes Bethaus, wo die Gottesdienste in der kalten Jahreszeit abgehalten wurden.

Ende der 1850er Jahre begann in Kratzke die Missionstätigkeit der Sektenbewegungen der Betbrüder und der freikirchlichen Stundisten. 1861 wiesen die Aufseher der Kolonien und das Betreuungsbüro in ihrem Briefverkehr mit dem Moskauer evangelisch-lutherischen Konsistorium darauf hin, dass die Missionsprediger in den Kolonien überaus aktiv seien und zahlreiche Anhänger unter den Kolonisten fänden. Die Zahl der Sektenmitglieder wuchs beständig. Das Bezirksdekret des Betreuungsbüros für ausländische Siedler vom 10. Dezember 1866 schrieb allen örtlichen Behörden vor, „strengstens darüber zu wachen, dass die Sektierer der Polizeiaufsicht unterworfen werden und dass es ihnen in jeglicher Hinsicht verwehrt wird, sich von ihrem Wohnort zu entfernen, um Anhänger zu rekrutieren“.

Ende des 19. Jahrhunderts erklärten sich Kratzkes Sektenmitglieder zu Baptisten, da im Jahr 1879 die höchste Anweisung des Staatsrates erging, nach welcher Baptisten „ungehindert ihrer Glaubenslehre folgen und ihre Riten nach den bei ihnen existierenden Bräuchen ausführen“ durften. Die Annahme der baptistischen Lehre wurde nicht nur dadurch gefördert, dass es nicht viele dogmatische Unterschiede zwischen den Baptisten und den Sekten gab, sondern auch dadurch, dass Baptismus offiziell als legale Glaubensrichtung anerkannt wurde, während die anderen Gruppen von den staatlichen Behörden verfolgt wurden. 1891 benachrichtigte der Polizeichef des Ujesd Kamyschin den Gouverneur darüber, dass es die Sekte der freikirchlichen Stundisten auf dem Gebiet des Ujesd nicht mehr gebe, obwohl es sie dort früher gegeben habe.

Mit der Machtergreifung durch die Bolschewiken kam es zu Repressionen gegen Geistliche. Der letzte Gemeindepastor Johann Friedrich Möllmann (* 1855; † nach 1936), der ab 1914 die Position des Probstes des rechtsufrigen Wolgagebietes innehatte, verrichtete seinen Dienst in Kratzke offiziell bis 1918. Danach wohnte er in Balzer, besuchte aber weiterhin die Gemeinde und hielt dort Predigten. 1933 wurde er der antisowjetischen Tätigkeit beschuldigt und kam in ein Lager in Sibirien.

1931 erhielt das Zentrale Exekutivkomitee der ASSR der Wolgadeutschen (ZEK ASSR) geheime Informationen von der regionalen Kommission zu religiösen Fragen, gemäß denen es in Kratzke 500 Gläubige gebe, von denen 6 Personen zu der Kategorie der „Entrechteten“ zählten (Personen, denen die politischen Rechte entzogen worden waren). Außerdem wurde in der Mitteilung angegeben, dass eine Gemeinde der Betbrüder innerhalb der Kirchengemeinde aktiv sei und 70 Mitglieder zählte. Schon im Juli 1934 wurde das Präsidium der ASSR der Wolgadeutschen durch die regionalen Regierungsorgane darüber informiert, dass das Bethaus in Kratzke „de jure und de facto“ an das Selsowjet übergegangen sei. Bereits im August 1934 wurde es zu einem „Volkshaus“ umgestaltet. Ebenfalls im August desselben Jahres berichtete das Selsowjet an die übergeordneten Behörden: „auch die Kirche steht den Gläubigen nicht mehr zur Verfügung, wurde aber, rechtlich gesehen, noch nicht an den Staat übergeben [...]. Die Pastoren und Schulmeister arbeiten nicht länger im Kanton, die Gottesdienste werden nicht fortgeführt.“ Die Kommission zu Kultfragen beim ZEK ASSR der Wolgadeutschen entschied, die Kirche in Kratzke am 15. November 1934 zu schließen, da sich 665 der 1034 Gemeindemitglieder für die Schließung der Kirche ausgesprochen hatten.

Liste der Pastoren. Pastoren der Gemeinde Dittel (Oleschnja), die in der Gemeinde Kratzke tätig waren:1769–1770 – Sigismund Israel Berger/Bergen; 1770–1772 – hatte die Gemeinde keinen Pastor; 1772–1774 – Gottlieb May; 1774–1780 – hatte die Gemeinde keinen Pastor; 1780–1782 – Laurentius Ahlbaum; 1782–1793 – hatte die Gemeinde keinen Pastor; 1793–1798 – Johann Heinrich Buck; 1798–1801 – hatte die Gemeinde keinen Pastor; 1801–1815 – Karl Jakob Früauf; 1815–1819 – hatte die Gemeinde keinen Pastor; 1819–1862 – Andreas Haag; 1835–1862 – Gotthard Alexis Marpurg; 1864–1880 – Ernst Gottfried Carrolien; 1887–1892 – August Julius Tiedemann; 1893–1927 – Johann Friedrich Möllmann.

Einwohnerzahl und Anzahl der Gemeindemitglieder. Im Jahr 1767 betrug Kratzkes Einwohnerzahl 129 Menschen, 1773 waren es 137; 1788 – 140; 1798 – 210; 1816 – 339; 1834 – 663; 1850 – 1012; 1859 – 1223 und 1886 – 1213 Menschen. Nach dem Datenmaterial der Allgemeinen Volkszählung des Russischen Reiches lebten im Jahr 1897 in Kratzke 1181 Menschen, davon 1175 Deutsche. Im Jahr 1904 hatte die Siedlung 2233 Einwohner, im Jahr 1911 waren es 2435.

Gemäß dem Datenmaterial der Allrussischen Volkszählung des Jahres 1920 lebten in Kratzke 1577 Menschen. Die Hungersnot Anfang der 1920er Jahre wirkte sich auch auf die Einwohnerzahl der Wolgakolonien aus. Im Jahr 1921 kamen in der Siedlung 51 Menschen zur Welt, während im selben Jahr 90 Menschen verstarben. Nach den Daten der Oblast-statistischen-Administration der Autonomen Oblast der Wolgadeutschen lebten zum 1. Januar 1922 in Kratzke 1322 Menschen. Nach Angaben der Allrussischen Volkszählung im Jahr 1926 zählte die Siedlung 1456 Einwohner, alle davon Deutsche. Im Jahr 1931 lebten 2171 Menschen in Kratzke, davon 2149 Deutsche, im Jahr 1939 waren es insgesamt 2188 Menschen.

Die Siedlung heute. Die Ortschaft heißt Podtschinnyj und gehört zum Schirnowskij Rajon der Oblast Wolgograd. Der Ort gehört zur Landgemeinde Aleschniki.

Das 1899 erbaute Gebäude der ehemaligen Kirche, das bis heute in Podtschinnyj erhalten geblieben ist, stellt ein bedeutendes architektonisches Denkmal und einen authentischen Wertgegenstand der Siedlung dar. Wenn die heutigen Anwohner an dem Bau vorübergehen, denken sie wohl kaum daran, dass hier einmal Gottesdienste abgehalten wurden, an denen hunderte von Menschen teilnahmen. In der heutigen Zeit gibt es immer weniger erhalten gebliebene Objekte der deutschen Baukunst. Von den hunderten lutherischen Holzkirchen, die es im Wolgagebiet einmal gegeben hatte, sind bis Ende der 1990er Jahre nur drei erhalten geblieben.

Die ehemalige Kirche in Podtschinnyj wird schon lange nicht mehr benutzt, es fehlt die frühere Turmspitze und sie bietet insgesamt ein trauriges Bild. Allerdings hält das Gebäude immer noch die Erinnerung an die deutschen Lutheraner aufrecht. Der Erhaltungszustand des ehemaligen Gotteshauses und sein auf den ersten Blick unscheinbarer, aber eigentümlicher Architekturstil ziehen Menschen an, die sich für die Geschichte der Russlanddeutschen interessieren. Unweit der Kirche befindet sich das heutzutage verlassene ehemalige Pastoratgebäude aus Ziegelstein. Im heutigen Gebäude der Mittelschule mit ihrem Eingangsbogen aus Ziegelstein kann man leicht den früheren Schulkomplex, mit dem Schulmeisterhaus im Innenhof, erkennen. Im heutigen Podtschinnyj kann man ohne besondere Mühe auch andere mehr oder weniger gut erhaltene, typische deutsche Wohnhäuser aus der Zeit zwischen dem Ende des 19. und dem Anfang des 20. Jahrhunderts finden. Obwohl zu großen Teilen zerstört, gibt es immer noch das Gebäude des ehemaligen Bethauses aus rotem Ziegelstein. In einem Teil des ehemaligen Gebäudes befindet sich heute eine Bibliothek. Von der ehemaligen Webfabrik „Fortschritt“ sind in unserer Zeit nur noch Ruinen erhalten geblieben. Gegenwärtig ist die Siedlung nicht mehr so groß wie vor dem Jahr 1917. Die Einwohnerzahl beträgt ungefähr 200 Menschen, was nur ein Zehntel der Menschen ist, die hier vor der Revolution lebten.

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Archive

ГАСО. ГАСО. Ф. 1. Оп. 1. Д. 8968. Л. 1; Ф. 2. Оп. 1. Д. 7913. Л. 10; Ф. 637. Оп. 2. Д. 3769; ГИАНП. Ф. 849. Оп. 1. Д. 834. Л. 107; Д. 890. Л. 28, 34, 84; Д. 1062. Л. 173.

Literatur

Герман А.А. Немецкая автономия на Волге. 1918–1941. Часть II. Автономная республика. 1924–1941. – Саратов, 1992–1994; Дитц Я. История поволжских немцев-колонистов. – М., 1997; Князева Е.Е., Соловьева Ф. Лютеранские церкви и приходы ХVIII – ХХ вв. Исторический справочник. – СПб., 2001. – Часть I; Минх А.Н. Историко-географический словарь Саратовской губернии: Южные уезды: Камышинский и Царицынский. Лит. Л–Ф. Печатан под наблюдением С. А. Щеглова. – Саратов: Тип. Губ. земства, 1901. – Приложение к Трудам Саратовской Учёной Архивной Комиссии; Немецкие населенные пункты в Российской Империи: География и население. Справочник / Сост.: В.Ф. Дизендорф. – М., 2002; Полное собрание законов Российской Империи. – Собр. 1. – Т. XXVI. – СПб., 1832; Свод законов Российской Империи. 1857. – Т. 12. – Часть II. – СПб., 1857; Einwanderung in das Wolgagebiet: 1764–1767 / Hrsg.: Alfred Eisfeld. Bearb.: Igor Pleve. Bd. 2. Kolonien Galka – Kutter. Göttingen: Göttingenger Arbeitskreis, 2001; Pallas P.S. Reise durch verschiedene Provinzen des Rußischen Reichs in den Jahren 1768–1773. – 3 Bd. – СПб., 1771–1776; Саратовский дневник. – 1887. – № 145. – С. 2.

Autoren: Lizenberger O.A.

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