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FRIEDENBERG (Mirnoje, Gololy, Kulaly), heute Dorf Mirnoje, Rayon Rownoje, Gebiet Saratow

Rubrik: Geschichte und Geographie der Ansiedlung der Deutschen im Russischen Reich, in der UdSSR und GUS / Geschichte der Ansiedlung
Mirnoje. Straße. Foto Je. Moschkow, 2010.
Mirnoje. Früherer Standort eines deutschen Hauses. Foto Je. Moschkow, 2010.

FRIEDENBERG (Mirnoje, Gololy, Kulaly), heute Dorf Mirnoje, Rayon Rownoje, Gebiet Saratow; im linksufrigen Wolgagebiet am rechten Ufer des Flusses Jeruslan, 98 Werst südöstlich von Pokrowsk, 442 Werst von Samara, 140 Werst von Saratow und 149 Werst von der Bezirksstadt Nowousensk gelegene deutsche Kolonie. Von 1871 bis Oktober 1918 gehörte das Dorf zum Amtsbezirk [Wolost] Torgun (nach 1914 Lugowaja) (Bezirk [Ujesd] Nowousensk, Gouvernement Samara).

Nach der Gründung der Arbeitskommune der Wolgadeutschen war das Dorf Friedenberg bis 1941 Verwaltungszentrum des gleichnamigen Dorfsowjets, zu dem 1926 das Dorf Friedenberg und das Gehöft Friedenberg gehörten. Bis zur im Jahr 1921 vollzogenen Auflösung der Bezirke gehörte Friedenberg zum Rayon Torgun (Bezirk Rownoje), anschließend zunächst zum Rayon Rownoje und von 1922 an zum neugegründeten Kanton Staraja Poltawka. Von 1927 bis zur im Jahr 1941 erfolgten Auflösung der ASSR der Wolgadeutschen gehörte Friedenberg zum Kanton Seelmann.

Die deutsche Kolonie Friedenberg wurde 1860 als Tochterkolonie von Kolonisten gegründet, die zuvor in den Mutterkolonien Anton (Sewastjanowka, heute Sadowoje, Rayon Krasnoarmejsk, Gebiet Saratow), Kraft (heute Werchnjaja Grjasnucha, Rayon Kamyschin, Gebiet Wolgograd), Rossoschi (Franzosen, heute Perwomajskoje, Rayon Krasnoarmejsk, Gebiet Saratow), Ust-Kulalinka (heute Galka, Rayon Kamyschin, Gebiet Wolgograd), Schwab (Butkowka, Rayon Kamyschin, Gebiet Wolgograd) und  Stefan (Wodjanoj Bujerak, heute Wodnobujeratschnoje, Rayon Kamyschin, Gebiet Wolgograd) gelebt hatten.

1860 prüfte das Fürsorgekontor die Frage „Über die Benennung der Kolonie Friedenberg“. Der Name der Kolonie geht wörtlich auf die Wortteile „Frieden“ und „Berg“ zurück. An die Übersetzung des ersten Teils des deutschen Dorfnamens ist auch der russische Name der Kolonie Mirnoje (abgeleitet vom russischen Wort „mir“ – Frieden) angelehnt, den die Kolonie 1915 im Zuge der im Land entfesselten antideutschen Propagandakampagne erhielt. Nach der Gründung der Arbeitskommune der Deutschen erhielten die Wolgadörfer 1918 ihre deutschen Namen zurück.

1888 gab es im Dorf 200 deutsche Kolonistenhaushalte sowie 15 Haushalte von Personen, die nicht in der Kolonie eingeschrieben waren und aus kommerziellen Gründen in der Kolonie lebten. 15 Haushalte galten als wohlhabend und beschäftigten Lohnarbeiter. Im Dorf gab es 163 Wohnhäuser (59 Holz- und 104 Lehmziegelbauten). Im Jahr 1888 waren 89 Bewohner von Friedenberg im örtlichen Gewerbe tätig und arbeiteten in den zehn Gewerbebetrieben und zwei Schankhäusern, die es im Dorf gab. Die meisten Dorfbewohner waren in der Landwirtschaft tätig und auf den Anbau von Weizen spezialisiert (die Anbauflächen für Weizen waren etwa dreimal so groß wie die für Roggen). Jahre mit guten Ernteerträgen wechselten mit Jahren der Missernte. Große Bedeutung für die Entwicklung der Landwirtschaft hatten die natürlich-klimatischen Gegebenheiten. Der um die Siedlung gelegene Boden war lehmig und salzig, was die Vegetation einschränkte. Die Bewirtschaftung des Landes erfolgte nach dem Gemeinschaftsprinzip. Von den 199 Kolonisten, denen Land zugeteilt war, bevorzugten viele, nicht nur eine, sondern zwei (41), drei (44), oder sogar vier und mehr (69) Parzellen zu bewirtschaften.

Angesichts der großen Bedeutung der Landwirtschaft waren die Siedler bemüht, Inventar und Anbaumethoden zu modernisieren. 1888 gab es im Dorf 37 Eisenpflüge, 34 Kornschwingen und fünf Mähmaschinen. 39 Landwirte verfügten über modernes landwirtschaftliches Gerät, das sie selbst produzierten oder aus anderen deutschen Siedlungen bezogen. Die anderen Landwirte nutzten einfache, in Heimarbeit hergestellte Gerätschaften. 1908 gab es in Friedenberg zwei moderne Erntemaschinen und 150 sogenannte „Schnitter“ (einfache bei der Getreideernte eingesetzte Mähmaschinen, deren Nutzung erheblichen Kraftaufwand erforderte, da nur die Stängel abgeschnitten wurden und der Bauer das Getreide mit der Forke von der Plattform schaufeln musste, wobei etwa 20-30 % des Getreides verlorengingen). Während das landwirtschaftliche Gerät in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor allem von Pferden   gezogen wurde, kamen Anfang des 20. Jahrhunderts zunehmend Kamele zum Einsatz. Im Jahr 1888 hatten die in Friedenberg ansässigen Siedler 489 Arbeitspferde, 174 Ochsen, 296 Kühe, 706 Schafe, 155 Ziegen und 482 Schweine. 1908 hatten die Siedler 514 Pferde, 209 Ochsen, elf Kamele, 244 Kühe, 150 Kälber, 612 Schafe und zehn Schweine. Nach Stand zum Jahr 1908 gab es im Dorf 205 Höfe registrierter Einwohner und 10 Höfe auswärtiger Personen, die sich im Dorf niedergelassen hatten. 1910 gab es 210 Höfe sowie eine Butterei und zwei Windmühlen.

In den 1920er Jahren gab es im Dorf 323 Höfe, einen Klub, einen Genossenschaftsladen und eine landwirtschaftliche Kreditgenossenschaft. Es wurde die Kolchose „Weber“ eingerichtet. Im September 1941 wurden die Deutschen aus dem Dorf deportiert, das seit 1942 den Namen Mirnoje trägt.

Schule und Erziehungswesen. Die kirchliche Gemeindeschule wurde praktisch zeitgleich mit dem Dorf selbst im Jahr 1860 gegründet und war in einem Holzbau untergebracht. Der Unterricht fand in zwei Schichten statt. Im Jahr 1888 waren 770 der über 1.000 Dorfbewohner alphabetisiert (250 erwachsene Männer, 295 erwachsene Frauen, 116 Jungen und 109 Mädchen, 67% der Gesamtbevölkerung). In 168 der insgesamt 200 Haushalte war mindestens ein Familienmitglied des Lesens und Schreibens kundig.

Im Jahr 1900 wies der Volksschulinspektor den Probst der Wiesenseite J. Erbes an, die Zuweisungen für den Russischunterricht zu erhöhen und einen zweiten Russischlehrer einzustellen, da auf 500 Kinder durchschnittlich nur ein einziger Russischlehrer komme. Nach den von Pastor Erbes zum Stand des deutschen Schulwesen zusammengetragenen Daten waren im Jahr 1906 269 der insgesamt 2.036 Einwohner Kinder im Alter von 7-15 Jahren, die zum Besuch einer Elementarschule verpflichtet waren. Allerdings besuchten nicht alle Kinder im schulpflichtigen Alter auch wirklich eine Schule. In Friedenberg blieben zehn Kinder dem Unterricht fern, weil ihre Eltern arm waren. Im Jahr 1906 besuchten 130 Jungen und 129 Mädchen die Kirchenschule, an der zwei Lehrer tätig waren. Anders als in vielen anderen deutschen Kolonien gab es in Friedenberg keine Semstwo-Schule. In den 1920er Jahren wurde die Kirchenschule zu einer Grundschule. Alle Fächer mit Ausnahme der russischen Sprache wurden auch weiterhin in deutscher Sprache unterrichtet.

Religionszugehörigkeit der Bevölkerung und Kirche. Die Kolonisten waren evangelisch-lutherischer Konfession. Bis 1876 gehörte die Gemeinde Friedenberg zum Pfarrsprengel Morgentau, der im Jahr 1863 für die in der Steppe des linksufrigen Wolgagebiets gelegenen neuen deutschen Kolonien gegründet worden war. Als dieser im Jahr 1876 in die beiden Pfarrsprengel Gnadentau und Weimar geteilt wurde, wurde die Gemeinde Friedenberg zusammen mit den fünf deutschen lutherischen Siedlungen Wiesenmüller (heute Dorf Lugowskoje, Rayon Rownoje, Gebiet Saratow), Gnadentau (heute Werchni Jeruslan, Rayon Staraja Poltawka, Gebiet Wolgograd), Kana (heute Kana, Rayon Staraja Poltawka, Gebiet Wolgograd), Morgentau (heute Dorf Sujetinowka, Rayon Staraja Poltawka, Gebiet Wolgograd) und Blumenfeld (Brunnental, heute Kriwojar, Rayon Krasny Kut, Gebiet Saratow) zum Pfarrsprengel Gnadentau zusammengeschlossen, dessen Gründung am 9. Oktober 1876 bestätigt wurde.

Ein eigenes Kirchengebäude gab es im Dorf nicht. In den im Staatlichen Archiv der Geschichte der Wolgadeutschen in Engels verwahrten Dokumenten ist lediglich die Existenz eines Bethauses belegt, dessen genaues Entstehungsjahr nicht bekannt ist. Da allerdings die Bethäuser in allen deutschen Dörfern auch als Schulhaus genutzt wurden, ist davon auszugehen, dass das Friedenberger Schul- und Bethaus in den ersten Jahren nach der Gründung der Siedlung gebaut wurde. Es handelte sich um einen Holzbau, der den Status einer Filialkirche hatte. Das Bethaus verfügte über einen geräumigen Saal, der sowohl für die Gottesdienste als auch als Unterrichtsraum genutzt wurde und eine kleine Bibliothek beherbergte, sowie ein Zimmer für den Küster und Schulmeister. Einmal pro Monat kam der Pastor ins Dorf, um im Bethaus den sonntäglichen Gottesdienst abzuhalten, die übrige Zeit vollzog der Küster und Schulmeister alle unaufschiebbaren kirchlichen Handlungen. Im Bethaus fanden nicht nur der Schulunterricht, Gottesdienste und andere religiöse Zusammenkünfte wie z.B. Betstunden oder Hochzeiten statt, sondern auch allgemeine Dorfversammlungen, auf denen wichtige Fragen entschieden wurden. Auf dem zentralen Dorfplatz neben dem Bethaus stand ein freistehender hölzerner Glockenstuhl.

Mit der Etablierung der Sowjetmacht wurden im Land zahlreiche Maßnahmen eingeleitet, die den Einfluss der Kirche auf Staat und Gesellschaft beseitigen und in letzter Konsequenz der Tätigkeit aller Konfessionen ein Ende setzen sollten. Die kirchenfeindliche Politik ging mit der Schließung von Gotteshäusern und gegen die Geistlichen gerichteten Repressionen einher. 1931 informierte die regionale Kommission für die Prüfung religiöser Angelegenheiten das Präsidium des Zentralexekutivkomitees der ASSR der Wolgadeutschen in einem geheimen Bericht, dass die Kirche noch nicht geschlossen sei und es in Friedenberg noch 1.403 Gläubige gebe, von denen zwölf den Status von „Lischenzy“ hätten, ihnen also das Wahlrecht und andere bürgerliche Rechte aberkannt waren. Im gleichen geheimen Bericht wurde Pastor Johann Schilling als Person beschrieben, die „gegen die Direktiven der Sowjetmacht und der Kolchosen eintritt“. Am 23. Februar 1935 wurde Pastor Schilling, der das Leningrader Predigerseminar absolviert hatte, wegen angeblicher konterrevolutionärer Propaganda verhaftet und zu zehn Jahren Arbeitslager verurteilt, die er nicht überlebte. Sein Sohn, der frühere Schulmeister E.I. Schilling, wurde 1937 als Sohn eines Geistlichen von seinem Posten als Buchhalter entlassen.

Nach der Verhaftung des Pastors ging die Zahl der Gläubigen praktisch mit jedem Tag unaufhaltsam zurück, die Aktivitäten der Gemeinde standen unter ständiger Kontrolle von Seiten der Organe der Staatsmacht. 1938 gab es im Wolgagebiet keine einzige lutherische Kirche mehr. An vielen Orten wurden die Kirchen zu Lagerhäusern oder Garagen umfunktioniert oder als nicht nicht den Ansprüchen des Sozialismus genügende Architektur zum Abriss freigegeben, was Mitte der 1930er Jahre auch im Fall des Friedenberger Bethauses geschah.

Liste der Pastoren. Pastoren der Pfarrgemeinde Morgentau, die in Friedenberg Gottesdienst hielten: Samuel Petrus Dittrich (1863–64), Ernst Theophil David (1865–67), Karl Theodor Blum (1868–71), Moses Asnoworjanz (1873–74). In den Jahren 1876–83 hatte die Gemeinde keinen Pastor. Pastoren der Pfarrgemeinde Gnadentau, die in Friedenberg Gottesdienst hielten: Gustav Adolf Thomson (1883–1888), Richard Keller (1888–90), Ernst Theophil David (1891–92), Johannes Kosz(c)iol (1892–1924). Johann Schilling (1931–34).

Entwicklung der Einwohnerzahlen. 1883 lebten im Dorf Friedenberg 1.077, im Jahr 1889 1.149 Personen. Nach den Daten der Volkszählung von 1897 hatte das Dorf 1.240 Einwohner, bei denen es sich ausnahmslos um Deutsche handelte. Im Jahr 1904 lebten im Dorf 1.802 Personen, 1908 – 2.035 und 1910 - 2.209 Personen. Nach den Daten der Allrussischen Volkszählung von 1920 hatte das Dorf 1.988 Einwohner, bei denen es sich ausnahmslos um Deutsche handelte. 1921 gab es im Dorf 82 Geburten und 322 Sterbefälle. Nach den Daten Gebietsamts für Statistik des Gebiets der Wolgadeutschen hatte Friedenberg nach Stand zum 1. Januar 1922 insgesamt 1.185 Einwohner. Nach den Daten der Volkszählung von 1926 gab es im Dorf 240 Haushalte (davon 236 deutsche) mit einer Gesamtbevölkerung von 1.351 Personen (637 Männer und 714 Frauen), unter denen 1.346 Deutsche waren (632 Männer und 714 Frauen). 1931 lebten im Dorf 1.657 Personen, von denen 1.635 Deutsche waren.

Das Dorf heute. Heute Dorf Mirnoje, Rayon Rownoje, Gebiet Saratow. Nach Fläche und Einwohnerzahl war die deutsche Kolonie Friedenberg deutlich größer als das heutige Dorf Mirnoje. Nahezu alle Spuren des früheren deutschen Lebens sind heute von der Zeit getilgt. Im heutigen Mirnoje fällt es nicht leicht, typische deutsche Bauten aus der Zeit des Bestehens der deutschen Kolonie ausfindig zu machen. An den früheren Standorten der deutschen Häuser sind heute meist Freiflächen und wilde Müllkippen. Im Dorf sind nur die Ruinen einiger Lehmziegelhäuser erhalten. Lehmziegel waren ein billiges und einfach zu produzierendes Baumaterial und wurden entsprechend häufig verwendet. Aus dem Ausgangsmaterial Ton, das im Wortsinne zu ihren Füßen lag, stachen die Kolonisten in Handarbeit mit einer Form spatförmige Standardblöcke, die in der Sonne getrocknet wurden. Die geringen Kosten beim Bau eines Lehmziegelhauses waren durch den Umstand bedingt, dass die Lehmziegel nicht gebrannt werden mussten, so dass bei ihrer Produktion keine Energiekosten anfielen, was sie deutlich billiger als Holz und Backsteine machte. Auch wenn solche Bauten nicht für die Ewigkeit gebaut waren, lassen sich in einigen Dörfern des Wolgagebiets auch heute noch Lehmziegelhäuser finden.

Archive

ГАСО. Ф. 180. Оп. 1. Д. 340. Л. 368; Ф. 637. Оп. 30. Д. 26; ГИАНП. Ф. 271. Оп. 1. Д. 1–3; Ф. 849. Оп. 1. Д. 834. Л. 81; Оп. 3. Д. 285. Л. 142; Ф. 1831. Оп. 1. Д. 289. Л. 38; Д. 299. Л. 57.

Literatur

Князева Е.Е., Соловьева Ф. Лютеранские церкви и приходы ХVIII – ХХ вв. Исторический справочник. – СПб., 2001. – Часть I; Лиценбергер О.А. Евангелическо-лютеранская церковь Святой Марии в Саратове. – Саратов, 1995; Немецкие населенные пункты в Российской Империи: География и население. Справочник / Сост.: В.Ф. Дизендорф. – М., 2002.

Autoren: Lizenberger O.A.

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