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SCHÄFER (Scheder, Schetzer, Lipowka), heute Dorf Lipowka, Rayon Marx, Gebiet Saratow; deutsche Kolonie im linksufrigen Wolgagebiet

Rubrik: Geschichte und Geographie der Ansiedlung der Deutschen im Russischen Reich, in der UdSSR und GUS
Evangelisch-lutherische Kirche im Dorf Schäfer. Anfang des 20. Jahrhunderts.
Lipowka. Frühere evangelisch-lutherische Kirche. Foto Je. Moschkow, 2010.
Lipowka. Früheres Kirchengebäude. Foto aus den 1960er Jahren.
Lipowka. Eines der Gebäude aus dem Kirchen- und Schulkomplex. Foto Je. Moschkow, 2009.
с. Липовка. Одно из зданий школьно-церковного комплекса. Фото Е. Мошкова. 2009 г.

SCHÄFER (Scheder, Schetzer, Lipowka), heute Dorf Lipowka, Rayon Marx, Gebiet Saratow; im linksufrigen Wolgagebiet am linken Ufer des Flusses Bolschoj Karaman, 342 Werst von Samara, 35 Werst von Saratow, zwölf Werst vom Zentrum des Amtsbezirks Mariental (Tonkoschurowka), linkseitig der Karamaner Straße gelegene deutsche Kolonie. Von 1871 bis Oktober 1918 gehörte das Dorf zum Amtsbezirk [Wolost] Karaman (Tonkoschurowka) (Bezirk [Ujesd] Nowousensk, Gouvernement Samara).

Nach der Gründung der Arbeitskommune der Wolgadeutschen war das Dorf Schäfer bis 1941 Verwaltungszentrum des gleichnamigen Dorfsowjets, zu dem 1926 das Dorf Schäfer und das Vorwerk Metschetka gehörten. In den Jahren 1922-27 gehörte Schäfer zum Kanton Krasny Jar (Republik der Wolgadeutschen). Im Zuge der Ende 1927 in der ASSR der Wolgadeutschen vollzogenen Gebiets- und Verwaltungsreform wurde der Kanton Krasny Jar durch die Beschlussfassung des Zentralexekutivkomitees der RSFSR „Über Änderungen der administrativen Aufteilung der ASSR der Wolgadeutschen und die Wiedereinführung der vor 1914 bestehenden Ortsnamen in den deutschen Siedlungen“ aufgelöst und das Dorf Schäfer an den Kanton Tonkoschurowka (Mariental) angeschlossen. 1935 wurde der Kanton Krasny Jar wiedererrichtet.

Die deutsche Kolonie Schäfer wurde am 1. August 1766 gegründet. Mit der Anwerbung der Kolonisten und Gründung dieser Werberkolonie waren die aus Genf bzw. Frankreich stammenden Privatunternehmer Pictet und le Roy befasst. Der deutsche Name der Kolonie geht auf den ersten Vorsteher Johannes Schäfer zurück, einen aus Hessen stammenden 36-jährigen Zunfthandwerker, der mit seiner 18-jährigen Frau Anna-Maria nach Russland gekommen war. Der zweite offizielle russische Name, den die Kolonie aufgrund des die Benennung der Kolonien regelnden Erlasses vom 26 Februar 1768 erhielt, war Lipowka.

Die Gründer der Kolonie waren 54 größtenteils aus Sachsen, Hessen und der Pfalz sowie aus Schlesien und Dänemark stammende Familien, bei denen es sich mehrheitlich um Lutheraner handelte. Zehn Kolonisten gehörten zum reformierten Zweig des Protestantismus (die Familien von Johannes Schäfer, Rudolf Lerch, Johannes Nikolaus und Philipp Kunzman). Die 25-jährige Witwe Maria Lutz war katholisch.

Unter den ersten 54 Familienoberhäuptern waren 26 Zunfthandwerker (unter dieser Bezeichnung wurden bei der Zusammenstellung der Listen der ersten Siedler die Angehörigen nicht landwirtschaftlicher Berufe aufgeführt), vier Soldaten und ein Kaufmann. 1769 lebten in der Kolonie 50 Familien. 34 Kolonisten waren Ackerbauern, 16 Handwerker. Im Dorf gab es 41 Wohnhäuser und jeweils neun Scheunen und Pferdeställe, 102 Pferde, 22 Arbeitsochsen, 93 Kühe und Kälber, 14 Schweine und fünf Schafe. In den ersten Jahren nach ihrer Ansiedlung hatten die Kolonisten mit erheblichen ökonomischen Schwierigkeiten zu kämpfen. So wandten sich die in Schäfer ansässigen Kolonisten im Januar 1769 zusammen mit den Bewohnern weiterer elf Kolonien des Anwerbers le Roy mit einer gegen die Direktion gerichteten Beschwerde an das Fürsorgekontor, die sie für ihre nach eigener Einschätzung „extreme Notlage“ verantwortlich machten. Durch Überfälle sowohl von Seiten der Kirgis-Kaisaken als auch der Truppen Pugatschows wurde die Lage der Kolonisten zusätzlich verschärft.

Im August 1774 wurde die florierende Kolonie erstmals von Kirgis-Kaisaken überfallen und schwer geplündert. Bei den Kirgis-Kaisaken handelte es sich um turksprachige Nomadenstämme, die ihre angestammte Ordnung bewahrt hatten und aus den Wolgasteppen heraus regelmäßig Überfalle auf die deutschen Kolonien des linksufrigen Wolgagebiet unternahmen. 1766 wurde die Kolonie erneut überfallen und geplündert. Die Überfälle hatten weitreichende Folge für die deutschen Kolonien: Die Kirgisen nahmen Kolonisten gefangen, brandschatzten und töteten alle, die sich ihnen in den Weg zu stellen wagten. Die Kolonisten stellten Selbstschutzeinheiten auf, wandten sich hilfesuchend an die Zarin Katharina II. und organisierten den Loskauf von Gefangenen, deren Zahl nach Berechnungen von J. Dietz bei etwa 2.500 Personen lag. Die russische Regierung, die sich der verheerenden Folgen der Überfälle bewusst war, zog im Jahr 1766 Gräben, Wälle und Befestigungsanlagen um die Kolonien und stellte reguläre Truppeneinheiten ab, um die Steppengrenzen zu sichern.

Nach den Daten der Revision von 1834 waren den Kolonisten Landstücke in der Größe von 15 Desjatinen pro Kopf zugeteilt. Nach den Daten der im Jahr 1857 durchgeführten 10. Revision besaßen die zu diesem Zeitpunkt in der Kolonie ansässigen insgesamt 620 männlichen Kolonisten Landstücke in der Größe von etwa 4,9 Desjatinen pro Kopf. Einige Jahrzehnte lang prüften das Saratower Vermessungskontor und das Saratower Schatzamt die Frage, der Kolonie Lipowka zusätzliches Land zuzuteilen. Der Landmangel zog häufige Rechtsstreitigkeiten mit den Bewohnern benachbarter Dörfer nach sich und führte zur Gründung von Tochterkolonien. 1849 gründete ein Teil der Bewohner von Schäfer im linksufrigen Wolgagebiet am linken Ufer des Flusses Bolschoj Karaman die Tochterkolonie Fresental (die von 1871 bis Oktober 1918 zum Amtsbezirks Nischni Karaman, Bezirk Nowousensk, Gouvernement Samara gehörte), deren andere Namen Neu-Schäfer (Nowyj Schefer) und Lipowka (Nowolipowka) auf den Namen der Mutterkolonie zurückgingen. 1780 zog ein Teil der in Schäfer ansässigen Kolonisten in den Kaukasus, um dort ebenfalls deutsche Tochterkolonien zu gründen. Allerdings ließ sich das Problem des Mangels an landwirtschaftlichen Nutzflächen auch durch die Gründung von Tochterkolonien nicht dauerhaft lösen. Der in der Umgebung von Lipowka gelegene Boden war größtenteils sandig. Im Jahr 1868 wurden im „Journal des Gelehrtenkomitees“ des Fürsorgekontors erfolgreiche „Mittel zur Bekämpfung der Versandung des Bodens der Kolonie Lipowka“ beschrieben, die anderen Kolonien als Vorbild dienen sollten.

Nach Angaben des Zentralen Statistik-Komitees gab es 1859 in der Kolonie 110 Höfe und regelmäßig stattfindende Märkte. Nach Angaben des Gouvernements-Statistik-Komitees Samara gab es in der Kolonie im Jahr 1910 220 Höfe und mehrere Windmühlen. Ein Teil der Kolonisten war handwerklich tätig und stellte vor allem Filzhüte her, die sowohl für den Eigenbedarf als auch für den Verkauf gefertigt wurden und sich mit der Zeit zu einem lukrativen Erwerbszweig entwickelten. Ende des 19. Jahrhunderts waren Dutzende Frauen in Heimarbeit mit der Herstellung von Hüten beschäftigt, die sich einer großen Nachfrage erfreuten und in großen Mengen von geschäftstüchtigen Zwischenhändlern aufgekauft und in den großen Städten verkauft wurden. Bei der Fertigung dieser Hüte fanden nur die besten Wollsorten Verwendung.

In den Jahren der Sowjetmacht gab es im Dorf eine mobile Bibliothek, einen Genossenschaftsladen, eine landwirtschaftliche Kreditgenossenschaft und eine Landmaschinengenossenschaft. Als sich im Frühjahr 1921 zahlreiche deutsche Dörfer gegen die Sowjetmacht erhoben, befanden sich Schulz, Schäfer Seelmann, Balzer, Mariental, Stariza und zahlreiche andere Ortschaften in den Händen der Aufständischen. Der „Stab der aufständischen hungernden Bauern“ (wie er sich selbst nannte) gab den Befehl aus, alle in den deutschen Siedlungen Ossipowka, Lipowka, Lipow Kut und Lugowaja Grjasnucha lebenden Männer zu mobilisieren und forderte diese unter Androhung von Erschießungen auf, sich im Dorf Swonarjow Kut einzufinden, um den bewaffneten Widerstand gegen die Truppen der Roten Armee zu organisieren. Am 1. April nahmen Einheiten des 229. Regiments Lipowka (Schäfer) ein, ohne auf Widerstand von Seiten der Dorfbewohner zu stoßen. Nach der Niederschlagung des Aufstands verurteilte das vor Ort tagende Revolutionstribunal 29 an der Erhebung beteiligte Dorfbewohner zum Tod durch Erschießen und ließ ihren Besitz konfiszieren. Zudem wurden gegen das Dorf Kollektivstrafen verhängt.

Im Jahr 1927 kam es im Dorf zu einer „von Kulaken verübten terroristischen Aktion“, in deren Verlauf den Quellen zufolge ein Mitglied der Wahlkommission erschlagen wurde, auf dessen Denunziation hin einige Kulaken das Wahlrecht aberkannt worden war. Die Aktionen des „aktiven antisowjetischen Elements“ wurden unterbunden und die Verantwortlichen zur strafrechtlichen Verantwortung gezogen. In den Jahren der Kollektivierung wurden im Dorf die Kolchosen „8. März“ und „Strahl des Sozialismus“ eingerichtet. Im September 1941 wurden die Deutschen aus dem Dorf deportiert, das seit 1942 den Namen Lipowka trägt.

Schule und Erziehungswesen

In der kirchlichen Gemeindeschule, die im Dorf praktisch seit Gründung der Kolonie selbst bestand, lernten Kinder im Alter von 7-15 Jahren. Wann genau in der Kolonie das erste Schulgebäude gebaut wurde, ist nicht bekannt. Bis zum Bau der ersten Kirche im Jahr 1817 fanden Gottesdienste und Schulunterricht im gleichen Gebäude des Schul- und Bethauses statt. In den Archiven sind Dokumente erhalten, die davon zeugen, dass das Fürsorgekontor der Gemeinschaft der Kolonie Lipowka im Februar 1924 die Genehmigung zum Bau eines neuen Schulhauses erteilte. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts (vor 1859) wurde die kirchliche Gemeindeschule dem Ministerium unterstellt. Nachdem die Kirche im Jahr 1859 bei einem Brand zerstört worden war, wurde das Schulgebäude erneut für Betversammlungen genutzt, auch wenn das Gebäude eigentlich zu klein war, um allen Gemeindemitgliedern Platz zu bieten. Deshalb wurde im Jahr 1869 ein neuer Holzbau für das Schul- und Bethaus errichtet, der bis zum Jahr 1905 (als eine neue Steinkirche und ein als Schulhaus genutztes Backsteingebäude errichtet wurden) auch für die Feier der Gottesdienste genutzt wurde. Anfang des 20. Jahrhunderts wurde in der Kolonie eine Semstwo-Schule gegründet, in der die Kinder auch Russisch lernten.

Nach den von Pastor J. Erbes, dem Probst des linksufrigen Wolgagebiets, zum Stand des deutschen Schulwesen zusammengetragenen Daten waren im Jahr 1906 589 der insgesamt 2.733 Einwohner Kinder im Alter von 7-15 Jahren, die zum Besuch einer Elementarschule verpflichtet waren. Allerdings besuchten nicht alle Kinder im schulpflichtigen Alter auch wirklich eine Schule. Nach den von Pastor Erbes zusammengetragenen Daten blieben 243 (!) Kinder dem Unterricht fern, weil ihre Eltern arm und auf ihre tägliche Mithilfe in Handwerk oder Gewerbe angewiesen waren. 1906 besuchten 63 Jungen und 110 Mädchen die Semstwo-Schule, wo sie von einem einzigen Lehrer unterrichtet wurden. In der Kirchenschule lernten 96 Jungen und 176 Mädchen bei zwei Lehrern. Beide Schulen wurden aus Mitteln der Kirchengemeinde unterhalten. In sowjetischer Zeit wurden beide Schulen geschlossen und durch eine Grundschule ersetzt, die bis 1941 erhalten blieb. Nach der Deportation der Deutschen standen beide Schulgebäude leer. Aber bereits wenige Monate später wurde sowohl in dem zweistöckigen Backsteingebäude der früheren deutschen Schule (in dem heute ein Geschäft untergebracht ist) als auch in dem alte Holzbau der früheren Kirchenschule der Schulbetrieb wiederaufgenommen, wo in den Jahren 1944/45 75 russische und ukrainische Kinder lernten. Im Dorf wurde ein Internat für Waisenkinder eingerichtet, die in den verwaisten deutschen Häusern ein neues Zuhause fanden. Seit 1968, als in Lipowka ein neues Schulgebäude mit 480 Plätzen gebaut wurde, ist das Internat in den Räumen der alten kirchlichen Gemeindeschule untergebracht.

Religionszugehörigkeit der Bevölkerung und Kirche. Die Kolonisten gehörten der evangelisch-lutherischen Konfession an. Bis 1820 gehörte die Kolonie Schäfer zum Pfarrsprengel Rosenheim (Podstepnoje), nach 1820 zum Pfarrsprengel Reingardt (Ossinowka), zu dem auch die Kirchengemeinden der deutschen Kolonien Reingardt (Ossinowka), Schulz (Grjasnucha), Urbach (Lipow Kut) und Reinwald (Stariza) gehörten.

In den ersten Jahren nach der Gründung der Siedlung fanden die Gottesdienste im Schul- und Bethaus statt, das auf Staatskosten errichtet worden war und nicht nur für religiöse Zwecke, sondern auch zur Abhaltung von Dorfversammlungen genutzt wurde.

Im Jahr 1817 wurde am zentralen Dorfplatz die erste Holzkirche der Kolonie errichtet, die den Status einer Filialkirche hatte und in den folgenden 50 Jahren von der Gemeinde genutzt wurde. Die Kirche wurde von örtlichen Handwerkern ohne offiziell eingereichten Bauplan und Kostenvoranschlag gebaut. Als das Gebäude den Ansprüchen der schnell wachsenden Kirchengemeinde nicht mehr genügte, fasste die Gemeinschaft der Kolonie Ende der 1860er Jahre den Beschluss, ein neues Schul- und Bethaus zu errichten, dessen Bau auch durch die Erlöse aus dem Verkauf des Baumaterials der alten Holzkirche finanziert werden sollte. Nachdem der Architekt und der Landvermesser des Fürsorgekontors die Genehmigung des evangelisch-lutherischen Generalkonsistoriums in St. Petersburg eingeholt hatten, begannen die Kolonisten im Jahr 1869 den Bau eines neuen Schul- und Bethauses, in dem über 30 Jahre lang Gottesdienste gefeiert werden sollten.

Um die Jahrhundertwende beschloss die Kirchengemeinde den Bau einer neuen Kirche. 1905 war der rote Backsteinbau fertiggestellt und wurde am 4. Juni 1905 feierlich geweiht. Bei der Auswahl der architektonischen Entwürfe entschieden sich die Bewohner von Schäfer gegen den in den deutschen Kolonien verbreiteten sogenannten „Kontorstil“ und gaben einem im Stil des Historizismus gehaltenen Projekt den Vorzug, das Elemente der Neogotik, der Neorenaissance, des Neobarock und des neobyzantinischen Stils in sich vereinte, wobei die Außengestaltung der neuen Kirche vor allem durch gotische Formen geprägt war. So zeichnete sich die in Schäfer errichtete Kirche durch ein absolut neues architektonisches Erscheinungsbild aus. Von anderen wolgadeutschen Kirchen unterschied sich der Bau durch seine lanzettförmigen, himmelwärts strebenden Türme und den Fassadenschmuck. Auch im Kircheninneren fanden spitzförmige Elemente bei der Gestaltung der Gewölbe, Säulenabschlüsse und Fenster Verwendung. Außergewöhnlich waren auch die vielen hohen Fenster. Die Kirche, die zu den größten des ganzen Wolgagebiets gehörte und 4.000 Gläubigen Platz bot (bei einer Gesamtbevölkerung von 2.662 Einwohnern im Jahr 1905), war der ganze Stolz der Bewohner von Schäfer. In unmittelbarer Nähe standen ein freistehender Glockenstuhl, das Schul- und Bethaus sowie das Küster- und Schulmeisterhaus, die mit dem Kirchenbau eine stilistische und funktionale Einheit bildeten und das Erscheinungsbild des Dorfkerns bis heute prägen.

Erster Pastor der für Schäfer zuständigen Pfarrgemeinde Rosenheim war der aus Mecklenburg stammende Ludwig Helm, der in Rostock Theologie studiert hatte und 1736 ordiniert worden war. Nachdem er sich 1766 in Lübeck den ersten Kolonisten angeschlossen hatte, diente er der Gemeinde von 1767–85. Gelegentlich kam es zu Konflikten zwischen Gemeindemitgliedern und Geistlichkeit. So wandte sich Pastor Helm z.B. im Jahr 1776 mit einer gegen die Dorfbewohner gerichteten Beschwerde an das Fürsorgekontor, die nach seinen Worten die „geistlichen Einrichtungen geringschätzten“, sich nicht um die Instandhaltung der Kirchenbauten kümmerten und keine Reparaturarbeiten vornahmen. Das Kontor ordnete an, die Kolonisten zum Besuch der Gottesdienste zu „zwingen“.

Angesichts ihres Einflusses nicht nur auf die geistliche Entwicklung, sondern auch auf die gesamte innere Organisation der Kolonie prägte die lutherische Kirche praktisch alle Lebensbereiche der Gemeinde. Gemäß der in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bestätigten „Instruktion der kolonistischen Geistlichkeit“, mit deren Inhalt sich alle Geistlichen bei Dienstantritt bekannt machen mussten, waren diese nicht nur dazu verpflichtet, z.B. die Kirchenbücher zu führen, sondern mussten auch in der Landwirtschaft tätig sein und Seidenraupenzucht betreiben.

In den Jahren 1826–30 (nach dem Tod von Pastor Hasthoffer) wurden die beiden 1820 gegründeten Pfarrgemeinden Reingardt und Näb (Rjasanowka) angesichts des in den deutschen Wolgakolonien herrschenden Mangels an Geistlichen unter der Leitung eines einzigen Pastors (David Flittner) zusammengelegt. Ungeachtet der von dem Superintendenten des Saratower Konsistoriums Ignatius Aurelius Fessler vollzogenen Beschränkung der Zahl der von den Pfarrgemeinden mitzubetreuenden Filialgemeinden blieb die Situation in den lutherischen Gemeinden auch weiterhin alles andere als ideal. Um in allen Gemeinden seines Pfarrsprengels zu predigen, war der Pastor gezwungen, etwa 6-7 Mal pro Jahr jeweils 225 Werst zurückzulegen.

Der Umstand, dass Schäfer die größte aller in den lutherischen Wolgakolonien errichteten Kirchen hatte, die mehr als doppelt so vielen Gläubigen Platz bot als das Dorf selbst Einwohner hatte, wird von vielen Forschern als historisches Paradox angesehen. Aber dieser scheinbare Widerspruch lässt sich leicht auflösen. So gab es im gesamten Pfarrsprengel Reingardt (Ossinowka), zu dem die Kolonie Schäfer seit 1820 gehörte, keine andere Steinkirche. Auch wenn das Dorf Reingardt, das im Jahr 1905 2.038 Einwohner hatte, Zentrum des Pfarrsprengels war, bot die dortige im Jahr 1865 nach Plänen des Architekten F.G. Lagus erbaute Kirche nur gerade einmal 800 Gläubigen Platz. Angesichts der geringen Mitgliederzahl und der relativ kleinen Holzkirche der zentralen Pfarrgemeinde in Reingardt bot sich der Gemeinde in Schäfer die Chance, selbst Zentrum des Pfarrsprengels und dauerhafter Wohnsitz des Pastors zu werden. Im Jahr 1913 erwuchs Schäfer und Reingardt zudem in Gestalt des 5.000 Einwohner zählenden Reinwald (Starizkoje) ein weiterer Konkurrent, als dort eine bis zum heutigen Tag erhaltene Backsteinkirche gebaut wurde. Doch sollte der Lauf der Geschichte des Luthertums im Wolgagebiet durch die revolutionären Ereignisse von 1917 jäh gestoppt werden.

Der letzte Pastor der Pfarrgemeinde Wilhelm Miller emigrierte 1921 aus Russland. Im Jahr 1925 geriet die verwaiste Gemeinde unter den Einfluss des Küsters Jakob Fritzler, der sich selbst zum Bischof erklärte und zum Gründer der sogenannten Freien Lutherischen Kirche im Wolgagebiet wurde. In der sowjetischen Geschichtsschreibung der 1920er Jahre wurde die in den deutschen Kolonien entstandene Lage folgendermaßen beschrieben: „Die offizielle Lutherische Kirche ist angesichts des Anwachsens dieser Bewegung höchst besorgt und unternimmt alles in ihrer Macht stehende, um diese zu lähmen. Was das Verhältnis der Sekten zur Sowjetmacht betrifft, hat die Lebendige Deutsche Kirche eine Erklärung veröffentlicht, der zufolge sie die Beschlüsse des XIII. Parteitags anerkennt, die Trennung von Kirche und Staat begrüßt, ihrer besonderen Befriedigung bezüglich der zur Bekämpfung des Analphabetentums ergriffenen Maßnahmen Ausdruck verleiht […] und ihre Bereitschaft erklärt, sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten an den kulturellen Initiativen der Sowjetmacht zu beteiligen.”

Die einfachen Gemeindemitglieder machten keinen großen Unterschied zwischen lebendiger und der offizieller Kirche, maßen dem innerkirchlichen Machtkampf keine große Bedeutung bei und interessierten sich lediglich für die Möglichkeit, den Gottesdienst besuchen zu können. 1931 informierte die regionale Kommission für die Prüfung religiöser Angelegenheiten das Präsidium des Zentralexekutivkomitees der ASSR der Wolgadeutschen in einem geheimen Bericht, dass es in Schäfer noch 1.005 Gläubige gebe, von denen 44 den Status von „Lischenzy“ hätten, ihnen also das Wahlrecht und andere bürgerliche Rechte aberkannt waren. Mitte der 1930er Jahre hatten alle lutherischen Gemeinden unabhängig von der Frage, ob sie der offiziellen oder der neuen Kirche angehörten, zu bestehen aufgehört. Zu dieser Zeit wurden in der Sowjetunion massenhaft Gotteshäuser aller Konfessionen und Religionsgemeinschaften geschlossen. Vor Ort waren die lokalen Stellen bestrebt, die Bethäuser so schnell wie möglich zu schließen, um sich nicht dem Verdacht auszusetzen, der Religion gegenüber zu loyal eingestellt zu sein. Am 4. April 1935 beschloss die Kommission für Kultfragen beim Zentralexekutivkomitee der ASSR der Wolgadeutschen, die Kirche in Schäfer mit der Begründung zu schließen, dass sich 402 der insgesamt 485 Gemeindemitglieder für eine Schließung der Kirche ausgesprochen hätten.

Liste der Pastoren

Pastoren der Pfarrgemeinde Rosenheim (Podstepnoje), die in Schäfer Gottesdienst hielten: Ludwig Helm (1767–85), Laurentius Ahlbaum (1786–88 ). Klaus Peter Lundberg (1788–1792), Christian Friedrich Jäger (1792–1815), Franz Hölz (1816–20). Pastoren der Pfarrgemeinde Reingardt, die in Schäfer Gottesdienst hielten: Johann Hasthoffer (1821–26). Pastoren der Pfarrgemeinde Näb, die in Schäfer Gottesdienst hielten: David Flit(t)ner (1826–30). Pastoren der Pfarrgemeinde Reingardt, die in Schäfer Gottesdienst hielten: Johann Christian Lindbla(d)tt (1830–41), Ferdinand Magnus Masing (1842–51), Johannes Huppenbauer (1853–80), Karl Theodor Hölz (1883–96), Johannes Salomo Kufeld (1897–1908). Wilhelm Miller (1912–21).

Entwicklung der Einwohnerzahlen

1767 lebten in Schäfer 184 ausländische Kolonisten, 1773 waren es 207, 1788 - 174, 1798 – 216,1816 - 343, 1834 – 651,1850 - 943, 1859 – 1.234, 1889 - 1.719 Personen. Nach den Daten der Volkszählung von 1897 hatte Schäfer 1.785 Einwohner, von denen 1.771 Deutsche waren. In den Jahren 1877/78 wanderten 50 Kolonisten nach Amerika aus. Fälle der Emigration nach Amerika gab es auch 1905. Im Jahr 1905 lebten im Dorf 2.662 und im Jahr 1910 2.993 Personen. Nach den Daten der Allrussischen Volkszählung von 1920 hatte Schäfer 2.320 Einwohner, die ausnahmslos alle Deutsche waren. 1921 gab es im Dorf 103 Geburten und 231 Sterbefälle. Nach den Daten des Gebietsamts für Statistik des Gebiets der Wolgadeutschen lebten in Schäfer nach Stand zum 1. Januar 1922 nur noch 1.787 Personen. 1923 lag die Gesamteinwohnerzahl bei 1.704 Personen. Nach den Daten der Allrussischen Volkszählung von 1926 hatte das Dorf 1.887 Einwohner (897 Männer und 990 Frauen), von denen 1.883 Deutsche waren (893 Männer und 990 Frauen). Es gab 332 Haushalte, davon 331 deutsche. 1931 hatte das Dorf 2.162 Einwohner, von denen ausnahmslos alle Deutsche waren.

Das Dorf heute. Heute Dorf Lipowka, Rayon Marx, Gebiet Saratow, Einige auch im heutigen Lipowka erhaltene Wohnviertel und Straßen vermitteln eine klares Bild der ursprünglichen Siedlungsstruktur. Im heutigen Dorf lässt sich bis heute gut die ursprüngliche Raumaufteilung der früheren deutschen Kolonie nachvollziehen, deren Zentrum der Marktplatz bildete, an dem Kirche, Schule und Pfarrhaus sowie die Wohnhäuser von Schulmeistern und Handwerkern lagen. Das Gebäude der früheren Kirche, das auch im heutigen Dorf noch seinen festen Platz hat, ziert noch immer den zentralen Dorfplatz. Dank ihres teilweise erhaltenen Glockenturms ist die Kirche noch immer ein markanter Punkt in der Landschaft, der schon weit aus der Steppe heraus zu sehen ist. Heute dient der Turm als Taubenschlag.

In dem gezackten Kirchturm ist wie durch ein Wunder bis heute eine kleine Glocke erhalten. Auch wenn diese schon längst keinen Klöppel mehr hat, erzählen sich die Leute im Dorf, dass ihr trauriger Schlag alljährlich im August ertönt, wenn sich die Tage der Deportation der Deutschen aus dem Wolgagebiet jähren. Die übrigen Glocken wurden in den 1930er Jahren abgenommen und für eine „Traktorenkolonne“ eingeschmolzen. Den Erzählungen der Dorfbewohner zufolge blieb die letzte Glocke aus Angst vor Gottes Strafe verschont, nachdem einer der Männer, die die Glocke entfernen sollten, vom Turm gestürzt war. Eine steinerne Wendeltreppe führt auf die untere Turmebene. Eine an diese anschließende Holztreppe ist nur zum Teil erhalten. Besonders reizvoll sind die auf allen vier Seiten des Turms befindlichen Turmuhren, deren römisches Zifferblatt heute allerdings nur auf der dem Haupteingang zugewandten Seite erhalten ist. Von berückender Schönheit sind auch die den Kirchenbau über dem Hauptportal, an der Fassade, am Glockenturm, auf den Seitenmauern und über der Apsis schmückenden gezackten Ornamente. Unter den Dorfbewohnern erfreut sich noch eine weitere mit der Kirche verbundene Legende großer Beliebtheit, die sie gern Fremden erzählen: Angeblich führt vom Pfarrhaus ein einige Hundert Meter langer unterirdischer Gang in die Kirche, durch den der Pastor in den Wintermonaten zum Gottesdienst ging. Die Kirche hat kein Dach und verfällt zusehends.

Neben der Kirche kann man noch den bis heute erhaltenen Holzbau der 1869 erbauten kirchlichen Gemeindeschule und das Holzhaus des Küsters und Schulmeisters sehen. An vielen Straßen lassen sich in Lipowka auch heute noch authentische deutsche Häuser finden. Unter den alten Backsteinbauten ist vor allem das zweistöckige frühere Schulgebäude zu nennen, in dem heute ein Geschäft untergebracht ist. An der Mittelschule des Dorfes Lipowka waren 2015 20 Lehrer beschäftigt, die in 12 Klassen über 150 aus Lipowka und den Nachbardörfern Ossinowka und Starizkoje kommende Schüler unterrichteten.

Literatur

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Archive

Archive: ГАСО. Ф. 180. Оп. 1. Д. 588, 10781; Оп. 3. Д. 98; Оп. 5. Д. 9; Ф. 637. Оп. 2. Д. 3039; ГИАНП. Ф. 212. Оп. 1. Д. 1; Ф. 849. Оп. 1. Д. 834. Л. 57–66; Д. 1138. Л. 138; Ф. 1831. Оп. 1. Д. 299. Л. 21; Оп. 2. Д. 4.

Autoren: Lizenberger O.A.

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